Ich sehe keine Geschädigten. Die Bücher gibt es seit Jahrzehnten, ohne dass sich jemand darüber aufgeregt hat. Warum sollte es da einen Geschädigten geben? Das sehe ich in unserer Gesellschaft auch als Problem: Es muss immer einen Schuldigen und einen Geschädigten geben - egal ob das sinnvoll ist oder nicht.
Hm..„Geschädigte“ gefällt mir als Begriff irgendwie auch nicht (mehr), da hast du Recht.
Es soll nicht an einem Begriff scheitern. Genauso gut hätte ich dich fragen können, welche Menschengruppe davon
profitiert, wenn ein Klassiker wie „Der Herr der Ringe“
komplett in eine, sagen wir mal einfach „zeitgemäßere“ Sprache umgedichtet wird. Und welche Menschengruppe davon profitiert, wenn ein einzelnes, unzeitgemäßes Wort in einem Klassiker wie „Pippi Langstrumpf“ weggelassen würde.
Es gab laut Wikipedia im Jahr 2009 etwa 300.000 bis 800.000 Schwarze in Deutschland, 500.000 davon anscheinend mit deutscher Staatsbürgerschaft, 70.000 davon hier bei mir in Berlin, was zum damaligen Zeitpunkt bei 3,5 Millionen Menschen 2 % der gesamten Bevölkerungsdichte ausmacht. Zwei Prozent, also nicht besonders viele. Die fallen dramatisch auf.
In Deutschland schwarz zu sein bedeutet, schon auf einen halben Kilometer Entfernung als Mitglied dieser Menschengruppe erkannt zu werden. (Im Gegensatz zu den Homosexuellen, die zwar ebenfalls nicht unbedingt zahlenmäßig sind, aber zumindest den einen Vorteil haben, dass man ihnen nicht ansieht, dass sie homosexuell sind.) Es bedeutet, im Freundeskreis selbst einen ganzen Haufen Nichtschwarzer zu haben, wenn man sich nicht verstecken will. (Türken, Russen, Polen und selbstverständlich Deutsche können sich dahingehend den Luxus erlauben, zu klüngeln. Und sie haben eine größere Auswahl an potentiellen Freundschaften aus der gleichen Menschengruppe. Was mache ich denn als Schwarzer, wenn die drei anderen Schwarzen, die ich hier kenne, Idioten sind?) Es bedeutet auch, dass viele Menschen in Deutschland gar keinen persönlichen Kontakt zu dieser Menschengruppe haben, weil das statistisch gar nicht möglich ist. (Im Gegensatz zu den Frauen, die immerhin knapp 50 % der Bevölkerung ausmachen, und die zumindest einen ganzen Batzen Gleichgesinnter parat haben, bei denen sie sich auskotzen können. Und natürlich im Gegensatz zu uns Deutschen, die in Deutschland wohl kaum Probleme haben werden, Ohren zu finden, um sich über rassistischen Nazi-Bemerkungen aufzuregen, die ein derartig seltenes Event sind, dass wir nie müde werden, uns darüber lang und breit zu beschweren.)
In Deutschland schwarz zu sein bedeutet, ständig mit der eigenen Hautfarbe konfrontiert zu werden, ohne die geringste Möglichkeit, mal unterzutauchen. Man wird ständig von anderen Menschen angestarrt und „anders“ behandelt. Auch von russischen Frauen und homosexuellen Juden. Garantiert nicht von jedem, aber bei 98 % Nichtschwarzen recht vermutlich
andauernd. Kinder reagieren aufgrund der Hautfarbe auf einen, wo sie von Frauen und Türken in Deutschland aufgrund der zahlenmäßigen Häufigkeit gar keine Notiz nehmen. Und man kennt zudem viel weniger Freunde im Bekanntenkreis, bei denen man sich mal schnell über diese Dinge austauschen kann, um sich Luft zu machen, die tatsächlich nachvollziehen können, was man überhaupt erlebt. Auch Frauen in Deutschland fragen sich, ob sie nun eine Absage für einen Job erhalten haben, weil sie nicht qualifiziert waren, oder weil sie diskriminiert wurden. Auch von den Arabern in Deutschland werden immer wieder mal routinemäßig die Taschen durchsucht. Aber sie haben Rückzugsmöglichkeiten, die einem Schwarzen in ganz vielen Fällen einfach verwehrt bleiben. (Und wie oben schon erwähnt, bedeutet „einen anderen Schwarzen kennenzulernen“ ja noch
lange nicht, dass man mit dem persönlich überhaupt klar kommt.) Inder sind nicht besonders zahlenmäßig, und auch ziemlich dunkelhäutig, aber wer zur Hölle kennt denn eine abwertende Bezeichnung für einen Inder? Und wer zur Hölle druckst denn rum wie ein ritalierter Affe, wenn man in Deutschland mal das Wort „Inder“ aussprechen muss, wie es bei ganz vielen Deutschen der Fall ist, wenn man sie „Schwarzer“ sagen wollen, während einer im Raum ist? (Die Juden in Deutschland kennen das bestimmt auch ziemlich gut, das Phänomen...aber die sind in den meisten Fällen wenigstens weiß und erfahren vielleicht nicht so häufig das Gefühl, was verpasst zu haben, wenn sie in einen Raum kommen und plötzlich irgend jemand verstummt. Dafür hören sie sicherlich mehr Judenwitze, als ihnen lieb ist.) Und „die Asiaten“ sehen für uns Weiße in Deutschland wenigstens alle schon mal so gleich aus, dass die Häufigkeit ziemlich in die Höhe schießt, einen zu sehen. Da werden dann Thailänder, Chinesen, Japaner und Koreaner alle in einen Topf geworfen, was ein vollkommen anderes Fass aufreisst, aber zumindest starren deswegen vermutlich weniger Menschen in Deutschland Mandelaugen an, als sie es bei schwarzer Haut tun.*
Für die Schwarzen in Deutschland ist Diskriminierung, ob nun absichtlich oder unabsichtlich, also beileibe keine Angelegenheit, mit der sie keinen potentiellen täglichen Kontakt hätten und mit der sie in ganz vielen Fällen lernen mussten, alleine fertig zu werden. Wenn in einem schwedischen Kinderbuch in der deutschen Übersetzung von einem „Negerkönig“ die Rede ist, dann werden die sich wohl in vielen Fällen gar nicht so sehr nach außen hin darüber aufregen, wie die politisch korrekten und unglaublich weißen Vollidioten und Möchtegernhelden da draußen es tun.
Wenn aber selbst ein sympathischer deutscher Weißer wie du (oder ich, völlig Latte) schreibt, es gäbe bei dem Wort „Neger“ in „Pippi Langstrumpf“ gar keine Geschädigten und es müsse auch nicht immer einen Geschädigten geben und das wäre auch nicht immer sinnvoll, nach einem zu suchen und darüber zu sprechen, obwohl dieser deutsche Weiße in Deutschland nicht die geringste Vorstellung davon hat und auch gar nicht haben
kann, was es bedeutet, ein Schwarzer in Deutschland zu sein, weil er so unglaublich weit weit weit weg von dieser Erfahrung ist, dass er, obgleich er beileibe kein Rassist ist und vielleicht selbst sogar schwarze Freunde hat, gedankenlos einen solchen Faux Pas rauszuballern in der Lage ist....dann sind wir an dem Punkt, an dem man sich als Schwarzer in Deutschland
wirklich verloren vorkommt.
Das Wort "Neger" ist ein Auslöser, bei dem die weiße, nicht-rassistische Bevölkerung normalerweise laut aufschreien würde, aber in diesem Fall zu großen Teilen tatsächlich kein Problem darin sehen kann, dieses diskriminierende Wort im Buch stehen zu lassen, weil's "ein Klassiker ist", weil's "ja nichts an der Diskriminierung ändert, wenn es rausgenommen wird", weil's "ihnen auch nicht geschadet hat" und der größte Gag "WEIL MAN SICH DAMIT RUHIG AUSEINANDER SETZEN SOLL". Aha. Immerhin hat's uns soweit geschadet, dass wir - mich zu Beginn der Diskussion eingeschlossen -, in dieser speziellen Situation das Wort plötzlich nicht mehr als wirkliches Problem erkennen können. Und es hat scheinbar auch nicht dazu beigetragen, dass wir uns damit soweit auseinander setzen können, dass wir die Situation der Schwarzen lange genug wahrnehmen, um sie nicht mit einem ganzen Haufen anderer unabsichtlich der faschistisch-motivierten Buchverbrennung zu bezichtigen. Plötzlich scheint es so, als gäbe es diese alltägliche Diskriminierung nicht mehr. Für uns Weiße. Und dass wir das Feingefuehl fuer die Diskriminierung von Schwarzen an und abschalten können, weil wir selbst nicht betroffen sind, schmieren wir den Schwarzen damit nicht nur unbeabsichtigt daumendick aufs Brot, wir erwarten auch noch von ihnen, das auch zu können.
*Ein (weißer) Freund von mir erzählte mir unlängst eine Geschichte, bei der ein schwarzer Freund von ihm ständig von einem koreanischen Freund am krausen Haar betatscht wurde, weil er das, so wörtlich, "total cool" fand. Daraufhin machte ihn mein Freund darauf aufmerksam, dass der schwarze Freund ihm ja seinerseits auch nicht ständig an den Augen rumfingert und er sich gerade wie ein Trottel aufführt. Wieviele von uns wollten schon mal krauses, schwarzes Haar anfassen oder haben es getan und fanden es cool? Ich zum Beispiel. Auf die Idee, an Mandelaugen rumzuspielen, bin ich eigentlich noch nie gekommen. Eine drollige Geschichte.