AW: Warum ich mit RAW und Abenteuerspiel im RPG nichts anfangen kann
Andererseits frage ich mich wie man eine zehnjährige Kampagne führen kann ohne entweder den Quark möglichst breit zu treten ..., Charaktere zu wechseln oder einen neuen Handlungsstrang zu beginnen (was beides für mich keine geschlossene Kampagne mehr wäre).
Wenn man die Einschränkung auf "geschlossene Kampagnen" machen will.
Davon war aber hinsichtlich Kampagnenfähigkeit nicht nur NIE die Rede, sondern das ist auch ein Indiz für eine reine Individualcharakterfixiertheit. Eine Sicht eben, die durch die Forge-Spiele geprägt ist, die aber bei Nicht-Forge-Rollenspielen eben nur EINE VON VIELEN verschiedenen Sichtweisen auf Kampagnen ist.
Wenn in einer Kampagne die GRUPPE das tragende Element ist, dann sind Zugänge und Abgänge zur Gruppe (neuer Spieler macht mit, alter Spieler ist mit der Uni fertig und zieht weg - ganz normale Gründe für solche Wechsel, die in 10 Jahren und mehr Spielzeit tatsächlich vorkommen WERDEN) etwas ganz Normales.
Das muß eine Kampagne ab können.
Kann sie das nicht, dann ist sie viel zu Charakterfixiert und geht ein, wenn auch nur ein Charakter oder - schlimmer noch - ein Spieler sie verläßt. - Klar daß so etwas nicht lange halten kann.
Bei MEINER Erwartung an die Kampagnenfähigkeit steht "HELDEN Jetzt!" IMMER im Vordergrund. Also kein "Spaß-Verdünnen", damit es über die Zeit reicht.
Das ZIEL ist NICHT 10 Jahre zu spielen, sondern JETZT und HIER etwas Besonderes zu erleben. (Das ist noch kein Unterschied zum One-Shot.) Das Ziel ist aber auch das Erleben des Besonderen GEMEINSAM in einer KONTINUIERLICH FORTGESCHRIEBENEN Heldengeschichte zu erspielen.
Es ist nicht eine Ansammlung an Leuten die jeder für sich an ihrem Charakter herummasturbieren, sondern Leute, die MITEINANDER sinnliche Spielerfahrungen machen, die man ALLEINE NIE so machen könnte (aus "charakter-anatomischen" Gründen).
Nicht nur die Charaktere gehen bei einer Kampagne durch Dick und Dünn, sondern auch die Spieler. Der eine wird arbeitslos, hat viel Zeit aber kein Geld. Der nächste hat Streß im Job und kämpft sich zeitlich jeden einzelnen Spieltermin frei, weil es ihm wichtig ist. Der nächste arbeitet auswärts und kommt NUR FÜR DIE KAMPAGNE hergefahren, weil sie ihm etwas bedeutet.
Da "stört" das wirkliche Leben, der Alltag, weit mehr als ein Regelsystem stört.
Und es stimmt natürlich, daß solche Regelsysteme mit angezogener Handbremse bei der Charakterkompetenzentwicklung wie Midgard dann auch irgendwann in eine enorme Frustzone fahren. Gerade bei Midgard wird eine lange Kampagne irgendwann von solchen "Features" des Lernsystems torpediert wie Charakter A muß zweieinhalb Jahre Lernen um seine Kurzschwert-Fähigkeit um +1 zu steigern. Charakter B lernt aber "nur" 6 Monate. Was machen wir nun? Wartet B zwei Jahre Däumchendrehend auf A, bis der fertiggelernt hat, um endlich wieder was Spannendes zu erleben?
Das ist aber ein Midgard-eigenes, hausgemachtes Problem, welches ich den Midgard-Autoren ankreide, aus deren Tastatur im Midgard-Forum auch schon mal solche Sache zu lesen waren, wie daß Midgard für SPIELER-Charaktere nur bis vielleicht Grad 8 oder so gedacht sei, während die "saftigeren" Grade eh nur für NSCs vorgesehen seien. - So ein Scheiß! Eine Zweiklassen-Kompetenz, die - anders als bei Mook- oder Extras-Regeln, wo die SC KOMPETENTER als die Dutzendgegner sind - hier die Kompetenz der SCs künstlich kleinhält.
Dieser Kleinhalte-Vorwurf ist, so meine Erfahrung GERADE aus langen Midgard-Kampagnen, für Midgard absolut gerechtfertigt. - Für D&D, RuneQuest, und andere überhaupt nicht.
Außer der extrem langsamen Charakterverbesserung wo man sich erst einmal ein paar Jährchen hochzuspielen hat bis man endlich ein HELD statt einem helden ist und endlich etwas Spaß haben darf, aber so etwas ist in meinen Augen kein effektiver Anreiz für Langzeitspiel,
Umgekehrt. - Gerade wenn man die seit D&D-Anfängen typische AUFSTIEGS-Geschichte vom Tellerwäscher zum Master of the Universe als CHARAKTERBEZOGENEN Kompetenzentwicklungsweg spielen WILL, und deshalb spielt man ja z.B. ab Level 1 und nicht schon ab Level 10, was ja immer schon möglich war (ja, auch im alten AD&D 1st Ed. war das verbreitet), dann ist GENAU dieser Aufstieg, bei dem man ganz bewußt jede Sprosse der Leiter aus eigener Kraft, mit eigenem Geschick, mit eigener Findigkeit erklimmen WILL, einer der Anreize für ein Langzeitspiel. - Hier kann man sich etwas erarbeiten, was man anderswo GESCHENKT bekommt.
Das ist wie mit dem Krafttraining oder mit Stretching. DER WEG IST (bei diesen Kampagnen) DAS ZIEL (für den einzelnen Charakter bzw. dessen Spieler).
Aber die Langzeitspielmotivation nur auf die Aufstiegsgeschwindigkeit der Charakterkompetenz zu reduzieren, geht an den eigentlichen Motivationsträgern völlig vorbei. Diese Reduktion kommt meinem Eindruck nach aus eine viel zu sehr charakterfixierten Sichtweise.
Die ist natürlich Forge-genährt.
Wenn ich mit einem HELDEN starten will, und Geschichten spielen will, wo der HELD auf dem Gipfel (oder nahe dran) seiner Kompetenz ist, dann sind das etwas andere Geschichten mit weit WENIGER ÄNDERUNGEN IN DER KOMPETENZ als dies bei den Aufstiegsgeschichten vom inkompetenten Anfängen (mit dem sich wohl jeder schnell identifizieren kann) zum Excellent Universal Overlord (dessen ausgemaxte Intelligenz- und Charisma-Werte nicht mehr im menschlich möglichen Vorstellungsbereich liegen dürften).
Conan, um mal ein klassisches Beispiel heranzuziehen, erfährt sehr, sehr viel WENIGER Charakterkompetenzänderungen (sprich: Verbessern von Kampfwerten, von Charakteristiken) im Laufe seiner Abenteuer, als z.B. Pug in Pug&Thomas (Midkemia), der tatsächlich vom inkompetenten Zauberlehrling (weil er für eine andere Lehre zu ungeschickt war!) zum Bad-Ass-Mega-Mage im Laufe der Romane wird.
Conan erlebt auch Entwicklungen. Aber diese hängen nicht mit seiner stets als hoch angelegten Kompetenz als Kämpfer zusammen, sondern mit den Leuten, denen er begegnet, den Ländern, die er bereist, etc.
Man kann somit Charakterentwicklung auf vielen anderen Ebenen als nur im Angriffswert und in den Hitpoints betreiben.
Und das unabhängig, sogar parallel und überlagert den vom Regelsystem vorgegebenen Entwicklungs-Vektoren.
Solche Charakterentwicklung ist aber eine, die in einem ANDEREN TEMPO erfolgt, als die der Kampffertigkeiten. - Und bei der Frage nach dem angemessenen Tempo für Entwicklung z.B. von Verantwortungsgefühl, da sind die Forge-Spiele zu sehr mit der Vorspultaste zugange. - Ich meine hier auch nicht einen Charakter, der VON ANFANG AN ein hohes Verantwortungsgefühl hat. Da entwickelt sich, analog einem von Anfang an kompetenten Kämpfer, zu wenig merkbar weiter. Sondern ich meine einen Charakter, der z.B. als verantwortungsloser, in den Tag hinein lebender Söldner, Geldverschwender und Beziehungsunfähiger startet, der sich aber - durchaus geprägt durch kritische Ereignisse in der Kampagne bzw. durch das VORBILD(!) anderer Charaktere (und Spieler) - in eine Richtung entwickelt, wo er zu einem verantwortungsbewußten Truppenführer, einer echten, verbindlichen, loyalen Führungspersönlichkeit wurde. Das war weder vorher geplant, noch konnte man das an irgendwelchen Charakterwerten vorher festmachen. Es gab kein "Verlangen" in dieser Richtung bei der Charaktererschaffung, sondern der Charakter wurde so erschaffen "wie er nun einmal war". Und dann begann das Spiel, die Kampagne und die änderte DIE WELT. Die Charakter veränderten sich (bewußt und - häufiger - unbewußt), die Welt wurde von ihnen stark geprägt und dies wirkte auf die Charaktere zurück.
Man schaue sich einmal die sehr kompetenten Charakter bei Babylon 5 an. Da sind kaum jüngere Charaktere darunter (keine in wichtigen Rollen). Die Charaktere dort änderten über 5 Staffeln hinweg das Universum. Sie trafen die Entscheidungen, die Weichen für die Zukunft stellten. - Und es gab hier auch Charakterentwicklung (Garibaldi z.B., oder Londo Mollari und erst Recht G'Kar). - Aber war das jetzt eine typische Aufstiegsgeschichte, wo G'Kar anfangs Level N hatte und am Ende Level N+10 oder so?
Nein. Natürlich nicht. (Und deshalb paßt auch die D20-Herangehensweise bei B5 so schlecht.)
Eine Charakterentwicklung passiert wie das schon erwähnte "Eintragen" eines neuen Schuhs. Noch vor der allerersten Spielrunde mit einem neuen Charakter kann ich nicht sagen, wie er denn nun wirklich sein wird. Ich habe Vorstellungen, Ideen, Wünsche, aber da ich diese NICHT ALLEIN DURCHSETZEN kann und will (denn sonst würde ich über diesen Charakter eine Geschichte schreiben, wo ich alle Randbedingungen selbst beeinflussen kann), sondern ZUSAMMEN mit anderen Spielern IN DER GRUPPE meinen Charakter zu seinem Leben erwecken möchte, kommt es öfters anders heraus, als ich es je erwartet hatte.
So spielt mein Charakter bei einem anderen Charakter (eines anderen Spielers) unerwartet gegen den Strich. Die beiden haben ständig Reibereien, die ich nie vorher erwartet hatte und die ich auch nicht gewollt hatte. Die ich aber zu akzeptieren und von da weiterzuspielen bereit bin.
Gerade diese Unberechenbarkeit im Rollenspiel MITEINANDER ist es ja, die für mich die Glaubwürdigkeit von Charakterinteraktionen im Rollenspiel darstellt. Im wirklichen Leben gerät man auch immer mal mit jemandem aneinander, freundet sich mit einem anderen an, zerbrechen Freundschaften etc. - So etwas braucht, damit es nicht aufgesetzt, gezwungen wirkt, SEINE EIGENE ZEIT.
Und die bekommt man hier nicht:
spiele ich in der Zeit lieber eine McForge-Campaign die es schafft _jetzt_ zum Knackpunkt zu kommen.
Da bekommt man JETZT den dünnen Abklatsch auf den Tisch, zieht den durch, schmeißt ihn weg, und meint, man hätte jetzt etwas Besonderes erlebt, wo man nur ein hohles Gestell, nur Pappkameraden, nur Knallchargen erlebt hatte.
Kampagnenspiel, wie ICH es mag, das ist wie "Slow Food". Das kann man genießen, da hat man jede Menge Spaß bei ALLEM, was da in der Zeit passiert. Nicht nur bei der "Reader's Digest"-Version mit den "Besten Szenen aus Midkemia auf 20 Seiten".
Das ist nicht nur Fast Food (was auch schmeckt und seinen genußvollen Zweck erfüllt - eben für One-Shots, bei denen man auch nicht mehr erwartet, als man davon bekommen kann), sondern das ist eine "Mogelpackung", weil einem etwas vorgegaukelt wird.
Bei einem knappen One-Shot (mit vorgefertigten Charakteren auch noch!), da kann man etwas erleben. Spaß haben. Und sich im bewußten Annehmen der vorgefertigten Charaktere und der vorgesetzten Umgebung arrangieren und mitspielen. Und das ist toll.
Bei einer Kampagne nimmt man sich mehr Zeit füreinander. Und das wirkt. Das Engagement der Spieler (siehe oben: die Alltags-Effekte auf eine Langkampagne) ist hier allein schon aufgrund des "Commitments" für die nächsten Jahre miteinander spielen zu wollen, viel größer. - Manche Kampagnen haben Spieler erlebt, die während der Kampagne geheiratet haben, Kinder bekommen haben, und geschieden wurden. Und die Kampagne gab/gibt es immer noch. Und jeder persönliche Schicksalseffekt hatte seine Spuren im gemeinsamen Spielen hinterlassen.
Wie gesagt: Ich mag es, wenn eine Gruppe Spieler mit ihren Charakteren zu einem SUPERTEAM zusammenwächst.
Ich mag auch meine 5-Minuten-Team-Terrinen.
Von beiden erwarte ich UNTERSCHIEDLICHES. - Und ich halte es für DUMM mit exakt DENSELBEN Erwartungen an diese unterschiedlichen Tiere heranzugehen.