Cubicle 7
Victoriana ist ein viktorianisch anmutendes Fantasy-Rollenspiel, dessen zweite Edition im Jahre 2007 bei Cubicle 7 Entertainment, den Herausgebern von SLA Industries, erschienen ist. Wo die erste Edition noch auf der Fuzion-Regelengine basierte, verwendet die zweite die so genannte Heresy Engine.
Der erste Eindruck des Buches ist schon mal ein guter: Einband in Lederoptik, und stolze 388 Seiten dick. Auch ein erstes Durchblättern vermag zu überzeugen: Die Illustrationen sind größtenteils gut bis sehr gut (leider gibt es ein paar Totalausfälle, wie die Beispielcharaktere), besonders die Kapitelopener im Holzstich-Stil machen Laune. Besonders das Layout muss ich allerdings loben: Es sieht gut aus, ohne dabei unübersichtlich zu werden – der Text ist weiß unterlegt, die coole Optik spielt sich auf dem Seitenrand ab. Wunderbar, weil man es lange lesen kann, ohne Kopfschmerzen zu bekommen.
Doch was nützt die ganze schöne Optik, wenn der Inhalt nicht stimmt? Wenden wir uns dem eigentlichen Spiel zu. Bei meiner Recherche über das Spiel habe ich oft gelesen, dass Victoriana als eine Art viktorianisches Shadowrun bezeichnet wurde. Ob zurecht oder nicht, dass wird die Rezension zeigen.
Inhaltlich ist Victoriana in drei große Oberkapitel gegliedert.
Kapitel 1, die „Encyclopaedia Victoriana“ ist eine Beschreibung der Spielwelt von Victoriana. Das Jahr ist 1867, und tatsächlich ähnelt die Welt sehr stark unserer Welt – nur dass die Magie in die Welt zurückgekehrt ist, und es nichtmenschliche Rassen gibt. Die Spieler übernehmen normalerweise die Rolle so genannter „Gutter Runner“, Söldner, die am Rande der Gesellschaft stehen und verschiedene Aufträge ausführen. Klingt bekannt? Ja, das tut es wohl. Aber tatsächlich ist der Ansatz recht clever, weil er zwei Probleme löst. Zum einen ist es in Ordnung, wenn die Charaktere ein bisschen aus der Gesellschaft rausfallen (was unvermeidlich ist, da sie nun mal Spieler aus dem 21. Jahrhundert im Hintergrund haben), zum anderen liefert es den Charakteren Motivation, in Abenteuer gezogen zu werden. Mit anderen Worten: Ja, Victoriana ist eine Art viktorianisches Shadowrun. Aber es funktioniert, daher macht es nichts.
Das erste Oberkapitel ist schlichtweg hervorragend. Die viktorianische Gesellschaft wird sehr genau und stimmig beschrieben. Ein besonderer Schwerpunkt wird hierbei auf das Klassensystem gelegt, mit genauen Beschreibungen der Ober-, Mittel- und Unterschicht, und der Art, wie sie Welt sehen. Der Abschnitt ist sehr plastisch, und vor allem sehr gut nutzbar – man kann sich gut in ein Mitglied der entsprechenden Schicht hineinversetzen, und versteht auch gleich die Dynamik, die diese Gesellschaftsform hervorruft. Andere wichtige (und interessant geschilderte) Elemente, die hier beschrieben werden, sind Bildung und Kunst, die Rollen der Geschlechter, sowie verschiedene Bräuche (wie den Nachmittagstee) und Unterhaltungsmöglichkeiten (von Bordellen bis zu Ballett und Cinematographen).
Auch Politik darf in einer so umfassenden Beschreibung nicht fehlen. Tatsächlich macht das Spiel hier auch sehr gut deutlich, was es atmosphärisch will: Es geht hier nicht um gemütliches Stimmungsspiel, sondern um harte politische Realität und Umschwung. Das ist ein deutliches Potential des Spiels – die Welt steht an einem Scheidepunkt, und die Charaktere können wirklich mitmischen. Als beispielhafte revolutionäre Organisationen sind hier auch gleich Anarchisten, Chartists, Free Traders, Nationalists, New Scientists und Nihilists beschrieben. Eine Menge Konfliktpotential – tolle Sache!
Auch der Abschnitt zur Religion macht viel Spaß. Zum einen ist hier die Aluminat-Kirche beschrieben, die das Victoriana-Gegenstück zu den irdischen christlichen Kirchen darstellt und sich neben den üblichen Problemen auch noch mit der Problematik der Magie auseinandersetzen muss, der sie sich ehern entgegenstellt. Auch hier ist wieder spannendes Konfliktpotential angelegt. Die Aluminat-Kirche hat viele Heilige, die ein bisschen die Aufgaben von Göttern in einem polytheistischen Pantheon übernehmen. Aber natürlich gibt es in Victoriana noch andere Religionen -* das Kapitel deckt auch die Gegenstücke zu Islam, Judentum und Hinduismus ab, sowie den immer noch verbreiteten, heidnischen „Old Way“ sowie dämonische Kulte.
Ein weitere spannender Teil ist das Unterkapitel „Science and Steampower“, in dem die wissenschaftliche und technische Entwicklung beschrieben wird. Hier wird auch deutlich, dass Victoriana eigentlich kein Steampunk ist – Steampunk-Erfindungen sind zwar möglich und werden auch verwendet, doch sind sie extrem selten, und tatsächlich ist die Entwicklung ziemlich der unserer Welt im Jahre 1867 gleichzusetzen. Toll an diesem Abschnitt finde ich die Liste, die einem auf einen Blick zeigt, was es schon gibt und was noch nicht – besonders toll für Kampagnen, die über mehrere Jahre gehen, weil es noch ein paar Jahre in die Zukunft geht.
Abschluss des umfangreichen Teils ist „Europe and the rest of the world“, eine stimmungsvolle Beschreibung der ganzen Welt. Man merkt dem Spiel an, dass sich die Autoren wirklich mit der Geschichte auseinandergesetzt haben – die Welt ist plastisch, akkurat und läuft vor Atmosphäre geradezu über.
Die Spielwelt ist also schon mal sehr gelungen, was kann man nun zu den Regeln sagen?
Kapitel 2 nimmt sich der Regeln an, und man kann wahrlich nicht meckern. Die Heresy-Engine ist ein Poolsystem, das auf Attribut + Fertigkeit basiert, und W6 verwendet. Einsen und Sechsen stellen hierbei Erfolge dar, die Sechsen dürfen nochmal geworfen werden. Die Schwierigkeit wird von den so genannten Black Dice bestimmt, die gegen den Wurf des Charakters geworfen werden, und deren Erfolge Erfolge von denen des Charakters abziehen. Das ganze macht einen recht ordentlichen Eindruck. Natürlich gibt es das ganze übliche Zeug (vergleichende Würfe, erweiterte Würfe, Hinweise zum Wiederholen von Würfen), und mit Fate Pool und Scripting Dice ist auch eine geglückte Version der beliebten Schicksalspunkte vorhanden.
Das Spiel ist heroisch ausgelegt– die Charaktere sollen was reißen können, und das merkt auch man auch der Charaktererschaffung an. Der Spieler hat Zugriff auf einige Rassen (Menschen, Tiermenschen, Eldren, Zwerge, Halblinge, Gnome, Oger), die verschiedene Vor- und Nachteile und ausgewogene Attributsmodifikatoren bieten. Auch die Wahl der Klasse bestimmt verschiedene Aspekte der Charaktererschaffung, doch auch hier ist alles ausgewogen – ein Mitglied der Oberschicht hat mehr Geld und einen besseren sozialen Stand, dafür sind Mitglieder der Unterschicht zäher und abgebrühter. Sehr schön!
Attributswerte reichen von -3 bis +9, es gibt sechs Attribute (Stärke, Geschicklichkeit, Zähigkeit, Präsenz, Verstand, Entschlossenheit ). Menschlicher Durchschnitt ist 0, wobei die Charaktere in allen Attributen mit +1 beginnen. Dieser Wert wird noch von der Rasse modifiziert, und dann kann man noch 3 Punkte verteilen.
50 weitere Punkte können dann auf Fertigkeiten, Talente, Assets, Privilegien und Kontakte je nach Schicht verteilt werden. Die Auswahl der Eigenschaften ist hier passend und stimmungsvoll, auch wenn mir die Anzahl der Fertigkeiten deutlich zu hoch ist (25 Basisfertigkeiten und nochmal über 50 Spezialfertigkeiten). Abgefedert wird das allerdings durch praktische Professionen, die Fertigkeitenpakete darstellen (vom Buchhalter bis zur Prostituierten ist hier alles vorhanden). Nachteile gibt es auch, wobei die nicht unterschiedlich gewertet sind. Man kann maximal drei Stück nehmen, für den ersten gibt es 5, für den zweiten 3, für den dritten 2 Punkte.
Die Steigerung wird hier über Ranks gelenkt, die die Maximalwerte für Attribute und Fertigkeiten festlegen und mit ausgegebenen Erfahrungspunkten steigen. Das hat den Vorteil, dass die Charakterentwicklung automatisch ein bisschen ausgewogen ausfallen wird. Abgeschlossen wird das Charaktererschaffungskapitel durch viele, viele Beispielcharaktere, die die Stimmung des Spiels nochmal deutlicher machen, aber leider echt hässlich illustriert sind.
Das Kampfsystem ist straff und übersichtlich. Ein Initiativewurf pro Runde, der Nahkampf wird durch einen vergleichenden Wurf abgewickelt, mit verschiedenen Modifikatoren, die das ganze taktischer werden lassen. Es gibt Bewegungsregeln, das ganze ließe sich also auch mit Karte spielen, notwendig* ist es aber sicher nicht. Sehr interessant finde ich, dass der Kämpfer, der eine niedrigere Initiative erreicht, deutliche Abzüge auf den Kampf-Wurf bekommt – schnell sein lohnt sich hier wirklich. Das Schadenssystem ist praktikabel und rechnet auch die Trefferqualität ein, der Fernkampf basiert einfach auf einem einfachen Wurf, dessen Schwierigkeit von der Entfernung abhängt – spannend ist hierbei, dass Gewehre auf kurze Reichweite weniger effizient sind als auf mittlere. Das kenne ich so aus keinem Rollenspielsystem und finde es echt geglückt.
Den Abschluss des Regelkapitels stellt der Teil „Dramatische Systeme“ dar, der die üblichen anderen Bedrohungen der Spielwelt darstellt. Stürze, Feuer, Gifte, Krankheiten, all das wird hier praktikabel abgehandelt, es fehlt eigentlich nichts. Ergänzt wird das ganze durch ein schnuckliges Reputations-System, mit dem man bestimmen kann, ob die Charaktere erkannt werden oder nicht. Das Ausrüstungskapitel ist sehr umfassend, und dabei ausgesprochen stimmungsvoll. Auch hier wurde alles richtig gemacht.
Das letzte große Kapitel ist das Spielleiterkapitel, und auch hier vermag Victoriana zu überzeugen. Neben allgemeinen (und sehr brauchbaren) Spielleitertipps findet man hier Beschreibungen verschiedener Spielstile (von Grim Reality bis Golden Age of Empire) und Kampagnentypen (beispielsweise Long live the Revolution und The Consulting Detective), die einem einen guten Überblick darüber geben, wie eine Victoriana-Kampagne aussehen kann. Man muss also nicht rätseln, welche Art von Spiel hier möglich ist – feine Sache. Nicht fehlen dürfen hier weitere Informationen zur Klassengesellschaft und dem metaphysischen Überbau der Welt.
Es folgen einige archetypische Szenen und Kampfschauplätze, beispielsweise eine Großküche und eine Bar, mit möglichen Regelvarianten und anderen Sachen die man bedenken muss. Diese Liste finde ich schlichtweg hervorragend, weil sie sehr tolle Inspirationen bietet, und einem zeigt, wie man die Umwelt spannend in einem Kampf einsetzen kann. Abgerundet wird der Abschnitt mit den zehn „wirklichen“ Regeln (eigentlich nur allgemeine Fairnesshinweise, aber bemerkenswert finde ich hier, dass nicht zum Schummeln aufgefordert wird – Regeländerungen sollen unbedingt mit der ganzen Gruppe besprochen werden!) und Tipps zum Umgang mit Problemspielern. Es folgen noch Beispielcharaktere und Bestiarium (beides sehr gut und mit dem Gedanken der Spielbarkeit konzipiert), sowie ein Beispielabenteuer (hier Penny Dreadful genannt, was ich unverschämt cool finde) namens „Spiritual Matters“
Abschließend lässt sich sagen, dass Victoriana mich wirklich überzeugt. Das Setting ist stimmungsvoll und bietet Unmengen von Konfliktpotential, die Regeln sind absolut brauchbar, und das Spielleiterkapitel ist eine echte Perle. Die kleineren Kritikpunkte wie die zu große Fertigkeitenliste und die teils nicht so geglückten Illustrationen können den durchweg positiven Gesamteindruck nicht mindern. Wenn ihr also dem Konzept des „viktorianischen Shadowruns“ auch nur ein bisschen was abgewinnen könnt, dann solltet ihr hier unbedingt einen Blick riskieren!
Titel: Victoriana 2.Ed
Art: Grundregelwerk
Regeln: Heresy-Engine
Sprache: Englisch
Verlag: Cubicle7
Publikationsjahr: 2008
Autor (en): Kristian Bjorkelo, Andrew Peregrine, Scott Rhymer, Ian Sturrock, John Tuckey
Umfang: 388
Bindung:*.pdf
Preis: $30.00
Rezensent: Daniel Mayer
Links:
Copyright © 2008
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