AW: Krankenschwester vom Dienst
Anna schuldete ihr warten an der Tür Judiths Zustand. Das Kücken hatte kein Recht darauf so behandelt zu werden, allerdings hatte sie es immer gehasst, wenn ihr Sire mit nur einem flüchtigen Klopfen in ihr Zimmer gekommen war. Zum Glück hat er sich nur extrem selten die Mühe gemacht zu ihr zu kommen. In der Regel war es immer umgekehrt gewesen. Im Gegensatz zu der Vermutung der Regentin sie könne Judith nicht leiden, hatte sich Anna bisher keine persönliche Meinung über sie gebildet. Gut, sie schien sich einiges mehr zu trauen, als sich aus ihrer Sicht für ein Kücken oder eine Ghulin ziemte, aber sie hatte ja selbst schon den sanfteren Führungsstil dieses Hauses erlebt und konnte es sich so erklären. Zusätzlich war sie ein Ghul, den der Lord recht gern hatte oder an dem ihm zu mindest etwas lag. Sonst hätte er nicht dieses Ritual mit ihr durchgeführt. Auch der Tod von Mertin belastete Judiths Konto bei Anna nur gering negativ. Zum einen hatte sie Mertin dafür dann doch zu wenig gekannt und zum anderen gereicht auch da ihr Zustand Judith zum Vorteil - sozusagen mildernde Umstände. Anna war heilfroh, in dieser Angelegenheit kein Urteil fällen zu müssen.
Zugegebener Maßen hätte Anna es allerdings auch nicht akzeptiert, wenn das Kücken sich nicht berappelt hätte. Zur Zeit hatte sie einfach kein Recht einen höher rangigen ihres Clans nicht in ihr Zimmer zu lassen.
So öffnete sie die Tür und erfasste mit einem Blick Judith auf dem Bett, der überhaupt nichts verriet. Er war nicht freundlich, nicht mißmutig. In seiner neutralen Art konnte man ihn wohl am ehesten noch als gleichgültig bezeichnen, wenn man ihm denn eine Emotion zu ordnen wollte. Es war ganz einfach ihre normale, alltägliche Mimik, die ihr zu sehr in Fleisch und Blut über gegangen war.
"Guten Abend, Judith.", erklang dann auch ihre Stimme, an der genau so wenig heraus zu lesen war, ruhig und klar, weder warm noch kalt. "Ich möchte sehen, wie es ihnen geht und ob sie etwas benötigen. Die Regentin hat im Moment keine Zeit, sich persönlich um sie zu kümmern." Das 'leider', was man in so einem Satz vermuten konnte, fehlte. Für Anna war es selbst in Friedenszeiten eine Selbstverständlichkeit, das die Regentin durchaus wichtigeres zu tun hatte, als sich persönlich um ein verletztes Kücken zu kümmern. Obwohl sie entspannt wirkte - na ja, so entspannt,wie man sich einen normalen Tremere vorstellte, also kerzengrade in der Haltung, die Hände ruhig, aber scheinbar locker an den Seiten aber ohne jede überflüssige Bewegung - war sie auf hab acht. Sie wusste sehr gut, was dem letzten Kainiten widerfahren war, der ihr unbedacht begegnet war und wollte sein Schicksal ganz sicher nicht teilen. Zwar hatte Judith wahrscheinlich schon gegessen, aber genau wusste sie es nicht. Sie hatte es versäumt, die Ghulin danach zu fragen, weil sie einfach davon ausging.