AW: Warum ich mit RAW und Abenteuerspiel im RPG nichts anfangen kann
Nachdem inzwischen ein wenig mehr Klarheit herrscht, was Du bei den Begriffen "RAW" und "Goldene Regel" gemeint hast, sehe ich mich nun in der Lage Deinen Startbeitrag mal zu beantworten. (Begriffsersetzungen von mir
FARBIG hervorbehoben.)
Beim Rollenspiel geht es für mich als Spieler vor allem darum, eine Rolle zu spielen - einen Charakter, der wahrscheinlich einen Teil meiner Persönlichkeit ausmacht in einer Welt, die nicht die unsere ist.
Als SL allerdings habe ich zwei Ziele:
1. Ich will einen Plot durchziehen.
2. Ich will, daß meine Spieler Spaß haben.
Wieso beißen sich diese Ziele mit der Idee des Abenteuerspiels und dem Prinzip nur Regeln zu verwenden, die in KEINER Weise an die jeweilige Spielgruppe angepaßt sind?
Ich möchte hier zunächst einmal das "Abenteuerspiel" (womit Du vermutlich das "AbenteuerROLLENspiel" (ARS) - wie von Settembrini oder Skyrock vertreten - meinst) ausklammern.
"Bei einem Brettspiel kommt doch auch niemand auf die Idee, die Regeln zu ändern."
Dem stimme ich zu.
Ich nicht.
Es gibt EINE MENGE Brettspiele, bei denen Hausregeln (nach meinem Verständnis gehören dazu auch die Entscheidungen über die Verwendung von Optionen/Varianten und die für die aktuelle Spielgruppe gültige Auslegung unklarer Regelpassagen) absolut üblich sind (oder gar ein MUSS - vor allem bei schlecht abgefaßten Regeln, fehlenden Beispielen, und echten Regellücken).
Ein bei mir gerade akutes Beispiel: Frag: Deadlands. Das ist ein Brettspiel, welches ein Computerspiel-Shooter-Feeling vermitteln soll. Hier sind die Regeln an vielen Stellen nicht glasklar und eindeutig zu verstehen, sondern müssen - entweder im Laufe des Spiels durch Diskussionen nebendran, oder (bei regelmäßigen Spielrunden) vorab mit einer für alle geltenden Auslegung versehen werden, auf die sich die Spieler im Spiel dann verlassen können.
Woher kommt denn der Eindruck, daß die Regeln in einem Brettspiel jenseits jeglicher Diskussion immer so gelten KÖNNEN, wie sie vom Autor abgefaßt wurden?
Meine letzten Käufe an Brettspielen (insbesondere aus dem anglo-amerikanischen Sektor) haben mir da ein gegenüber deutschen Spieleentwicklungen ganz anderes Qualitätsbewußtsein (genauer: die Abwesenheit eines solchen) gezeigt.
Auch Brettspiele KÖNNEN Regelanpassungs- und -auslegungsbedarf haben.
Nicht alle müssen das haben, und es ist noch nicht einmal eine Funktion der Komplexität einer Brettspielregel, ob sie nun mehr oder weniger Auslegungs- und Anpassungsbedarf haben wird.
Selbst recht simpele, eine Seite umfassende Regeln können Lücken, unverständliche Formulierungen etc. aufweisen.
Aktuelles Beispiel: Revolver. Ein kleines 2-Personen-Kartenspiel (nur als Kauf-PDF zum Selbstausdrucken erhältlich) um Western-Revolvermänner hat auf der knappen Seite Regeltext KEINE REGELUNG, WER ANFÄNGT! Da der erste Zug bei einem Revolver-Duell schon SEHR entscheidend sein kann, haben wir hier trotz knapper Regelung eine echte Lücke. Diese haben wir in unseren Revolver-Runden stets VORAB mit einer Regelung geschlossen. - RAW nach Deinem Verständnis der unveränderten geschriebenen Regel GEHT hier bei diesem Kartenspiel nicht!
Und was gerade das Anfangen anbetrifft: viele Regelwerke von Brett- und Kartenspielen regeln das NICHT. Überhaupt nicht. - Da wird dann gesagt: "der Startspieler macht ...". Wie der bestimmt wird, steht völlig offen. Der Regelautor war sich zu schade dazu etwas zu regeln.
Kommt einem das nicht aus manchen Rollenspielen bekannt vor?
Die Unisystem-Initiativ-"Regelung" im Kampf vielleicht?
Eben.
Aber wie ist das bei Rollenspielen?
Genauso.
Zumindest aus der obigen Warte, daß man bei ALLEN Spielen an den Regeln "herumdoktort" (ja, auch beim Basketball auf dem Spielplatz und beim Murmelspiel und bei allen anderen Spielen, wo die Regeln nicht hart "verdrahtet" sind (wie dies bei Computerspielen der Fall ist)).
Bei Brettspielen wird genauso "gehausregelt" und "ausgelegt" und "angepaßt" wie bei Rollenspielen.
[Im Rollenspiel]... müssen die Systemmechanismen alle Möglichkeiten des Charakters erfassen oder zumindest berücksichtigen, was bedeutet, daß es hochkomplexe Dinge wie den Kampf oder soziale Interaktion drastisch vereinfachen muß, da es ansonsten das System sprengen würde.
Es müssen NUR die Mechanismen des Charakters erfasst werden, die im FOKUS des jeweiligen Rollenspiels liegen.
Bei Deadlands will ich vom Fokus her genaue Regeln für Single-Action und Double-Action Revolver haben. Bei Angel will ich nur wissen: Gun, Big Gun, Big Ass Gun. - Anderer Fokus, andere Detailtiefe, andere Regelmechanismen zur Erzielung des gewollen Fokus.
Beim Dying Earth Rollenspiel ist das sprachliche "Duellieren" im von der literarischen Vorlage her völlig passenden Fokus. Daher dort die ausführliche Regelung zu den für das Spiel im Feeling der Dying Earth Romane relevanten sozialen Fähigkeiten.
Bei dem angedachten düster-romantischen Bajuwaren-Rollenspiel "Rauhnacht" sollte es hochdetaillierte Regeln geben, die mit viel Spannung eine Klettertour an einer heiklen "Wand" erspielen lassen. Da wäre das in vielen Rollenspielen übliche "Mach mal einen Klettern-Wurf, oder zehn..." unpassend.
Dein Anspruch, daß "die Systemmechanismen alle Möglichkeiten des Charakters erfassen oder zumindest berücksichtigen" müssen, trifft für sehr viele Rollenspiele einfach nicht zu.
Eigentlich trifft er nur für die Rollenspiele zu, die sich das UNIVERSELL auf die Fahnen geschrieben haben und tatsächlich ALLE Aspekte eines Charakters gleichermaßen einzufangen versuchen.
Das sind aber vergleichsweise wenige Rollenspielprodukte verglichen mit der Fülle der Rollenspiele, die nicht mit diesem "Alle Möglichkeiten"-Anspruch daherkommen. Für die meisten reicht es aus, nur die für das Spiel relevanten, nur die interessanten, nur die Aspekte, die mindestens jede zweite Spielsitzung zum Tragen kommen, abzubilden und alles andere einem einfachen, groben, aber für den hierauf ja NICHT liegenden Fokus ausreichenden Mechanismus zu überlassen.
Der Unterschied ist aber, daß Brettspiele und Computerspiele alles, was nicht dem Spielziel, also dem Sieg über die Mitspieler oder das Spiel dient, ausblenden, während Rollenspiele als Simulation einer Spielwelt diese Dinge berücksichtigen müssen.
Rollenspiel MÜSSEN erst einmal genauso viel oder genauso wenig berücksichtigen, wie Brettspiele oder Computerspiele.
Nichts.
Wenn der Fokus eines CoSims ist, einen Krieg mitsamt der Kriegswirtschaft, der Effekte von Bombardierungen von Produktionsanlagen, der Öl-Resourcen-Wirtschaft etc. abzubilden, dann braucht das Spiel natürlich dafür Regeln, Spielmechanismen, Spielmarken etc. (z.B. Avalon Hills Regelmonstrum "Third Reich"). Wenn der Fokus eines CoSims aber nur ist, taktische Situationen auf Kompanie-Ebene und darunter abzubilden, dann sind die eher langfristigen Auswirkungen z.B. der Öl-Versorgung für die dort zu spielenden Schlachten nicht mehr im Fokus (z.B. Westwall-Serie von SPI).
Wenn der Fokus eines Rollenspiels ist, daß die Charakter Superhelden in einer fiktiven Metropole spielen sollen, was alles MUSS dann von diesem Rollenspiel berücksichtigt werden, wenn man sich die Genre-Konventionen z.B. von Four-Color-Superheroes anschaut? - Und was fällt bei diesem Fokus unter den Tisch? (Eine ganze Menge!)
Ich habe den Eindruck, daß Du nur ganz bestimmte Genres und nur EINEN ganz bestimmten Fokus eines Rollenspiels für Dich als Maß dessen heranziehst, was ALLE Rollenspiele "müssen" sollen.
Das bedeutet, daß Brett- und Computerspiele wesentlich simpler gestrickt sein dürfen als Rollenspiele.
Ganz und garnicht.
Risus ist simpel. Civilization (egal welche Version) ist komplizierter als Risus. Mehr und komplexere Regeln, längeres Einlesen, Einarbeiten, Einspielen notwendig bis die halbwegs präsent sind, als dies bei Risus der Fall ist.
Auch das alte D&D (noch vor AD&D) hatte sehr simple Regeln, die es erlaubten eine Unmenge sehr unterschiedlicher Fantasy-Subgenres zu erspielen. - Zu manchen der klassischen Module gab es ja für spätere D&D-Regelfassungen die "Return to ..."-Abenteuer, in welchen dieselbe Lokation eines klassischen Moduls später noch einmal besucht wird - diesmal mit den crunchlastigeren regelumfangreicheren AD&D 2nd Ed. Regeln oder gar den D&D 3.x Regeln. - Kann man erst mit den umfangreicheren Regeln der 3.5 Ed. mit NSCs dieser Lokationen interagieren? - Natürlich nicht. Das ging schon mit D&D (Blue Box) verdammt gut.
Ich komme eigentlich über die CoSims (insbesondere die von SPI aber auch manche von AH) zum Rollenspiel. Und ich fand damals die paar Regeln von Gammaworld (59 Seiten 1st Ed. - alles was man zum Spielen wirklich brauchte!) wesentlich brauchbarer, leichter zugänglich und kompakter als die sogar noch etwas kürzeren Regeln mancher CoSims, bei denen man sich das Hirn zermartern mußte, um herauszubekommen, wie sich die Autoren das wohl gedacht hatten (alle hatten "Beispiel-Allergie" und gabe nur Regeltext "pur" und "unverwässert" durch Erläuterungen und Beispiele zum Besten).
Rollenspiele, Kartenspiele, Brettspiele, Computerspiele DÜRFEN natürlich schon wesentlich einfacher gestrickt sein, als ANDERE Rollenspiele, Kartenspiele, Brettspiele, Computerspiele.
Eine generelle Aussage, daß Brettspiele und Computerspiele IMMER simpler sind als Rollenspiele, läßt sich hier nicht treffen.
Ein Rollenspiel hat aber als Simulation auch mit der Erfindungsgabe der Spieler zu tun.
Zur Simulation: Was soll den simuliert werden?
Ich will, wenn ich Angel RPG spiele, nur die TV-Serien-Action simulieren, aber nicht die reale Physik auf die wüsten Stunts dort anwenden.
Simulation - WAS soll simuliert werden?
Rollenspiel hat als Simulation WESSEN? auch mit der Erfindungsgabe der Spieler zu tun?
Als Simulation von hard-scifi-Schwerelosigkeit in Raumschiffen? Als Simulation der Auswirkungen von regelmäßigem Laudanum-Konsum auf den Körper und die Psyche in Deadlands? Als Simulation von unterschiedlichen, historisch korrekten und waffentechnisch belegten Waffeneigenschaften im Kampfsystem? - Bei welchen von diesen kommt die "Erfindungsgabe" der Spieler in die "Simulation" hinein?
Was meinst Du mit "Simulation"? - Ich glaube, das ist noch so ein Begriff, bei dem Du etwas anderes verstehst, als gängige Bedeutung ist.
Bei einem Brettspiel kommt niemand auf die Idee, ein Monster bequatschen zu wollen.
Doch. "Death Maze" - Vorläufer von Munchkin und anderen Derivaten. Man konnte da ganz selbstverständlich die "Parlay"-Option nutzen, so wie es ja auch in der "Vorlage" D&D immer möglich war mit den Monstern zu reden. - Und wenn man sich die alten, mit mieser Graphik ausgestatteten D&D-Computerspiele anschaut (Pool of Radiance, Hillsfar, etc.), dann gab es dort IMMER auch die vorgesehene Laberoption.
Bei Brettspielen oder Computerspielen IST also schon lange jemand auf die Idee gekommen ein Monster belabern zu wollen. Und hat dafür Regeln vorgesehen, die im Brettspiel abgedruckt und mit Spielwerten versehen wurden, bzw. die ins Computerrollenspiel hineinprogrammiert wurden.
Klar gibt es bestimmt Handlungen, die noch in keinem leicht bekannten Brettspiel vorkommen, die aber im Rollenspiel möglich wären. Nur sollte man so etwas nicht derart GENERELL formulieren.
Je nach Fokus des Brettspiels ist das ja vielleicht GENAU eine der diesen Fokus unterstützenden Handlungsmöglichkeiten. Und je nach Rollenspiel ist das "Reden mit dem Essen" eben auch einmal KEINE Handlungsmöglichkeit.
Das kommt eben darauf an.
Um mit diesem Erfindungsreichtum und der Phantasie der Spieler zurechtzukommen, ist die Anpassung der vorgegebenen Regeln an die Gruppenbelange sinnvoll.
NIcht nur der "Erfindungsreichtum" und die "Phantasie" der Spieler lassen eine Regelanpassung sinnvoll erscheinen. Auch die Qualität der Originalregeln - wie viele Rollenspiele gibt es denn, wo praktisch JEDE Gruppe ihren eigenen Satz Hausregeln BRAUCHT, um sie überhaupt spielen zu können - ist hier ein sinnvoller Grund. Und natürlich der WILLE der Spieler: wollen sie es härter haben, z.B. Deadlands: die Gruppe will, daß IMMER ein Schwarzer Chip in den Pot aufgenommen wird, nicht nur, wenn sie die Situation verschlimmert haben ? Bitteschön! Hausregel: Es kommt immer mindestens ein Schwarzer Chip in den Pot mit den Fate-Chips. - Fertig.
Hatte aber weniger mit Erfindungsreichtum oder Phantasie zu tun, als damit, daß die Spieler noch HÄRTERE Herausforderungen WOLLEN.
Sie erlaubt es Spielern und Spielleiter das System an die Simulation anzupassen, sei es über Hausregeln oder über Improvisation.
"Das System an die Simulation anzupassen" - Das erkläre doch bitte mal.
Was Du mit Simulation meinst, wirkt auf mich irgendwie wie das böse R-Wort und da hätte ich doch gerne Klarheit mit Deinen eigenen Worten.
Und zur Improvisation: man kann Hausregeln auch Improvisieren, vorausgesetzt sie finden im Moment vor ihrer Anwendung Eingang in den Hausregelbestand (so daß sie KONSISTENT WEITER ANGEWANDT werden können).
Reine Ad Hoc Ex-und-hopp-Regeln sind problematisch, weil man nie weiß, ob nicht eine entsprechende Situation demnächst nocheinmal auftauchen wird, und dann hätte man diese ja als Spieler gerne analog (und konsistent) geregelt gesehen.
Ein Regelwerk, welches einem Spielleiter KLARE Bausteine zur Anpassung an seine Gruppe bietet, das liefert auch für die Improvisation klare und PASSENDE Bausteine. - Regelwerke, bei denen der Regelkern in seiner Funktion nicht klar verständlich erscheint, stellen dem Spielleiter eine unnötige Erschwernis bei der Improvisation dar.
Auch die Häufigkeit der Notwendigkeit zu Improvisieren stellt einen Hinweis auf Regelungsbedarf dar. Kommt es ständig zu analogen Situationen, so ist - allein aus Fairnessgründen - eine konsistente Hausregel besser, als wegen derselben Sache jedesmal anders zu verfahren.
Was also für mich nur Regeln zu verwenden, die in KEINER Weise an die jeweilige Spielgruppe angepaßt sind?
und Abenteuerspiel für unpassend gestaltet, ist die Tatsache, daß ich als Ziel Rollenspiel verfolge.
Ich möchte ja das Thema ARS ausklammern. Wenn ich dann den Satz unter Ersetzung von RAW durch "nur Regeln zu verwenden, die in KEINER Weise an die jeweilige Spielgruppe angepaßt sind" anschaue, dann macht dieser wenig Sinn.
Du hast als Ziel Rollenspiel zu spielen.
Du magst es nicht, unangepaßte Regelwerke zu verwenden.
Du stellst es so dar, als würde das Nicht-Anpassen von Regelwerken, das Spielen von Rollenspielen behindern.
Das ist aber natürlich wieder eine Frage des KONKRETEN Rollenspielregelwerks, welches zum Einsatz kommen soll.
Bei Risus, welches man jederzeit AS WRITTEN spielen kann, besteht meist keinerlei Notwendigkeit nach einer Anpassung der Regeln, da die Regeln auf dem beabsichtigten Detail-Level durchaus komplett sind.
Wo ist da das Hindernis genau nach den schriftlich abgefaßten Risus-Regel Rollenspiel spielen zu wollen?
Edit: Man kann übrigens behaupten, daß man für das Darstellen eines Charakters gar keine Regeln, gar kein System benötigt. Auch dem stimme ich zu. Allerdings sorgt ein System für etwas, was für ein Gruppenspiel, wie es Rollenspiel nun mal ist, absolut essentiell ist: Chancengleichheit!
Nein, einen Charakter können Schauspieler, können Psycho-Trainer für die Beschwerdenhotline, können Trainer bei Consulting-Ausbildungen auch ohne jegliches Regelwerk darstellen.
Der Unterschied ist nur der, daß diese Leute nicht zum Zwecke gemeinsamer Freizeitgestaltung (Rollenspiel als Hobby) miteinander spielen wollen, sondern zu Unterrichtsszwecken (Psycho-Schulung) oder zum darstellerischen Selbstzweck (beim Theater).
Charaktere kann man immer und überall darstellen.
Charaktere im gemeinsamen, fairen Spielen miteinander darzustellen braucht den Rückhalt von gemeinsamen, fairen Regeln für ALLE SPIELENDEN (die, mit der Rolle "Spieler" und die mit der Rolle "Spielleiter").