AW: Warum ich mit RAW und Abenteuerspiel im RPG nichts anfangen kann
Es hindert einen ja nichts daran, eine Taktik auszuarbeiten und auszuprobieren, selbst wenn sie nicht durchgewürfelt wird.
Es geht mir nicht einmal um das Würfeln, sondern darum, daß ein Spieler eines Charakters, der HOHE taktische Kompetenz haben sollte, in einem Regelsystem, welches keine Spielwerte dafür vorsieht und somit auch keinen aus dem System heraus resultierenden Effekt im Spiel liefern kann, nur auf seine, also des Spielers, taktische Erfahrung angewiesen ist.
Ist der Spieler KEIN Taktiker, sein Charakter aber sehr wohl, dann läßt ihn das Regelsystem, welches keine Taktikunterstützung eingebaut hat, im Regen stehen.
In einem System MIT Taktikunterstützung hat der Charakter dann eben besser Werte in Kampftaktik, Knowledge(Battle), Combat Tactics, oder wie das auch immer genannt wird, und verschafft sich (und seinen Mitspieler-Charakteren) durch diese besseren Werte entsprechende Vorteile in Kampfsituationen. Das sind dann wirklich GREIFBARE Vorteile (z.B. haben alle höhere Initiative aufgrund besserer Taktik).
Unterstützt das Regelwerk solche Charaktereigenschaften nicht auch mit Spielwerten und Spieleffekten, so hat selbst ein noch so taktisch "vorgebildeter" SPIELER aber bei einem Spielleiter, der eine taktische Nulpe ist, schlechte Karten, weil die taktischen Vorteile durch die "Regellücke" sich nicht auswirken können und der Spielleiter einfach über die Taktik des Spieler hinwegentscheiden kann. Es ist ja (dies vorausgesetzt) nicht geregelt, was da zu passieren hat, welche Effekte im Spiel zu erwarten sind. - Ein klassischer Fall für eine Improvisationsnotwendigkeit seitens des Spielleiters.
Fehlt es also einem stimmungsorientierten Regelsystem an Taktik-Unterstützung, so bleibt die Darstellung eines taktisch fitten Charakters von der Gutwilligkeit des Spielleiters abhängig. Es gibt also keine verläßliche Basis für den Spieler, auf der er seinen Charakter als Taktiker erschaffen und ausspielen kann. Und es ist nicht klar, welche Effekte eine gute Taktik auch für den Rest der Gruppe eintreten könnten.
Ich finde, daß solch ein "Mangel" an konkreten Regelungen die Spielmöglichkeiten einschränkt.
Ich kann bei Engel einen desillusionierten, drogenabhängigen "Ostfront-Gabrieliten" spielen (stimmungsorientiertes Charakterausspielen). Das kann ich auch bei Weird Wars Necropolis in Form eines desillusionierten, drogenabhängigen "Ostfront-Lazariten" (AUCH stimmungsorientiertes Charakterausspielen).
Ich kann bei Weird Wars Necropolis einen überlegenen Taktiker zahlreicher Feldzüge spielen (auch Charakterausspielen, aber eben auch stark das taktische Element bei Kriegsmissionen im Fokus). Bei Engel hingegen einen überlegenen Taktiker zahlreicher Feldzüge zu spielen (auch mit Charakterausspielen, aber leider ohne jegliche Unterstützung für das taktische Element bei Kriegsmissionen der Himmlischen Heerscharen) will NUR mit dem "RICHTIGEN" Spielleiter gelingen, der in der Lage ist, den Spieler das eventuell darstellen zu lassen, was dieser will. - Nur kann sich der Spieler NIE sicher sein, daß sein Charakter morgen noch genauso kompetent ist, wie heute (wenn halt der Spielleiter morgen vielleicht mal einen nicht so freigiebigen Tag hat z.B.).
Ohne eine solide Unterstützung für taktisches Spiel (die muß ja noch nicht einmal ausufernd sein, sondern kann völlig minimalistisch sein, aber sie muß eben VORHANDEN sein), kann man sehr viele Charaktere nicht spielen, oder nur "von Spielleiters Gnaden" spielen.
Ich finde, das müßte nicht sein.
Als starker Anhänger des Engel-Rollenspiels bin ich von dem "Nicht-Regelwerk" ständig irritiert. Es ist ja schön in einer vollkommen harmonischen Spielrunde miteinander beim Tee etwas zu erzählen. Und das macht auch Spaß! - Nur kann ich da öfter, als mir lieb ist, KEINEN echten Unterschied mit meinem Charakter machen. Ob der Charakter nun ein genialer Taktiker ist (was in der Vorgeschichte steht), oder ob der ein reiner Betonkopf-Gabrielit ist: ich kann IMMER die Story so erzählen, daß seine Taktik optimal ist. Somit erzähle ich meinem Charakter Kompetenzen an, die eigentlich ein anderer in der Schar laut KARMA (Everway, also seiner gesamten Vorgeschichte, seiner Ausbildung, seiner Erfahrung) BESSER als mein Charakter drauf haben wird.
Wie gesagt: Bei Engel macht es KEINEN Unterschied, was auf dem Charakterbogen steht, was in den Ordensbüchern steht, alles ist egal, da jeder ungehindert frei jegliches Kompetenzniveau in jeglicher Fertigkeit sich "andichten" kann.
Mich hat das in mehr Runden unzufrieden als zufrieden zurückgelassen. Das liegt daran, daß ich unter sehr unterschiedlichen Spielleitern in unterschiedlichen Gruppen gespielt habe. Und manchmal harmonieren die SPIELER miteinander, und manchmal nicht. Und wo sie nicht harmonieren, da kann man sich von seinem Charakter gleich verabschieden.
Necropolis basiert auf einem relativ "knusprig-dünnen" Regelsystemboden. Hier hat man ein solides taktisches System UND die unterschiedlichen Charakterrollenmöglichkeiten für die Streiter der Kirche. - Für mich ist Necropolis alles, was ich bei Engel vermißt habe. Nur die Engel fehlen dort leider.
In beiden Rollenspielen sind Stimmung, Charakterisierung der Spielercharaktere, Herausforderungsüberwindung, und viele weitere übliche Aspekte des Rollenspiels vertreten. Doch hinterläßt Engel das Gefühl einer "Regellücke mit Rollenspiel drumrum" - und zwar einer Grand Canyon großen Lücke.
Mein Eindruck ist der, daß Rollenspiele ohne eingebettete Unterstützung für ALLE gängigen Spielinteressen (Taktik, Charakterdarstellung, sich Kloppen, Neues Entdecken, etwas Ausprobieren, sich Verkleiden, ... ) immer eine mehr oder minder große Gruppe an Spielern draußen lassen.
Und wenn man sich mal Nischenrollenspiele wie z.B. Engel im Vergleich zu D&D, DSA, Shadowrun anschaut, dann müssen - meine ich - die gängigeren Rollenspiele etwas haben, was die Nischenprodukte nicht haben. Oder umgekehrt: wenn nicht eine Fülle an Spielinteressen abgedeckt werden, dann wird es nie ein verbreitetes Rollenspiel werden.