WENN Midgard auf "Akademiker" abzielt, dann wahrscheinlich auf Geisteswissenschaftler.
Nichtmal Juristen, denen wären die Regeln zu schwammig.
Wir sind ca. 2008 in Midgard eingestiegen, hatten vorher NIE Kontakt damit und es dann ca. 2 Jahre in einer Kampagne gespielt (jetzt nicht mehr). Daher kann ich die Eindrücke gegenwärtiger Umsteiger schildern,
DSA4 hing uns zu der Zeit aufgrund seiner Untauglichkeit und Regelüberladung zum Hals raus, D&D und co. waren uns zu der Zeit zu "verspielt". Midgard versprach da "gediegene Low-power Simulation in regelarmer Verpackung".
Das stimmte auch. So halb. Es ist immer noch weit davon entfernt, so aufgebläht zu sein wie DSA4, aber was heisst das schon? Da wir alle schon viele Jahre Erfahrung mit Rollenspiel und RollenspielDESIGN hatten, traten die Schwächen immer stärker zu Tage. Am Ende haben wir mehr über die Logik der Welt und die Funktionalität der Regeln diskutiert, als spielen zu können, so dass es zu einem HINDERNIS wurde und entfernt werden musste.
Es ist kein Platz das hier alles auseinanderzuklabüsern, aber kurzum:
- Die Spielwelt bot kaum Konflikte. Ohnehin erhält man außer der Beschreibung des Altagslebens der Völker (das meist aus Geschichtsbüchern zusammengeklaubt und umbenannt wurde, aber das ist noch ok) wenig Infos, auf die man Abenteuer aufbauen kann. Das mag nicht für alle Quellenbücher gelten, aber zumindest für die, die uns zur Verfügung standen (z.B: Alba).
- Die Regeln wirken in ihrer Dichte ziemlich unausgewogen und beliebig. Zu manchen Dingen gibt es kaum Regeln und Erläuterungen und zu anderen, wie DARTWERFEN oder TJOSTEN, dann seitenweise Regeln. Zum anderen sind die vorhandenen Regeln oft nicht interpretationsfrei oder enthalten offensichtlich Lücken und lassen viele Fragen offen, so dass oft ein SL Willkür ansetzen muss. Das spricht beides dafür, dass dies kein designtes und durchgeplantes Spielsystem ist, sondern eine Art Hausregelsammlung einer oder einiger weniger Autorenrunden, die ihre Vorlieben und Schwerpunkte inklusive ihrer stummen Vereinbarungen über Jahre hinweg in das System haben einfließen ließen, so dass heute NUR noch DIESE Leute damit umgehen können, weil allen anderen Menschen die Konventionen fehlen.
- Das die Regeln ganz andere, grundlegende Schwächen plagen (was schon beim Grundmechanismus beginnt), das ist ein eigenes Unterboard wert. Und ehrlich gesagt sticht Midgar da nicht viel mieser hervor als viele andere Rollenspiele auch.
- Das Midgardforum ist zwar voll von netten, umgänglichen Leuten, aber leider auch Tunnelblickern. Auf konkreten Fragen oder Kritik zu den Regeln bekommt man meistens den Vorschlag, doch sinngemäß "mal fünfe gerade sein zu lassen" und Aussagen wie "Regeln sind ja eh nicht so wichtig für echtes Rollenspiel" was m. E. schon mehr über den Zustand des Regelsystems aussagt als eine Rezension.
zu den Fragen
1. Was ist da passiert? Stirbt der Urvater des deutschen Mainstream-RPG einfach weg?
Betriebsblindheit und fehlender Wille zur Verbesserung und Innovation. Es fehlt der Mut, wirklich harte Einschnitte zu machen und grundlegende Ansätze neu zu überdenken. Aber das könnte ich unter die meisten aktuellen RPGs schreiben (ausser D&D vielleicht, die "versuchen" es zumindest). Betriebsblindheit deswegen, weil hier offenkundig wird, dass das System schon seit längerem nicht mehr von Aussenstehenden getestet und begutachtet wird, so dass keine neuen Impulse eindringen können und offensichtliche Fehler und Lücken schnell übersehen werden und so von Edition zu Edition mitgeschleppt werden.
Außerdem: Fanboys (wääh, wääh, ich will aber meine W100 Attribute, nuff' said).
2. Warum wird das System kaum noch gespielt?
Mangelnde Werbung. Fehlendes, vollfarbiges, dynamisches Comic-Action-Artwork auf durchgängigem hochglanz Papier in fetzigem Heftformat. Zu viel Text. Zu hohe Lernkurve, zu wenig Spielhilfe, zu viel Spielhemmnisse. Zu wenig Hypes. Keine koooool powerzzzz! Es stellt sich durch die Langsamkeit (teilweise Lernzeiten von 2 Jahren Ingame!) kein Aufstiegs- und Sammeltrieb ein. Keine Spielweltkonsistenz (z.b. kein funktionierendes Geldsystem). Die Spielwelt ist nicht eigenständig genug, um von irgendeinem x-beliebigen Homebrew mit Erdkultur-Namensgenerator hervorstechen zu können, den ich mir in 20 min aus dem A.. ziehe.
3. Könnte man das stoppen und was bräuchte es dazu?
All das aus dem Weg räumen, was unter 2. steht. Alternativ mit Flammenwerfer oder einem hochansteckenden "Altspieler-Virus".
nicht missverstehen. Es gibt Raum genug auch klassische Spielansätze wie Midgard weiter zu verbessern ohne aus publicity Gründen auf irgendwelche Indiezüge aufspringen zu müssen.