AW: 3.5.08 Ankunft am Bahnhof 2.07 Uhr
Anna war das Regenwasser sehr wichtig, ja. Deshalb drehte sie auch die Beantwortung seiner Fragen einfach um, damit sie später wieder darauf zu sprechen kommen konnte.
Anna nickte leicht. "Ja, der Finstertaler Bahnhof ist sehr schön. Ich habe ihn heute bei meiner Ankunft gesehen. Er ist ein Beispiel moderner Architektur. Die Gestaltung nimmt seine Funktion als Kreuzbahnhof auf, wenn ich mich nicht sehr täuschen sollte. Trotz seiner Größe wirken die Bauelemente fast filigran. Vermutlich hat man tagsüber fast überall Tageslicht, was den Menschen den Aufenthalt angenehmer macht. Auch in der Nacht hat er natürlich seinen eigenen Reiz. Wenn sie es wünschen, begleite ich sie gern." Wenn jemand sie bei ihrer ankunft beobachtet hätte und jetzt ihre Worte hörte, wäre er wohl verwundert. Als sie auf dem Bahnhof war, schien sie nicht zu den Menschen zu gehören, die inne hielten und das Bauwerk an sich betrachteten.
Jetzt holte sie eine der schönen Erinnerungen für Mertin hervor, eine der Erinnerungen aus ihrer Zeit als Mensch. Weiterhin war weder an ihrer Miene noch an ihrem Tonfall eine Emotion zu erkennen. Aber auch, wenn jeder Ton von Begeisterung oder Zauber fehlte, vermochten die ruhigen Worte selbst vielleicht die Bilder zu malen. Sie selbst verstand nicht wirklich, warum Mertin sie diese Dinge fragte. Es ähnelte sehr den Gesprächen, die sie höchsten noch auf der Jagd zu führen pflegte, aber mit einem Kainiten hatte sie bisher noch nie über so etwas... banales gesprochen.
"Der Winter kann eine ganz eigene Stimmung über eine Stadt legen. In Hamburg ist es nicht jedes Jahr wirklich kalt. Oft sind die Winter einfach nur schmuddelig und grau. Aber in manchen Wintern, wenn die Kälte richtig klirrt, dann bekommt sie einen ganz eigenen Flair. Wenn die Alster so zugefroren ist, dass sie das Gewicht der menschen trägt, gibt es mitten in der Innenstadt eine große Fläche, die zum neuen Mittelpunkt Hamburgs wird. Das war auch schon früher so, bevor das Alstervergnügen als Marketingstrategie entdeckt wurde.
Ich erinnere mich an einen Samstag Morgen. Die Alster war noch nicht lange begehbar. Viele Familien sind früh aufgestanden. Sie gingen mit ihren Schlitten auf das Eis, damit sie sich auch mal hin setzen konnten und picknicken, wenn ihre Kinde mit geröteten Wangen von ihren Bahnen und Pirouetten wieder kamen. Hunde schlitterten fröhlich bellend über das Eis und versuchten ihre Familien zu haschen. Auch ich war an diesem Tag dort und genoß die klare Kälte. Die Bäume am Ufer waren mit Rauhreif überzogen. In der Ferne waren die bekannten Kirchtürme Hamburgs zu sehen und etwas näher die edlen, hübschen Villen an der Aussenalster. Durch die Lombardsbrücke mit ihren alten Kandilabern konnte ich auf die Binnenalster sehen mit den bekannten Häusern am Jungfernstieg. Mitten in dem bunt- lebendigen Treiben auf dem Eis war es fast so, als wäre man Teil eines Gemäldes.
Und ja, mein Leben nach der Aufnahme in unsere Familie hatte kaum noch etwas mit meinem alten Leben gemein. Meine Berufsausbildung als Archäologin steht in den Diensten unseres Hauses. Vorwiegend beschäftigte ich mit historischen Dokumenten und fertigte Übersetzungen und Abschriften für das Haus an.
Und um ihre erste Frage zu beantworten: Ja, es muss Regenwasser sein. Anderes Wasser ist für das Ritual nicht dienlich. Darf ich ihren Worten entnehmen, dass sie den Ritus der Vorstellung bisher nicht durch geführt haben?"
Ruhig und gleichmütig wie die gesamte Zeit suchte ihr Blick den seinen.