AW: Warum DSA nicht Aventurien abbildet
Hier stellt sich wieder einmal die Frage, nach der AUFGABE der Regeln (Crunch) in einem Rollenspiel.
Meine Sicht darauf habe ich ja schon in einem anderen Beitrag dargelegt. Hier daher nur die Schrumpfkopffassung: Crunch/Regeln sorgen dafür, daß bestimmte Elemente aus dem Fluff/Setting in den FOKUS gerückt werden.
Eine Regel für - wie hier aktuell diskutiert - Liturgien mit konkreten und VERLÄSSLICHEN Effekten sorgt dafür, daß im Setting vorhandene "Anlagen" für Liturgien (die in früheren Regelversionen nicht so stark herausgearbeitet wurden - Keine Regel, Kein Fokus, Keine Wahrnehmung des Settingelements im Spiel!) nun mehr im "Rampenlicht" stehen.
So wie ich die Fluff-Erläuterungen für die Rolle der Geweihten in Aventurien hier verstanden habe, gibt es jedenfalls nichts, was im Fluff komplett GEGEN die Existenz von Liturgien - und eben auch "Großen Wundern (tm)" - spräche.
Wenn also in einer neuen Regelfassung dieses Settingelement nun mehr Aufmerksamkeit bekommen soll, dann ist eine regeltechnische Heraushebung (eigene Regeln für Liturgien) ein gutes Mittel.
Nur scheint die UMSETZUNG dieser regeltechnischen Heraushebung nicht allen zu gefallen, bzw. nicht dem Eindruck der Bedeutung und der Randbedingungen, die für Liturgien nach Stand der Fluff-Informationen gelten sollten, zu entsprechen.
Man hat also Regeln, die ein Setting-Element herausstreichen, dieses aber nicht so erscheinen lassen, wie es im Setting-Fluff eigentlich geschildert ist (wenn ich das Problem mit den Liturgie-Regeln richtig verstanden habe).
Damit ist also die Umsetzung am Fluff etwas vorbei gegangen. - Eine schlechte, eine unzureichende, eine fehlerhafte Umsetzung also.
Was ich hier in der Diskussion noch verstanden habe, ist der umgekehrte Effekt von Crunch auf den Fluff: WEGEN einer nicht dem ursprünglichen Fluff entsprechenden Regel für Liturgien spielen diese Liturgien nun in der aktuellen Rollenspielfassung (Rollenspiel = Fluff UND Crunch) eine andere (größere, verläßlichere, mächtigere) Rolle als früher. Dadurch ÄNDERT SICH DER FLUFF! - Die Existenz solcher Liturgien, wie sie durch die Regeln dargestellt werden, hat aus Plausibilitätsgründen EFFEKTE auf die innere Logik des Settings Aventurien. Eine eingeführte Regel, die ein Fluff-Element "überbetont", bewirkt, daß der Fluff sich in einen neuen Gleichgewichtszustand zu relaxieren bestrebt ist. - Das ginge aber nur, wenn bei Beibehaltung der neuen Regeln ALLE die Fluff-Kapitel, die von dieser Regel betroffen sind, umgeschrieben würden!
Und das stellt natürlich schon ein Problem dar, wenn es sich um ein von seinen Auswirkungen sehr breit gestreut wirkendes Setting-Element (wie wohl die Liturgien) handelt.
Demnach hat es weder Fluff- noch Crunch-mäßig Sinn Karmalzauber einzuführen...
Wenn es etwas im Fluff NICHT GIBT, dann braucht es eh KEINE REGELN (keinen Crunch) es abzubilden.
Etwas, das es im Fluff nicht gibt, erst durch neue Regeln über den Crunch einzuführen und dann den Fluff umzuschreiben hört sich nach einer seltsamen Vorgehensweise an (kommt aber immer wieder mal bei Rollenspielen vor!).
Eigentlich müßten bei solchen GRUNDLEGENDEN Setting-Elementen wie der Rolle und den Fähigkeiten der Geweihten bereits im Fluff KLARE Schilderungen dessen vorhanden sein, wozu sie imstande sein sollten. - Gibt es also Liturgie-Fluff, dann ist es kein "Einführen" von Liturgien, sondern nur das Setzen eines Fokus auf das Fluff-Element Liturgie.
Was war denn bei DSA/Aventurien zuerst da: die Liturgien der Geweihten, oder die Regeln zu diesen Liturgie-"Zaubern"?
so viel crunch wie nötig, um so viel fluff wie möglich umzusetzen.
Braucht man denn ÜBERHAUPT Crunch, um irgendetwas an Fluff "umzusetzen"?
Es ist sogar NIE eine gute Idee "soviel Fluff wie möglich umzusetzen"! - Das bedeutet, daß man für den Großteil der Beschreibungen auch HAUFENWEISE REGELN braucht und ALLES plötzlich im Fokus (durch die Regeln!) stehen soll. - Da aber NIE ALLES ständig im "Rampenlicht" stehen kann und auch nie soll, ist eine Aussage "Soviel Crunch wie nötig, um so viel Fluff wie möglich umzusetzen." leider unsinnig.
Wer als Rollenspielautor ALLES an Settinginformation herausstreichen will, der endet damit, daß NICHTS wirklich herausragen kann.
Es kann bei einer Regelumsetzung für ein Setting immer nur darum gehen, die - aus Sicht des Autoren/Spielers/Lesers/Käufers/... - WICHTIGEN Setting-Elemente mit Regeln zu versehen.
Es ist NIE ALLES GLEICHWICHTIG!
Sogar die generischen Rollenspielsysteme tragen dem Rechnung: GURPS streicht andere Dinge auf andere Art heraus, als es Savage Worlds oder Risus täte. Ein Aventurien D20 sähe anders aus, einfach nur weil das Regelsystem ausgelegt ist, ganz BESTIMMTE Arten von Setting-Elementen in den Fokus zu rücken.
Ein generisches RollenspielREGELsystem stellt einfach eine ziemlich genreunabhängige, aber dennoch mit eigenem Charakter ausgestattete "Brille" dar, mit der der Fluff gelesen wird. - Was bei IDENTISCHEM Fluff-Material an unterschiedlicher Umsetzung und damit an unterschiedlicher Fokus-Setzung herauskommen kann, das sieht man sehr gut am Beispiel Deadlands: es gibt Deadlands nach seinem eigenen (Classic) Regelwerk, dann nach D20, nach GURPS und nach Savage Worlds (als Deadlands:Reloaded). ALLE SIND ANDERS! - Aber alle spielen im IDENTISCHEN Setting-Fluff! (Manche Settingbände sind sogar mit Spielwerten für mehr als ein Regelsystem ausgestattet.)
Nimmt man DSA in seinen unterschiedlichen Versionen, so ist von DSA 1 bis DSA 4 eine deutliche Veränderung der SICHTWEISE auf Aventurien feststellbar. - Andere Sichtweise bedeutet, daß andere Elemente des Settings in den Vordergrund gehoben werden. - Und das gefällt unterschiedlichen Rollenspielern eben unterschiedlich gut.
Ich habe selbst den Wechsel von RuneQuest 2 von Chaosium auf RuneQuest 3 von Avalon Hill mitgemacht. Mit beiden spielt man auf derselben Spielwelt "Glorantha", aber RQ3 ist ANDERS und fühlt sich nicht so an, wie die ALTEN Geschichten über und auf Glorantha. So schwören auch heute noch manche Fans auf RQ2 und wollen von neueren Regelwerken nichts wissen.
Da ein Regelwerk eine "Brille", ein "Filter" für das Setting ist, ist zu ERWARTEN, daß es bei DSA 4 Leute geben wird, die sagen, daß dieses oder jenes Setting-Element bei DSA 3 noch anders und BESSER war. - Das ist normal: nicht jede Brille paßt jedem.
Hat man ein flexibel anpaßbares Regelwerk, so kann man damit diese "Brille" nach persönlichem Geschmack zurechtbiegen. - Das ist es, was - wie ich es hier herausgelesen habe - so manche mit DSA 4 machen. Da wird weggelassen oder geändert, was einem nicht gefällt. - Das ist auch völlig normal.
Ich habe in SW nicht alle Regeländerungen der revised edition für meine seit ein paar Jahren laufende Fantasy-Kampagne übernommen, sondern spiele diese mit einem Mix aus zum größten Teil revised edition Regeln nebst ein paar BEWUSST beibehaltenen alten Regeln der 1st edition. - Necropolis und Necessary Evil spiele ich hingegen voll nach revised edition. - Deadlands Classic spiele ich in meinen Runden als eine Mischung aus zum größten Teil 2nd Ed. Regeln mit ein paar übernommenen Regeln aus der 1st Ed.
Eventuell könnte ja - wie hier auch schon vorgeschlagen - das Beibehalten von DSA 3 Regelungen im DSA 4 Umfeld eine gruppenspezifische Lösung der gefühlten Unstimmigkeit der kritisierten Regeln in DSA 4 sein. - Das ist Hausregel-Gebiet.
Zum Thread-Thema "Warum DSA nicht Aventurien abbildet" erschließt sich mir aktuell folgende Erkenntnis: DSA bildet SEHR WOHL Aventurien ab. Und zwar stellt DSA 4 eine ganz bestimmte Art der Abbildung, der Heraushebung von Setting-Elementen des Aventurien-Fluffs dar, die eben NUR BESTIMMTE ELEMENTE hervorheben (und dies auf bestimmte Art und Weise).
Daß solch eine Abbildung nach genau EINER Abbildungsvorschrift nicht JEDEN Geschmack, nicht JEDE individuelle Vorliebe, nicht JEDES Setting-Element von Aventurien gleichermaßen intensiv, gleichermaßen erfolgreich herausheben kann, liegt in der Natur der Sache.
Was man somit eher feststellen kann, ist ein NICHTGEFALLEN der ART der Herausstellung von bestimmten Fluff-Elementen in Aventurien (z.B. Liturgien) bzw. ein NICHTGEFALLEN der Herausstellung AN SICH (Einbeeren-Beispiel).
Jeder, der Aventurien-Fluff-Texte liest, entwickelt dadurch (und das ist ja die ABSICHT eines Fluff-Textes) eine VORSTELLUNG von Aventurien. Und zwar seine EIGENE Vorstellung von Aventurien.
Auch ein Regel-Autor wird eine EIGENE Vorstellung von Aventurien haben.
Solange sich die Vorstellungen des Autoren und der Kunden nicht zu sehr unterscheiden, solange WIRKT das Produkt (Regeln UND Fluff) STIMMIG (plausibel).
Ich habe nun den Eindruck, daß die Vorstellungen EINIGER Aventurien-Fans von Aventurien sich nicht sehr mit den Vorstellungen von DSA-Autoren von Aventurien decken. Und das führt dann zu Akzeptanzproblemen für die (durch die NEUE "Brille" der Autoren gefilterten) neuen Regeln und ihres Rückeinflusses auf das Setting.
Man müßte also weit weniger absolut als im Thread-Titel formulieren:
"Warum DSA nicht MEINE Vorstellung von Aventurien abbildet".
Aus dieser Sicht kann ich es mir erklären, warum manche Aventurien-Fans mit Aventurien-D20, Savage Aventurien, GURPS Aventurien GLÜCKLICHER sind, als sie es mit dem offiziellen "Haussystem" wären. - Genauso erklärt sich aber auch, daß es Aventurien-Fans gibt, die mit DSA 4 klar kommen und finden, daß DSA 4 SEHR WOHL Aventurien abbildet.
Aus der Sicht auf Regeln als Mittel um einen Fokus auf Setting-Fluff zu setzen, stellt sich mir aktuell kein so rechtes Problem mit DSA als EINEM von VIELEN MÖGLICHEN Regelsystemen ("Brillen") für einen rollenspielerischen Zugang zu Aventurien dar. - Jeder kann DSA 4 ÄNDERN, sich eine Mischung bis zurück zu DSA 1 für Aventurien basteln, oder ein ganz anderes Regelsystem verwenden (Risus, Savage Worlds, D20, ...). Solange das, was an Regelsystem UND Setting-Fluff herauskommt, noch stimmig ist, solange wird man den Eindruck haben in Aventurien zu spielen (und z.B. nicht in den Forgotten Realms auch wenn man D20 verwendet).
Was bleibt damit für diesen Thread noch?
Eine reine "Meckerecke" über die "gefühlte Abweichung" von Crunch und Fluff bei DSA4-Regelsystem gegenüber dem Aventurien-Setting?
Oder kommt noch etwas Konstruktives, was ich momentan nur noch nicht bemerkt haben mag?