AW: Sind Rollenspiele eine Modeerscheinung der 80er?
Saint_of_Killers schrieb:
Siedlerspieler erzählen einem ja auch nicht zwanghaft über die tollen Metropolen die man jetzt neulich gebaut hat. Darüber einfach mal nachdenken und Sacken lassen.
Das ein Brettspielspieler im Allgemeinen nicht den Drang verspürt zu erzählen, was sich in seinen letzten Spielrunden (oder denen von vor 25 Jahren) zugetragen hat, liegt ja wohl darin begründet, daß Brettspiele den Spieler von dem Spiel trennen.
Brettspiele lassen einen kalt.
In Brettspielen passiert nichts, das einen bleibenden Eindruck bei einem Spieler hinterlassen kann.
In Rollenspielen ist IMMER der Spieler SELBST eng mit den Geschehnissen um seinen Charakter verknüpft. Dadurch hat man eine ganz andere Art an Bindung, als es bei Brettspielen, Tabletops, Computerspielen der Fall ist.
Und manchmal, ja manchmal erzählen auch Brettspieler, wie ihre letzte Eiserne Thron Runde abgegangen ist, oder Tabletop-Spieler, wie ihr letzter Showdown bei Legends of the Old West verlaufen ist, oder ...
Das Mitteilungsbedürfnis ist doch zum einen ein Charakteristikum der jeweiligen Spielerpersönlichkeit, und zum anderen - wie oben ja schon erwähnt - abhängig von der emotionalen Bindung zu den Spielereignissen. - Und bei der emotionalen Bindung haben die Rollenspiele grundsätzlich einfach durch das individuelle Charakterkonzept die Nase vorn. Aber auch beim kommunikativen Teil des Mitteilungsbedürfnisses neigen Rollenspieler als Spieler von Spielen, die grundsätzlich mehr Kommunikation, mehr sprachliche Interaktion erfordern als Brettspiele oder gar Computerspiele, einfach eher dazu sich anderen mitzuteilen, auf andere - auch Fremde - offen zuzugehen und - mit gefühltem Stolz - von den Ereignissen ihrer Charaktere, die ja auch Ereignisse sind, die ihnen selbst in gewisser Art und Weise widerfahren sind, zu berichten.
Selbst bei einem (garnicht so klassischen, wie durch die zeitliche Verzerrung nur als die damals "übliche" Spielweise entstellten) Dungeon Crawl erlebt man eine Geschichte. Und Geschichten sind - unabhängig davon, auf welche Art sie entstanden sind, ob ausgedacht, oder erspielt - etwas, das zum (Nach-)Erzählen bestens geeignet ist. Geschichten SOLLEN erzählt werden.
Saint_of_Killers schrieb:
[Man erzählt sich nur gegenseitig im Spiel, wie toll man ist.]
[Es gibt keine Gewinner im Rollenspiel.]
Das ist in unzulässiger Weise verallgemeinernd, da es nur für bestimmte Rollenspielarten und auch da nur zum Teil zutrifft. - Ich spiele mit Engel ein Rollenspiel, welches nach Arkana-"System" eigentlich mehr ein Sich-gegenseitig-etwas-erzählen"-Spiel ist (im Unterschied zu Erzählspielen, bei denen ein "Erzähler" den Spielern etwas erzählt - bei solchen warte ich lieber auf die Kinofassung, wenn ich als Spieler eh nichts beeinflussen kann). Alle anderen Rollenspiele, die ich spiele, sind mit taktischen Elementen, mit z.T. erheblichem Zufallsfaktor, mit mehr oder weniger Crunch ausgestattet, so daß ich dieses "sich gegenseitig erzählen, wie toll man ist" überhaupt nicht nachvollziehen kann.
Und Gewinner gibt es im Rollenspiel ständig. Und nicht nur auf der reinen Materialismus-Ebene der Schatztabelle, sondern Gewinner, die das Problem lösen, Gewinner, die SIEGEN, Gewinner, die wüste Gefahren überleben, Gewinner, die das Unbekannte ergründen, Gewinner, ... , Gewinner, ... , Gewinner, ...
Das ist es ja, was die meisten Brettspiele so arm macht: es gibt meist nur einen Gewinner, der sein Erfolgserlebnis aus den N-1 Mißerfolgen seiner Mitspieler zieht. - Einfach jämmerlich.
Brettspiele sind genau das, was das Leistungsstreben unserer Zeit auf die materielle Ebene herabzieht, das Sich-gegen-alle-anderen-Durchsetzen in den Köpfen der Menschen selbst im Spiel zementiert und einem Spieler durch die reine Leistungsfokussierung der Regelwerke keinerlei Freiräume läßt andere, eigene Wertvorstellungen in das Spiel einzubringen. - Rollenspiele sind da ganz anders (wie ich erst vorgestern bei Unknown Armies wieder erleben durfte).
Saint_of_Killers schrieb:
Bleibt ein letzter Punkt: Rollenspiele brauchen Zeit. Vom Konzept her kann man selten das verdammte Spiel an einem Abend durchkloppen und dann vergessen.
Ja. Das ist so. - Und das ist in der heutigen zeitlosen, zeitverknappten Zeit ein Problem. - Weil niemand sich mehr Zeit NEHMEN will (und manche es auch wirklich nicht mehr können).
Ich beobachte das bei meinem Uni-Training seit über 20 Jahren: die aktuellen Studenten-Jahrgänge werden zugepflastert mit Studiumsaktivitäten, die zusätzlich zu dem normalen Auslebenwollen der Jugend und zu - gegenüber dem Rollenspiel (oder bei mir: gegenüber dem Kampfkunsttraining) - anderen, auch attraktiven Freizeitangeboten die immer noch gleichgebliebene Zeit eines Tages anders nutzen lassen. - Da bleibt für manche zeitintensiven Tätigkeiten wenig Raum, wenn man ihn sich nicht bewußt schaffen will. Und zu letzterem tendieren eben nur die Enthusiasten, die auch in gedrängten Zeiten noch für die Dinge, die sie lieben, sich die Zeit nehmen.
Saint_of_Killers schrieb:
90% der Leute die ich kenne haben aber keine Lust so einer Art "Verein aus 6 Leuten" beizutreten wo man sich einen Abend in der Woche fest trifft und auch nicht einfach mal wegbleiben kann weil man keine Lust hat.
Ja. Das kommt zusätzlich zu dem Problem der verfügbaren freien Zeit hinzu. Die Menschen werden in unserer heutigen Gesellschaft immer mehr zur Entsolidarisierung, zum Verlassen von Gemeinschaften, zum Jeder-kämpft/spielt-für-sich-selbst, zum "Non-Commitment" getrieben.
Das ist grauenhaft. Grauenhaft und zerstörerisch.
Wenn ich etwas WILL, wenn ich etwas will, daß ich nicht alleine haben kann, sondern nur mit Freunden, mit anderen Menschen, die mir etwas bedeuten und denen ich (hoffentlich) etwas bedeute, dann DENKE ich garnicht so wie Du das mit dem "Verein aus 6 Leuten" implizierst. - Also ich MAG meine Mitspieler, mit denen ich auch mehr und anderes unternehme als ausschließlich Rollenspiele zu spielen. Ich fühle mich nicht im geringsten, wie von Dir mit Deiner Formulierung ja impliziert, genötigt(!) in einem "Verein" mit lauter Leuten, die ich garnicht mag, die mich ekeln, die mich in meiner freien Selbstbestimmung meines Freizeitverhaltens einzuschränken versuchen, zusammenzuspielen. - Ganz im Gegenteil.
Wir haben mit dem Spiel etwas Gemeinsames.
Etwas, das uns trotz unterschiedlicher Altersgruppen, unterschiedlicher Bildungsstände, unterschiedlicher Berufe verbindet.
Wir sind wir. Wir spielen zusammen.
Wenn Du das nie erlebt hast, dann fehlt Dir tatsächlich eine wichtige menschliche Erfahrung.
Rollenspiele kann man nicht überall spielen. Computerrollenspiele tun auch nur so, als ginge das. Aber sie stellen nur ein hohles Gestell, eine rein seelenlose technische Plattform für etwas zur Verfügung, was mit Rollenspiel soviel zu tun hat, wie ein Instant-Nudel-Gericht mit selbstgemachten Kässpätzle. - Man kann es ständig bekommen, es hat ständig die gleiche Qualität, und man ist nicht eingeschränkt durch Rücksichtnahme auf andere Menschen.
Man ist allein.
Und das ist der Preis für das "Non-Commitment". - Das ist der Preis für das Nachvornestellen des Eigenen, des Egos gegenüber den Dingen, die ein Miteinander, ein Wir, eine Rücksichtnahme, eine Absprache, ein Aufeinandereinlassen erfordern.
In meinen Runden sind Mitspielerfreunde mit unterschiedlichen räumlichen und (berufs-)zeitlichen Verfügbarkeiten vorhanden. Wir stimmen uns ab, weil wir miteinander gemeinsam spielen wollen. - Nicht weil wir müssen. - Wenn ein Spieler nicht zu einem Termin kann, dann wird der Termin eben verschoben. Dazu haben wir ja parallel laufenden Kampagnen in unterschiedlicher Besetzung und in unterschiedlichen Rollenspielen, daß man nie zu lange ohne eine Spielmöglichkeit sein muß. Aber wir WOLLEN ja eben auch gerade mit dem einen oder der anderen, die gerade verhindert sein mögen, zusammen spielen, weil wir sie als Mensch, als Freund, als Mitspieler schätzen.
Wenn man natürlich mit einem ANSPRUCH auf Unterhaltung durch seine Mitspieler ankommt und dann aufgrund der Breite seines Egos nur die Befriedigung seiner eigenen Rollenspielwünsche, hier, jetzt, sofort, als die einzige Art Rollenspiele zu spielen ansieht, dann wird man sich natürlich von den lästigen, kleinen Problemchen der anderen Zu-meiner-Unterhaltung-mit-dabei-Spieler eingeengt fühlen.
Das Problem Rollenspielnachwuchs zu finden liegt - neben der offensichtlichen demographischen Grundproblematik - auch darin begründet, daß unsere Gesellschaft diese materialistischen Sofort-Befriedigungs-Egozentriker als die erstrebenswerten Rollenmodelle unseres gesellschaftlichen Lebens zelebriert. Zero-Latency-Business! Das sagt schon alles über die Richtung aus, die unkritisch von den meisten auch für ihr Privatleben übernommen wird.
Ich finde das deprimierend.
Nehmt Euch Zeit. Findet Freunde. Spielt. - Und stehlt jedem Leistungsmenschen die Karriere-Erarbeitungszeit, indem ihr so breit und ausführlich wie möglich von Euren Abenteuern berichtet. Ihr rockt nämlich!