AW: Klassischer Cyberpunk - mit Schwerpunkt auf temporeichen Konflikten
In der bisherigen Form waren mir die Begriffe zu generisch und geschmacksneutral für ein genrespezifisches Spiel. Konformität, Nemeseis, Agenda... Das klingt alles mehr so als ob es von einem Soziologiegeek mit dicker Brille und Graecum käme als nach authentischem Cyberpunk.
Es ist auch nicht so dass ich mir die neuen Begriffe spontan aus den Nägeln gesaugt hätte. Ich habe in meiner kleinen Cyberpunkbibliothek rumgeblättert, von Pondsmith über Williams bis Shirley, habe im Wörterbuch nachgesehen, habe wieder und wieder den Thesaurus gequält... Ich habe noch nichts optimales in der Hand, aber es ist schon mal besser als der vorige Stand, denn der hätte genauso gut in GURPS stehen können.
Dann komme ich mal zum wieso, weshalb, warum der von mir ausgedachten neuen Begriffe:
Antriebe habe ich so gelassen, weil mir beim besten Willen nichts besseres eingefallen ist (auch wenn ich mit dem Begriff nach wie vor unzufrieden bin). Motive? Steine des Anstoßes? Triebfedern? Passt alles mindestens genauso schlecht.
Nemeseis sollten Personen, Konzepte und Institutionen sein denen der Charakter absolut negativ gegenübersteht, die er abgrundtief hasst.
Ich habe eine Weile über "Hassfiguren", "Vergeltungsziele" und "Feindbilder" nachgedacht, aber das klang auch alles so unheimlich geschwollen - die Entscheidung fiel letztlich auf "Wixer" weil der Begriff immer negativ belegt ist, sich Nemeseis immer als "Du Wixer" entgegenschleudern läßt und gleichzeitig eine gewisse Street Credibility hat, ohne dass man automatisch an 15jährige Türken in viel zu weiten Fubuhosen denkt.
Passionen sollten die Dinge sein denen der Charakter positiv gegenübersteht, auf die er hofft, an die er sich klammert, sein Silberstreif am smogverhangenen Horizont.
Die Entscheidung auf "Hoffnungen" fiel letztlich als ich auf der Suche nach Inspiration durch das Hardwired-Quellenbuch geblättert habe und im exzellenten Essay "Hope and Glory" dieses Konzept genau auf den Kopf getroffen gesehen habe.
Agenda? Wenn ich den Begriff höre denke ich entweder an langhaarige Asta-Leute in lila Latzhosen die Antifa-Flyer verteilen oder an gewisse politische Fahrpläne bis 2010. Boah ey, wie cyberpunkig.
"Thrill" passt da schon besser, es hat etwas von Energiegeladenheit und Antrieb, aber für sich alleine ist das Wort zu nichtssagend, darum habe ich es zu "Thrillfaktor" ausgebaut.
(Drive ist kein schlechter Vorschlag, aber viel zu leicht mit Antrieben durcheinander zu bringen. Wo ich gerade darüber nachdenke - wie wäre es mit Dynamik?)
Konformität klingt irgendwie... gezwungen. Es ist ein Wort, wie es ein Mittelschichtskid mit gefärbten Haaren, das vor dem Abi noch mal voll einen auf Punk macht, benutzen würde: Nerdig, peinlich und obendrein noch geschwollen.
Ich hatte da mehrere Ideen, unter anderem "Grauer Anzug", "Innerlicher Tod" und ähnliches, aber das hat alles nicht gepasst und war zu umständlich. "Zombie" hat noch am besten gepasst, war aber für sich alleine genauso wie Thrill zu nichtssagend, darum noch das angehängte -faktor.
(Wobei mir gerade wo ich das schreibe Angepasstheit durch den Kopf schießt - Meinungen?)
Geheimnisse war mir einfach zu geschmacksneutral.
Gibsons "Fragmente einer Hologramm-Rose" hat mich auf die Idee gebracht einen daran angelehnten Begriff zu suchen: Letztlich wurde es "Chipfragmente", aber in die engere Auswahl kamen auch Siliziumscherben, Codefragmente, Chipsplitter und andere Zusammensetzungen aus [Daten(träger)] und [Einzelteile] - eben Datenträger die gerade nutzlos sind, deren Aufzeichnungen aber, wenn sie wieder zusammengesetzt werden, ganz neue Wahrheiten enthüllen, und eben das tut dieser Wert im Spiel. Er ist eine Metaressource um die Spielrealität zu ändern, etwa indem andere Charaktere zu bestimmten Handlungen geleitet werden oder indem man ein Element durch Plotkarten unter seine Kontrolle bringt.
(Wobei mir bei erneutem Durchdenken Datenfragmente besser gefällt - das passt in jeden Cyberpunkstil, während Chipfixierung einen leichten 80er-Muff hat.)
Was Evolutionsschub und Darwin FF angeht... Nun, ich habe schon von Anfang an gesagt dass Evolutionsschub ein $#!+wort ist, meine anderen Ideen waren auch nicht besser, und mit Darwin FF habe ich wenigstens eine Anspielung auf Gibson drin
b_u_g schrieb:
Beides nachvollziehbar, ich würde aber nicht ganz so schnell die Flinte ins Korn werfen und eher überlegen ob man mit Deskriptoren hier nicht doch noch irgendwie etwas anfangen kann. Möglichst ähnlich aufgebaute Werte (und Regeln) halte ich nämlich eigentlich für einen Vorteil.
Das würde eh nicht vollständig konsistent klappen - mir fallen nämlich beim besten Willen keine Deskriptoren für Chipfragmente ein (und bei einer Rückkehr zu Edge würdest du mir den Kopf abreißen
)
Dann würde ich eher PLUS als ohnehin schon aus der Reihe fallenden Wert als einzigen mit Deskriptoren versehen, und gut ist.
Apropos Deskriptoren: b_u_g hat mich mit seinem neulichen Beispiel mit dem urbanen Raubtier auf eine bessere Idee als Power-/Edge-Deskriptoren gebracht: Ein Konzept[1], etwas was aussagt was für ein Typ der Charakter ist, wie er tickt, in welchen Bahnen er denkt, weniger was er toll kann. "Aufrechter Cop", "urbanes Raubtier", "abgestumpfter Straßenpunk", "verzweifelte Straßenratte", "ehrenhafter Samurai", solche Dinge.
Immer wenn das Konzept passt werden die PLUS-Deskriptoren die beim Konflikt eingebracht werden _doppelt_ gezählt.
Wann es passt? Zum einen natürlich, wenn du etwas tust was in dein Spezialgebiet fällt. Ein urbanes Raubtier ist toll darin instinktiv um die Ecke kommende Mafiasolaten umzunieten, eine verzweifelte Straßenratte wenn sie durch die Seitenstraßen und Hinterhöfe flieht, ein aufrechter Cop hingegen bei keinem von beiden.
Dann gibt es noch die Möglichkeit in die Beschreibung des Konfliktausgangs eine Introspektive einzubringen, das Spielgeschehen durch die Brille der Weltsicht deines Charakters zu filtern. Für das urbane Raubtier sind die Mafiasoldaten andere Raubtiere, einzeln gefahrlos, zusammen unbesiegbar, so wie Bienen und ihr Bienenstock. Für die verzweifelte Straßenratten sind sie Bedrohung, Gefahr, aber vielleicht auch Gelegenheit. Für den aufrechten Cop sind sie Abschaum der sich an blutigem Geld bereichert, an Geld das aus den Rippen der Leute geschnitten wurde die auf dem Gebiet leben das er beschützt, Abschaum der erst abgeknallt gehört und dann der Papierkram von wegen "Auf der Flucht erschossen".
Die Konsequenzen?
1.) Um an die Spitze zu gehen reicht es nicht tolle Ausrüstung zu haben, man muss charaktertreu spielen.
2.) Andererseits bleibt PLUS unverzichtbar, was den Konflikt Konform vs Vorwärts! verstärkt.
3.) Man hat grundsätzlich ein bei der Charaktererschaffung festgelegtes Mindsetting und eine zählbare Anregung dafür es so oft wie möglich einzubringen.
4.) Das Spielgeschehen wird nicht neutral runtergelesen wie im klassischen Rollenspiel, es wird durch die verschiedenen Perspektiven verschiedener Charaktere gefiltert und ist damit näher am angestrebten Cyberpunkstory-Stil.
5.) _1_ Konzept nimmt weniger Platz weg als _6_ Deskriptoren, ist einfacher zu verwalten und hat dabei mehr Aussagekraft: Es zwingt sich auf den Kern des Charakters zu fokussieren.
Das bin ich auch. Aber dieses Larifari "wir wollen einen Roman schreiben" (also known as "hui, wir spielen mal wieder eine Endloskampange") gibt mir im Vergleich zum (von mir wahrgenommenen) aller ersten Ansatz - der Kurzgeschichte - rein gar nichts. Das ist so uninspiriert und langweilig, dass mir manch anderes mit Hingabe zerpflücktes System als geringere Verschwendung von Potential erscheint.
Ich habe ganz bewußt "Cyberpunkstories" und nicht "Cyberpunkshortstories" geschrieben. Ich denke dabei ebenso an die Eclipse-Trilogie (als langes, abgeschlossenes Werk) wie an Dogfight(als kurzes, abgeschlossenes Werk) wie auch an die Sprawl-Trilogie, die die Protagonisten und Handlungsstränge auch über die Trilogie hinaus durch Kurzgeschichten wie Johnny Mnemonic verbindet (als das Äquivalent zur Endloskampagne). Die Beschränkung auf einen dieser Typen wäre an meinen Zielen vorbei und damit Mist.
Allenfalls könnte ich mir Optionalregeln vorstellen um das konkrete Spiel auf einen dieser Typen zu begrenzen.
Gehen wir es mal quick&dirty an und nehmen wir den Actionsequenzenmechanismus als übergreifenden Mechanismus(da er schon vorhanden und Konsistenz gut ist). Als Vorbild orientiere ich mich mal am Tennis mit seiner Einteilung in Spiele und Sätze.
Vor dem Spiel wird festgelegt was für einen Typ von Story wir haben wollen:
Eine
Kurzgeschichte würde ich als einzelne Actionsequenz definieren. Wäre zwar nur ein sehr kurzer Oneshot, ist aber möglich. Nach Abschluss der Kurzgeschichte darf irgendein Teilnehmer (vielleicht der mit der höchsten Differenz Thrill-Zombie?) einen Epilog erzählen.
Die nächste Stufe ist der
Roman, ein längerer Oneshot. Sobald eine Anzahl von miteinander verbundenen Actionsequenzen gewonnen oder verloren wurde die der Anzahl der Spielteilnehmer entspricht kommt es zum Epilog wie oben.
Darauf folgt die
"Trilogie" - ein etwas irreführender Name, da hier (wenn wir konsequent beim Actionsequenzenmechanismus bleiben wollen) mehr als drei Romane vorkommen können, aber da die meisten abgeschlossenen Cyberpunkreihen Trilogien waren nehme ich den Namen mal vorläufig. Das ist eine kurze Kampagne: Hier muss eine Anzahl von miteinander verbundenen Romanen gewonnen oder verloren werden die der Anzahl der Teilnehmer entspricht um zum Epilog zu kommen.
Offene Reihe ist die klassische Endloskampagne, und dazu muss ich wohl nichts mehr sagen.
Wenn wir bei dieser Einteilung bleiben wäre es vielleicht auch sinnvoll Actionsequenzen in Kapitel umzubenennen um konsistent literarische Begriffe zu verwenden.
Sind deine Funken wieder gezündet, b_u_g?
Gut. Ich habe also jemanden umgelegt um an mein Killerkommando zu kommen. Das entmenscht mich ganz fürchterlich. Ein paar Tage später greife ich zum Telefon und befehle meinem Killerkommando ein paar Teenager zu foltern und zu vergewaltigen, während ich per Vidlink zusehe und mir einen runterhole. Das berührt mein Menschsein rein gar nicht.
Stimmt, hier scheint eine bestechende Logik durch. Wenn der Netrunner mit seinem funkigen PLUS-Deck statt seinem Fluff-Heimrechner das Mainframe des Springer-Verlags knackt um Daten zu stehlen, dann hat ihn das gefälligst Menschlichkeit zu kosten, und wenn der Straßenpunk mit einem rostigen Fluff-Küchenmesser statt seinen PLUS-Nagelmessern eine Schwangere foltert indem er ihr in den Bauch sticht, hat er mit einem "Haddu aber fein gemacht" entlassen zu werden.
Ne, ne, ne, die Idee den Einsatz von Verbesserungen grundsätzlich Menschlichkeit kosten zu lassen ist absolut nichts. Sie simuliert keine Genregesetze, sie ist nicht kausal, sie ist nicht glaubwürdig, sie trägt nichts zu einer besseren Story bei - kurz gesagt, eine überflüssige Regel, und damit ein Fall für die Dämliche-Ideen-Tonne. Irgendwo zwischen Welteistheorie, Erdscheibe und Goldener Regel dürfte ein angemessener Platz dafür sein. Punkt.
[1] Uncyberpunkiger Name, ich weiß, aber was besseres fällt mir auf die Schnelle nicht ein.