Aber würde man das einem Bücherleser auch vorwerfen?
(Mein Nachbar liest immer schwedische Krimis mit kranken, widerlichen Verbrechen. Und die Dinger haben nichtmals nen FSK-Schild drauf.)
Das ist nur nicht sichtbar und nimmt den Umweg über eine Symbolsprache in die Sinne. Ist quasi verschlüsselt und nicht offensichtlich.
Hast du darin einen Vorwurf gelesen? Zumindest nicht von meiner Seite. Ich gehe nur davon aus und halte es auch für realistisch, dass ein Mensch in gewisser Weise "desensibilisiert" oder einfach auch "überladen" ist, wenn er sich zusätzlich zu sozialier Isolation, vielleicht familiären oder anderen psychischen Problemen quasi non-stop torture-porn oder andere, extrem brualte Horrorfilme reinzieht. Dazu vielleicht noch ausschließlich Grindcore auf die Ohren. Das ist ein Effekt der Reizüberflutung, den du durch das Lesen "seltsamer Literatur" denke ich nicht bekommst.
Ich weiß nicht, wie es dir geht, ich hab sowas schon erlebt: nach einem Walking Dead Marathon, in dem ich quasi die ersten zwei Staffeln in knapp anderthalb Nächten verschlungen hatte, waren meine Nerven blank. Wenn ich die Augen geschlossen hab, hab ich Zombies gesehen und die Geräusche aus der Serie gehört, geträumt habe ich ohnehin ausschließlich davon. Das hat sich erst nach ein, zwei Tagen wirklich gelegt. Ich hatte sowas auch mal nach einer Hardcore-Lan-Session, wo ich immer, wenn ich die Augen geschlossen hab, die bunten Lichter und Farben von Warcraft 3 oder Starcraft gesehen und in meinen Träumen Basen gebaut habe. Ich schätze, so ergeht das auch Menschen, die WoW-süchtig sind .. nur halt länger und intensiver.
Die Rezeption von Fiktion ist real, auch wenn Selbige es nicht ist. Überflute ich mein Hirn mit Bildern von Grausamkeit, Schmerz und Leid kann es durchaus passieren, dass ich mich desensibilisiere. Ich habe bei vielen auch das Gefühl, dass das Erlebnis der Abstumpfung absolut gewollt ist. Das geht also durchaus.
Natürlich bleibt die Frage offen, wie diese Abstumpfung auf die Realität zu übertragen ist. Wie reagiert der Kerl, der sich (Achtung, Klischee! - wobei ich solche Freunde durchaus hatte) jeden Tag im dunklen Kellerzimmer die brutalsten Horrorstreifen reinzieht auf einen Verkehrsunfall mit extermer, visueller Erfahrung? Wie reagiert Jemand, der prinzipiell wenig auch mit fiktiver Gewalt konfrontiert wird?
Wie gesagt, ich denke es gibt so etwas wie eine Desensibilisierung und Radikalisierung des Hirns durch extremen Konsum. Das muss aber nicht mal auf regelmäßigen Konsum zutreffen. Ein guter Kumpel von mir ist langjähriger Splatter- und Horrorfan, als er beim Zivi-Einsatz (Notarzt) das Gehirn eines Autofahrers von der Frontscheibe seines Wagens kratzen musste lief er trotzdem ein paar Tage mit kreidebleicher Miene und eindeutig traumatisiert rum, wie es wahrscheinlich Jedem ergangen wäre.
Es ist eben, wie Jack richtig gesagt hat, nur ein Faktor - der auch nur eine Rolle spielt, wenn die wirklich wichtigen Probleme ebenfalls zusammenkommen. Deswegen kann ich schon verstehen, wenn man sagt "dann doch lieber erstmal über die sozialen Probleme und die Verantwortung der Gesellschaft reden, bevor wir wieder auf diese Scheindiskussion einsteigen und denen in die Hände spielen, die einen Sündenbock draus machen wollen" - ist absolut richtig. Und wahrscheilich auch sinnvoller, als in der aufgeladenen Stimmung zu versuchen, das Thema auf andere Weise zu ergründen.
Ich glaube nicht, dass der Rückschluss funktioniert. Wenn Jemand Horrorfilme mag oder "komische Bücher" liest, sagt das noch nichts über ihn oder eine potentielle Bedrohung oder Gefahr aus, die von ihm ausgeht. Gibt auch genug Pazifisten, die Kriegsfilme mögen (kenn da selbst ein paar). In vielerlei Hinsicht ist Fiktion ein Spielfeld, in dem vieles geht, was in der Realität eben nicht geht. Deswegen ist es auch in meinen Augen nicht bedenklich, wenn Jemand bei GTA Amok läuft und ein paar Dutzend Figürchen mit seinem Pixelauto überfährt, die lustig schreiend durch die Gegend fliegen, nur um dann selbst aus der Frontschreibe zu segeln, wenn man frontal gegen die Leitpanke donnert, was dann meistens noch am Lustigsten ist. Selbst der Vertreter der "Videospiele sind was für männliche Kids und außerdem sind sie ja doof"-Fraktion Conan O'Brien macht bei seiner Clueless Gamer GTA V Aktion nichts anderes. Weils lustig ist. Weils ein Sandkasten ist. Und weil die Folgen der Gewalt nicht annähernd realistisch dargestellt sind.
Keine Ahnung wie viele Leute noch freiwillig bei GTA in eine Menschenmenge fahren würden, wenn das danach tatsächlich so aussähe, wie in der Realität. Ich glaube das macht man dann einmal und hält sich von da an möglichst genau an die Verkehrsregeln. Das ist auch der Grund, warum Menschen in Filmen und Videospielen immer relativ unrealistisch auf Schusswunden reagieren, ein paar Meter zurückfliegen usw. - das liegt daran, dass der tatsächliche Impact einer Schusswunde durch seine augenscheinliche Trivialität unglaublich verstörend sein kann.