AW: Warum ich mit RAW und Abenteuerspiel im RPG nichts anfangen kann
Ist es noch Betrug, wenn man sich vorher darauf einigt, dass der SL das darf?
Ja. - Das "Dürfen" heißt nur, daß es nicht geahndet wird, wenn es jemandem auffällt (d.h., wenn der Betrug nicht geschickt genug erfolgte). Die Handlung des Spielleiters ist immer noch eine betrügerische.
Das ist wie mit dem Judo-Training: man begibt seine körperliche Unversehrtheit als Übungspartner in die Hände des Partners. Der Partner DARF Gewalt anwenden - in kontrolliertem Rahmen (hoffentlich), aber immer GEWALT. - Wenn derjenige nun seinen Partner sanft wirft, dann gibt es kein Problem mit dieser Gewaltanwendung. Wenn er aber einen enorm harten Wurf durchführt, nach welchem der Übungspartner verletzt am Boden liegt, dann hat er genau das gemacht, wozu er die Erlaubnis erhalten hatte. Er hat sie nur graduell etwas anders ausgenutzt, als es seinem Partner bekommen ist.
Und da der Geworfene vor dem Wurf KEINEN EINFLUSS auf die Auslegung der zulässigen Härte, auf den durchgeführten Wurf, etc. mehr ausüben konnte, muß er damit leben, was ihm angetan wurde.
So auch im Rollenspiel.
Wer seinem Spielleiter das Betrügen erlaubt, der kann nur HOFFEN UND BETEN, daß der Spielleiter dies nicht anders auslegt und anders ausnutzt, als es der jeweilige Spieler gerne gehabt hätte.
Und genau bei der Ausnutzungsspanne eines solchen "Freibriefs zum Betrügen" gibt es ja bei der Goldenen Regel die meisten Probleme.
Der Spieler hat KEINEN Einfluß auf das, was der Spielleiter mit seiner unumschränkten Regelmanipulationserlaubnis anstellen mag. Und doch unterliegt er den FOLGEN dieser Manipulation. Und er kann sogar noch nicht einmal erkennen, DASS er bzw. sein Charakter manipulierten Regeln unterworfen sind.
Das Problem verschärft sich dadurch, daß die Spielregeln tatsächlich der gemeinsame Grund und Boden des Spiels sind. Bei den Spielregeln gilt eine grundsätzliche GÜLTIGKEITSANNAHME aller Spielenden. Und diese Gültigkeitsannahme wird im Spiel zu einer GültigkeitsERWARTUNG. - Genau diese Erwartung, daß die Regeln grundsätzlich immer und für jeden SC und NSC gleichermaßen gelten, bestimmt das Handeln bzw. Handelnlassen der SCs durch die Spieler.
Wenn in einem Regelwerk von vorneherein klar ist, daß mit KEINER VERLÄSSLICHEN Regelbasis zu rechnen ist (z.B. Engel-Arkana, wo ja KEIN Regelsystem mitgeliefert wird), da gibt es NUR das Hoffen, das Vertrauen, den Glauben an einen fairen Umgang des Spielleiters und der anderen Spieler mit der nirgendwo eingeschränkten Macht dem eigenen und auch dem Charakter anderer Mitspieler spontan und nach Lust und Laune Sachen anzutun, die diese eventuell nicht mögen ("Weil es besser für die Story ist.").
Rollenspiele kommen meist MIT Regelwerk. Engel-Arkana ist da eine echte Ausnahme. - Ist ein Regelwerk vorhanden, besteht eben die Erwartung an die Anwendung. Und die Erwartung an den Spielleiter fair und ohne Bevorzugung/Benachteiligung einzelner Spieler zu handeln.
Selbst wenn in dem Regelwerk die Goldene Regel formuliert ist, so wird deren grundsätzliches Außerkraftsetzen ALLER ANDEREN Regeln nicht so leicht bewußt, da es ja nicht die Aufgabe der Regeln ist (und sein kann) das gemeinsame Spiel zu DESTABILISIEREN. - Aber genau das macht die Goldene Regel.
Und selbst wenn ein Gruppenkonsens herrscht, daß der Spielleiter halt die Regeln brechen darf, wenn es ihm in den Sinn kommt, so spielen die Spieler ja eben doch NICHT STÄNDIG IN DER ERWARTUNG DES REGELBRUCHS. Ganz im Gegenteil: SIE, die Spieler, MÜSSEN ja den Regeln gehorchen. Somit ist es in ihrem Erleben des Spiels, daß die Regeln IMMER gelten, weil sie FÜR SIE immer gelten.
Nutzt nun ein Spielleiter - aus welchem Grund auch immer - die "Erlaubnis zum Bescheißen" aus, so entsteht ein Regelbruch. Die Folgen sind anfangs nicht leicht merkbar. Es kommt vielleicht manch einem Spieler aus seiner Sicht des Spiels das komisch vor, daß der Oberböse, nachdem er nur noch 2 Hitpoints hatte, dann DOCH noch entwischen konnte und alle teueren Magie-Artefakte dabei gleich mitgenommen hat. - Was nur passiert ist ein Haarriß in der gemeinsamen Spielbasis. Die Regel bricht. Nicht schnell, sondern langsam und schleichend. Wie Krebs. - Hier eine Änderung, da eine, dort eine. - Irgendwann ist die Manipulation mal nicht so geschickt und ein Spieler stutzt über der plumpen Maßnahme, kann aber nichts machen, weil ja der Spielleiter das "darf".
Und das ist der Punkt, an dem das Vertrauen wegbricht. Auch nicht schnell, sondern langsam, wie ein Deich der durchweicht und unterspült wird, verfällt das Vertrauen in eine GEMEINSAME in eine SOLIDE Spielbasis. Und man registriert, wie sehr man in einer rein persönlichen Sympathie/Antipathie-Abhängigkeit von genau EINEM Menschen am Tisch geraten ist. Dieser entscheidet über Wohl und Wehe des Alter Egos des Spielers. Über Charaktere, die z.T. schon lange gespielt werden. Man fühlt sich wie das Over the Edge Titelbild: Jeder hat die Schlinge um den Hals. Jeder ist eine Marionette, bei der der Spielleiter - sobald er Lust hat (und er die "Lust" irgendwie vor sich selbst rechtfertigt ("Weil es für die Story besser ist") - die Fäden ziehen kann UND WIRD.
Und damit ist das gleichartige Vertrauen auf eine abstrakte, unpersönliche Basis des gemeinsamen Spielens: die Regeln, gewandelt zu einem klar hierarchischen Machtgefälle, bei der letztendlich ALLE GEWALT VOM SPIELLEITER AUSGEHT, und bei dem die Spieler nur passiv hinnehmen können.
Das ist eine krasse Wandlung des Spielumfeldes, in welchem gespielt wird. Man erhält eine "Rechtsunsicherheit", die durch die persönliche Beziehungsart zum Spielleiter ersetzt wird.
Wie gesagt, das ist KEIN schneller und KEIN offensichtlicher (wenn der Spielleiter heimlich genug ist) Prozess. Und doch ist der Effekt immer derselbe: Zerrüttung, Unsicherheit, Abhängigkeit.
Klar könnte man sagen "Ihr wolltet es ja so." - Wollten DAS die Spieler WIRKLICH?
Ich glaube nicht.