AW: Rollenspiel im Wandel der Zeiten
So befremdlich es inzwischen auf mich wirkt, so gerne erinnere ich mich noch heute an die Glückgefühle, die eben genau die oben beschriebene Art des "Rollenspiels" im zarten Alter zwischen 12-16 bei mir ausgelöst hat.
Was sollte es denn neben Monster töten (um EPs zu bekommen) und Schätze raffen (um eine Burg zu bauen) noch geben?!
Das habe ich so völlig anders erlebt.
Daran mag durchaus "schuld" sein, daß für mich die Begeisterung für das Rollenspiel mehr über die Sci-Fi-Seite, also über Traveller und Gamma World gekommen ist. Ich war schon davor ein Science-Fiction-Leser, der alles, was nur irgendwie nach Sci-Fi aussah, lesen mußte. Und mit Traveller, wo man ja ganze Welten selbst(!) erschaffen konnte (und auch mußte), war es tatsächlich möglich meine Mitspieler in die mysteriösen Gefilde fremder Welten aus Büchern, die mir besonders gut gefielen, zu schicken bzw. selbst ähnliche Charaktere wie die Protagonisten der Romane zu erschaffen und zu sehen, wie sie sich in den Welten meiner Spielleiterfreunde so machen würden.
Monster-Bashing - dafür hatten wir schon vorher jede Menge CoSims mit Fantasy-Themen, wie das gute alte DeathMaze.
Und das EXZELLENTE "War of the Rings" von SPI kann ich nicht genug loben! - man stelle sich vor: individuelle Einzelcharaktere für die Fellowship UND riesige Armeen auf einer Hexkarte enormen Ausmaßes.
Bei solchen CoSims konnte man halt (fast) nur kloppen (manche hatten auch noch Aufbauspielcharakter), so daß wir mit diesen schon lange gewohnt waren "Dampf abzulassen". - Rollenspiel war aber ANDERS.
Im Rollenspiel war ich nicht auf die Hexfelder des CoSims, nicht auf die Die-Cut-Counter mit den dort fest aufgedruckten Spielwerten beschränkt, sondern ich konnte buchstäblich ALLES SEIN und ALLES TUN (und der Spielleiter wird schon dafür sorgen, daß die Spielwelt darauf plausibel reagiert - was manchmal bedeutet, daß sie unsere idiotisch agierende Spielercharaktergruppe in den Knast steckt oder uns Killerroboter auf den Hals hetzt bis zum TPK, bei dem jeder Spieler mit einem Grinsen im Gesicht seinen Charakter hat verdampfen sehen).
Wo ich vorher über Hexkarten und Countern zur Spielvorbereitung über effiziente Taktiken gebrütet hatte, da war plötzlich interessant, was der Charakter so trug, wie er redete, wie die Welt jenseits der Spielwerte aussah. - Für mich war Rollenspiel nicht etwa "Kleingruppen-Skirmish-Tabletop", sondern die Möglichkeit die tollen Romane, Comics, Kinofilme usw. ZUM GREIFEN NAH ins Spiel zu bekommen.
Das hatte mir keine andere Spielform jemals geboten.
Und - JA, wir haben auch fleißig Dungeon-Crawls mit D&D gespielt, nicht nur Traveller, Star Frontiers, Gamma World, Universe (auch von SPI - eine Sci-Fi-Rollenspiel-Perle, die leider zu unrecht so wenig Beachtung fand), und natürlich Midgard. (Man sieht hier aber - so denke ich - deutlich den Sci-Fi-Schwerpunkt unserer damaligen Spielinteressen. Es gab ja auch so viel mehr Sci-Fi-Romane als Fantasy-Romane in den Taschenbuch-Reihen!)
Midgard, das war auch so eine Sache. - Wir WOLLTEN gerne MEHR über die Spielwelt erfahren, da sie ja als schon ewig bespielt präsentiert wurde (Midgard 1 hatte sich noch lange nicht von Magira verabschiedet und noch nicht Magira mit abgefeilten Seriennummern präsentiert wie Midgard 2.). Und wir wurden enttäuscht. - Rollenspielunterstützung zur Spielwelt zu den Kulturen(!), was wir wissen wollten, um unsere Charaktere möglichst plausibel in der Spielwelt zu verankern, das gab es nicht.
Wir mußten uns das selbst zusammensuchen anhand der Ewige Spiel Bände, die die Magira-Historie und die dortigen Kulturen ein wenig beleuchteten, aber vom Rollenspiel und dessen Anforderungen an spielfertige Aufbereitung solcher Inhalte meilenweit entfernt waren (das Ewige Spiel ist ja ein Tabletop auf Basis des Armageddon-Regelwerks gewesen, welches wie eine Art Riesen-Diplomacy jedes Jahr weitergespielt wurde).
Und auch bei D&D und bald darauf AD&D 1st Ed. gab es kaum Material - zum einen, weil wir als Schüler einfach nicht das Geld hatten uns alles zu kaufen, zum anderen, weil man in Deutschland Anfang der Achtziger das Zeug nur schwer bekommen konnte. - Was macht man da? - Das, was man von Traveller und Gamma World (knappes, aber wirklich auch für mich als Einsteiger den Start ebnendes Spielleiterkapitel) gewohnt war: Selbstmachen!
Jeder Spielleiter bei uns hatte MEHRERE Welten, die er selbst gebastelt hatte, parallel zum Bespielen in der Mache. Manche waren schon sehr ausgedehnt, sehr umfangreich. Andere kamen kaum über eine Region samt Kulturen und ein wenig erdkundlichen Informationen hinaus. Und oft wurden - wie ich schon erwähnte - Welten aus Büchern nicht etwa 1:1 abgekupfert, sondern das Wesentliche dieser Welten (und nicht nur einer, sondern manchmal auch Mischungen mehrerer) für die eigenen Spielwelten verwendet. Ich habe fast alles aus Stablefords Hooded-Swan- und Daedalus-Serien an dort präsentierten Welten "verwurstet" - mal in Sci-Fi-, mal in Fantasy-Welten.
Manche Autoren waren eben besonders ergiebige Inspirationsquellen, andere waren so abgedreht, daß man deren Romane zwar lesen, aber nichts davon für das Spiel verwenden konnte. - Das hat dann ein wenig eine Feedback-Schleife aufgebaut, die so aussah, daß man als Rollenspieler mehr Romane gesucht hat, die man im Spiel verwenden konnte. - Damit hat sich erst ein sinnvoller Markt für die heutzutage geradezu zur Landplage gewordenen "Romane zum Spiel" entwickelt.
Damals hatte ich zwar auch zu Midgard/Magira die Ewige-Spiel-Romane "Die Welt des Spielers" gelesen, doch konnten die mit "richtiger" Fantasy halt nicht mithalten (wie die meisten heutigen Rollenspiel-Kreuzvermarktungs-Romane ja auch nicht).
Das Besondere, was das Rollenspiel bot, war nicht das "Dampf ablassen" an "unschuldigen" Dungeon-Bewohnern, sondern viel eher die NEUGIER auf das, was hinter der nächsten Ecke, im nächsten Raum, hinter der nächsten Bergkette, in der nächsten Stadt sein mochte. - Und man war ja auch selbst Spielleiter und wußte, der nächste Raum, das Land hinter der nächsten Bergkette, die nächste Stadt mögen vielleicht gerade jetzt noch nicht einmal dem Spielleiter bekannt sein, weil er seine Dungeons, seine Ländereien, seine Zivilisationen, seine WELTEN mit dem Spiel hat wachsen lassen.
Mann, war das SPANNEND!
Diese Spannung habe ich allen Ernstes mittendrin mal überhaupt nicht mehr gespürt. Das war, als D&D 3.0 aufkam. Da war die Luft raus. Der Zauber verflogen. Alles gesagt. Alles KAUFBAR bis zum Umfallen. Keine Überraschungen mehr, sondern nur endlos viel überspezifiziertes Material, was man sich halt "anlesen" mußte. - Stagnation. Im Wortsinne. Ein stehendes Gewässer, kurz vor dem Umkippen, wo früher ein (mit-)reißender Wildbach der Begeisterung geströmt ist.
Bei uns hat das dazu geführt, daß die "Band" auseinander gegangen ist. - Nicht alle, nicht schnell - graduell, langsam.
D&D 3E war für mich die Zeit, wo die "Musik" gestorben ist.
Doch glücklicherweise nicht für lange. Und sie war ja auch nicht ganz tot - nur das Aushängeschild "Das Fantasy-Rollenspiel" an sich war ziemlich tot. - Midgard gab es immer noch. Und solche coolen Sachen wie Deadlands oder Paranoia.
Erst mit dem Aufkommen von Savage Worlds, dessen erbitterter Gegner ich aus meiner Deadlands-Blockhütte war, hat sich was geändert.
Die z.T. jämmerlich knapp dargebotenen Savage-Settings waren so - unvollständig. Da wollte man immer noch irgendwo was dranschrauben, da gab es immer irgendwo etwas zu Basteln.
Und eh man sich's versah, war man wieder dort, wo einem das Spiel ganz zu anfang schon so verdammt viel Spaß gemacht hat!
Absichtsvoll unterspezifizierte Settings mit nur dem Nötigsten zum Spielen, aber mit einem Regelwerk, das man nicht erst zur Hälfte umschreiben mußte, damit es funktionierte. Das brachte die Musik wieder zurück, weil es einfach ROCKTE.
Und es brachte die "Band" wieder zusammen. Spielrunde mit Durchschnittsalter 45, wo gespielt wird, wie damals im 1. Semester - mit allen blöden Bemerkungen, mit Bezug auf uralte Charaktere und Rollenspielrunden, deren Begebenheiten auch nach über 25 Jahren noch in der Erinnerung lebendig sind - weil man sie ERLEBT hat.
Und es gibt wieder NEUES zu entdecken. In neue, fremde Spielwelten vorzudringen, die man selbst noch nie gesehen hat (und die auch für den Spielleiter neu sind!).
Das ist nicht die Runde, die nur genau ein Rollenspiel spielt und nur genau eine Spielwelt bis zum letzten Tautropfen herunterspezifiziert auswendig kennt. - Diese Art des "konservativen" Spielens war erst nach meiner Zeit in meinem Spielerumkreis am Entstehen.
Unsere Art war die, zwischen Welten zu wechseln, Kampagnen auch über Jahre parallel zu spielen, aber immer nur solange, wie es noch etwas zu entdecken, zu bewegen gab. - Wurde der Kampagnen-Kaugummi schal, dann spuckte man ihn aus und nahm einen neuen. So haben wir immer wieder gewechselt und fanden das auch gut so.
Und das läuft aktuell auch gerade wieder.
Das ist NICHT der Effekt von Savage Worlds, sondern eher der Effekt der Rückbesinnung auf die Produktqualitäten der Anfangszeit des Rollenspiels. - Retrowelle hin oder her, und ob sie hierzulande so am Schwappen ist wie in Amiland, ist auch Wurst.
Es sind die PRODUKTE, die als besondere Qualität eben die LÜCKEN, die UNFERTIGKEIT, die Möglichkeit für GEWOLLTES Do-It-Yourself anbieten, die es jetzt endlich wieder gibt, nachdem man lange Zeit erschlagen wurde von geradezu einem Enzyklopädie-Wahnwitz, der Rollenspielprodukte immer aufgeblähter und immer schwerer verdaulich hat werden lassen.
Eine 4E, die in derselben Form wie jetzt, eventuell früher gekommen wäre, hätte diese Wiederbelebung meiner Begeisterung nicht bewirken können. Das liegt daran, daß 4E umgesetzter Egalitarismus im Rollenspiel ist - etwas, was so meilenweit weg von dem ist, was ICH am Rollenspiel wirklich LIEBEN gelernt habe, daß mich die 4E genauso kalt läßt wie schon die 3E vorher (obschon sie mit ein paar Übeln der 3E aufgeräumt hat - too little, too late).
Was den Charme des Unfertigen, die Ausstrahlung von Potential in einem Rollenspielprodukt anbetrifft, so haben gerade deutsche Autoren leider zumeist die frühe Zeit, die MICH geprägt hat, nicht miterleben können, und sind in einer Zeit der Überkomplettheit und des Style-over-Substance im Rollenspielhobby aufgewachsen. - Das merkt man den meisten deutschen Neuerscheinungen auch an.
Daß man auch hierzulande knapp, knackig und knallig Rollenspiele schreiben kann, davon hat mich erst Funky Colts überzeugt. - Nur müßte es so langsam mal mehr und - noch wichtiger - aus anderer Autoren Feder in dieser flotten Art geben. Doch kommen stattdessen weiterhin die barocken Bilderbücher heraus, deren Spielwert, deren WERT zum Spielen, so mager ist, daß es eigentlich sogar Mogelpackungen sind.
Was ich über Rollenspiel im Wandel der Zeiten an Zwischenbilanz ziehen möchte ist, daß mir heute umso klarer gegenüber früher ist, wie wichtig die Beherrschung des Lückenlassens für Rollenspielautoren ist. - Nicht Lücken, die echte Fehler (also wo etwas FEHLT) darstellen, sondern Lücken, die zum Wachsen und Gedeihen eigener Pflanzen dienen können.
Wer als Autor dieses Lückenlassen beherrscht, der ist - auch über den Zeitenwandel hinaus - ein Autor, der unvergeßliche Produkte und - noch viel wichtiger - unvergeßliche SPIELSTUNDEN ermöglicht.