AW: Maskerade vs. Requiem
Wir haben es so gehalten, dass jeder erstmal mit Humanity anfängt und wenn es später dann sich so ergibt, dass der Char merkt, dass seine alten Moralvorstellungen nicht mehr greifen, dass er die Möglichkeit hatte, sich neue Orientierung zu suchen
Richtig. Und bei Requiem passiert exakt das Gleiche. Das Sanktum etwa ist ja nichts anderes als exakt der Versuch, der geänderten Existenz eine neue Dimension und Orientierung zu geben.
Der Vorteil: Statt mehr oder weniger "platt" als "1 von X Pfaden, such Dir einen aus" eine eher knappe Beschreibung hinzurotzen (beim Sabbathandbuch war es schon SEHR knapp, DA marginal besser) kaufe ich der Präsentation des Materials bei Requiem eher den Gedanken ab, dass es um eine differenzierte Sicht und ein echtes Ringen um Anschauungen geht.
Das negiert nicht, dass ein Anne-Rice-Jammerlappen ins Sanktum geht, weil er die Vorstellung tröstend findet er könne sich ja als "Zorn Gottes auf Erden" an Zuhälter und Kinderschänder als Opfer halten – spätestens aber wenn dieser Louis dann auf seinen Bischof tritt, welcher der Kopf eines Kinderhändlerrings ist, weil er glaubt seine Aufgabe sei es ein dunkles Beispiel zu setzen, und wenn Menschen ihn halt nicht jagen und killen dann ist es ihre Schuld, nicht seine – DANN wird die Situation allemal interessanter als zwei Sabbatgangrel die sich nebeneinanderhocken und das lustige "Pfad der Harmonie Spiel" spielen um rauszufinden, ob sie heute mehr so Mensch oder mehr so Monster sind.
Hier gilt ein weiteres Requiem-Phänomen, nämlich die Herangehensweise: Der Sabbat etwa ist in seinem Grundaufbau broken und "müsste" zerfallen. Damit das, was sehr plausibel sein müsste, aber von Hintergrund und Metaplot nicht sein darf, nicht geschieht, werden überall Harmoniefilter eingebaut, welche die zerfallende Maschine irgendwie zusammentackern sollen.
Beispielsweise glaubt zwar jeder im Sabbat was grundsätzlich anderes, aber jeder glaubt dass jeder andere Sabbat glauben soll und darf – ja, MUSS – was er/sie und vor allem ES will. Somit wird im Prinzip interessanten Glaubens- und Pfadkonflikten von oben ein "gibt's nicht" aufgesetzt und ein interessantes Thema wird abgewürgt.
Bei Requiem – und bleiben wir ruhig mal beim Sanktum – wird zu Beginn eine Fraktion geschaffen, die koheränt bis monolithisch und unverwüstlich scheint. Um dann im zweiten Blick und näherem Fokus überall kleine Risse und Widersprüche aufzupopeln, die das Ganze dann immer interessanter machen. Und die darüber hinaus dann auch noch funktionieren.
Solch ein neuer Wertekodex ist ebenso schwierig zu befolgen wie Humanity. Anders aber auch nicht weniger schwer. Denke ich, so nehme ich es wahr.
Ich gehe sogar weiter und sage: Es ist erheblich schwerer. Denn Menschen sind wir alle, und damit fällt es uns leicht Entsetzen über ein schändliches Verbrechen wie das Köpfen von Kindern zu empfinden. Ein was den Grad des Entsetzens angeht gleiche Bestürzung bis Traumatisierung zu empfinden bei einem schändlichen Verbrechen wie "ich hab zwar Hunger, esse heute aber mal nichts" (Pfad Kains) oder "eine Null zum Vorgesetzten haben" (Macht und Innere Stimme) ... ist nicht nur schwierig. Es ist AFFIG.
Nur weil unter Prag ein Methusalem schläft muss er nicht durchs Bild wanken. Die Möglichkeit genügt.
Es IST aber keine Möglichkeit.
Bei Maskerade besteht ein solch steiles Missverhältnis zwischen dem, was die SPIELER wissen, und dem, was die CHARAKTERE wissen, dass der Hintergrund das Spiel mehr belastet, als er nützt. Und die Situation wird dadurch keinen Deut besser, dass es so SCHEISSEVIEL Hintergrund gibt, und der Maskerade-Spielleiter (diese ärmste aller Säue außerhalb von DSA) mangels eines Nebels wirklich aupassen muss wie ein Schießhund,sich nicht in Widersprüche zu verrennen oder in Konflikt mit dem Kanon zu geraten (sofern seine Spieler z.B. Fans der Romane sind etc.).
Guck mal, es ist ja nicht so als gäbe es bei Requiem keine Hintergründe (Herrgott, es gibt nen Rom-Quellenbuch, okay?
). Aber wenn Du nicht willst, lassen diese sich mit einer bequemen Geste zum Gerücht herabwürdigen.
Das geht – um zum Vampire Live zurückzukommmen – so weit dass man sich bei Maskerade wegen überzogener Mega-Ahnen anschreien und wegen jedem neuen Scheißmethusaleh gefühlte und oft sehr rreale 2.000 Seiten Hintergründe abgleichen muss, indessen wenn mir morgen beim überregionalen OPUS treffen in Berlin ein tausendjähriger Ahn untergeschoben werden sollte ich einfach sagen werde: "Ja, ja, lass den Spinner doch reden. Vielleicht wurde er 1944 erschaffen, 1945 vom Bus überfahren und ist auf einem schlechten Trip".
Das entspannt ungeheuer. Und verhindert, dass die Spieler allwissend (oder einfach wissender als der SL) werden. Der im übrigen ja TROTZDEM eine 2.000-seitige Hintergrundstory von Mitteleuropa verfassen kann, was soll ihn auch dran hindern?
Ich sage ja gar nicht dass die historische Vielfalt von Maskerade Scheiße wäre. Nur SPIELEN will ich in und mit ihr halt nicht. Und das sage ich GERADE als einer der deutschen Vampire Live SLs, der vermutlich mit die meisten und detailliertesten historischen Hintergründe im Spiel ever entwickelt hat (ein Beispiel (und nicht das Längste):
GiO: Das Buch der Gelehrten: Die Familie Brujah -- alles ab "Clan Brujah in Preußen").