AW: Das Blutschwerter RPG
Sylandryl Sternensinger schrieb:
... für bewusste Rollenspiel Einsteiger, nicht ganz klassisch genug ist.
Für "bewußte" Einsteiger "nicht klassisch genug"? - Was meinst Du denn damit?
Ich meine, ein Einsteiger, der sich für Rollenspiel im weitesten Sinne interessiert, also jemand der vorher noch nicht solange Rollenspiele gespielt hat, daß er Vorlieben und eine Rollenspielhistorie hat, für den ist NICHTS "klassisch", sondern immer ALLES NEU. Sonst wäre es ja kein Einsteiger, oder?
Du meinst sicherlich, daß dieses Setting nicht dem 08/15-Fantasy-DSA-Klon-Elfenzwergeorks-Rollenspiel entspricht. Das stimmt natürlich.
Aber wo liegen denn die Wurzeln des Rollenspiels? Mit Wurzeln meine ich natürlich nicht die Rollenspielhistorie mit Chainmail, D&D, Magira, ...
Ich meine damit vielmehr, was sind die Wurzeln in uns Menschen unabhängig von der technologischen Entwicklungsstufe, auf der wir uns befinden mögen?
Für mich zumindest sind die Geschichten, die man sich gegenseitig im Pfadfinderlager, beim wilden Zelten am Deich, beim gemeinsamen Bierchen nach dem Bogenschießen, etc. erzählt.
Solche Geschichten enthalten einen mehr oder minder wahren Kern, sie sollen unterhalten, sie sollen dem Erzählenden Vergnügen bereiten und den Zuhörern, sie sollen aber auch den Zuhörern ein aktives Mitgestalten (durch Nachfragen, oder "Ja, sowas ähnliches hatte ich auch mal erlebt, und zwar...") erlauben.
Mal ein Blick in ein Bambus- und Rattan-Langhaus hinter dem Strand einer namenlosen Insel, die in der Sprache der Bewohner dieses Eilandes "Unser Land" heißt:
Es ist Nacht. Die Krieger sind im Männerhaus. Man hört das Meer rauschen. Es riecht nach den Resten des fettigen Essens, denn die Jagd heute war gut und die Affen und das Schwein waren lecker.
Um das einsame Feuer hocken dünne, drahtige Gestalten. Mehrere Dutzend Männer unterschiedlichen Alters kauern dicht an dicht. Mit einem Ast stochert der faltige Roter Morgen, ein Krieger von mehr als vierzig Jahren. Er ist so alt, daß er sogar schon weiße Haare in seinem dünnen Bart hat. Trotzdem geht er noch immer mit allen Männern auf die Jagd und zieht in den Krieg gegen die Feinde aus dem Norden "Unseres Landes", die nicht die richtige Begrüßung kennen, die die falschen Tiere essen und deren Ahnen die Harmonie unseres Volkes stören.
Roter Morgen blickt auf und man sieht seine gelblichen Augen im schwachen Licht des Feuers mit Weisheit und Humor blitzen: "Es ist schon lange her, daß ich die Geschichte von Wilder Affe und wie er die Grüne Schildkröte ausgetrickst hat, gehört habe. - Schneller Aal, willst Du sie uns nicht erzählen?" fragt er und schaut dabei einen der jungen Männer an, der erst vor wenigen Monden ins Männerhaus gezogen ist.
Schneller Aal pocht mit einem Mal das Herz: "Ich weiß nicht, ob ich die Geschichte noch richtig zusammen bekomme. Ich habe sie selten gehört." spricht er mit dem Bewußtsein der Ehre, vom ältesten Krieger so vor allen ausgezeichnet worden zu sein.
Schneller Aal rückt näher an das Feuer. Die Männer machen ihm Platz. Man hört das Lachen aus dem Frauenhaus, wie es jeden Abend den Männern zeigt, wofür sie kämpfen und jagen und leben.
Schneller Aal atmet tief durch. Er schließt die Augen, legt die Hände auf die Schultern, so wie es ein Erzähler tut. "Es waren die Tage, als die zwei Sonnen am Himmel standen und die Welt und Unser Land versengten. Zu dieser Zeit ging es uns schlecht und wir litten Hunger und die Tiere und die Pflanzen trockneten statt zu leben und uns zu nähren, so wie es ihr Vertrag mit unseren Ahnen schon immer war."
Jeder im Männerhaus kannte diesen Anfang. Manche hätten schon lieber eine andere Geschichte gehört und kratzten sich unter ihrem Flechtwerk zwischen den Beinen. Vielleicht eine Geschichte von Weißes Wasser und wie sie neun Kriegern die Kraft nahm bis Hoher Baum kam und mit ihr das erste Lied machte. Doch solche Geschichten waren eher etwas für die Männer ohne Gefährtin. Wer die Mutter seiner Kinder gefunden hatte, der wollte anderes hören.
Die Geschichte von Schneller Aal breitete sich wie eine warme Decke über alle Männer. "... und dann ging Lichtseher, der Freund der Geister in das Männerhaus und holte die tapfersten der Jäger ihn zu begleiten. Er wollte den Gesang der Tiefen See anstimmen und brauchte Männer, die ihn dabei vor den Ahnen derer, die nicht sind wie wir, schützen sollten. Sie nahmen ihre Schwerter aus Eisenholz und machten den Schnitt des Friedens und den Schnitt des Krieges und den dritten Schnitt und waren bereit."
Schneller Aal war jetzt etwas unsicher: "Wie ging es nochmal weiter? Kam jetzt schon der Kampf gegen die Fliegenden Affen oder waren sie vorher an dem Ort wo Menschen in großen Kristallen wohnen?" Er schaute unsicher in die Runde, ob sich nicht ein anderer fand, diese Stelle weiterzuerzählen...
Das ist noch nicht so recht Rollenspiel. "Nicht so recht", weil manche Elemente, die in den meisten Rollenspielen üblich sind, hier noch fehlen. So ähnlich wie bei Münchhausen. Vor allem fehlt hier möglicherweise ein Spielleiter.
Und es wird "der Ball weitergespielt", d.h. das Erzählen geht von Charakter zu Charakter, aber immer "in-character". (Fast sowas wie DRASTIC.)
Mir ging diese Szene nur im Kopf herum, weil ich mit dieser Art des Spiels meine Liebe zur Spielwelt Glorantha entdeckt hatte. Dort ist JEDE Kultur REICH an Mythen, an Geschichten, die Geschichte sind. Und alles ist gleichzeitig immer wahr. - Wir wurden als Spieler damals ermutigt die Mythologie von Glorantha, die ja damals schon sehr reich war, einfach spontan und ohne viele Einschränkungen weiterzuspinnen. Hauptsache es war IN DER ROLLE eines Kriegers, einer Priesterin, eben eines Bewohners der Spielwelt aus der Sicht seiner Kultur, seiner Vorurteile, seines Erlebens der Welt und der Götter und der Geister gesprochen und erzählt. Dann war es wahr. - Natürlich war dies eine Art Add-On zum "normalen" Rollenspiel nach RuneQuest-Regeln. Aber es war eben so anders als wir vorher auf anderen Spielwelten gespielt hatten.
Sorry für diesen Umweg im Thread, aber ich bin alt und lebe in der Vergangenheit, so daß man mir Speichelfäden am Kinn, schlechtes Benehmen und endloses Geseiere nachsehen muß.