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Szene: Erwachen
Langsam beginnen die Augenlider zu zucken. Wie von Kleister gehalten scheinen sie mir heute, öffnen sich nur widerwillig. Hell.
Noch bevor das malträtierte Hirn überhaupt den gleißenden Einschlag des Lichtes auf der Netzhaut verarbeite, zuckt das Auge bereits wieder zu.
Noch ein Versuch.
Diesmal vorsichtig, wissend. Trotzdem entrinnt der trockenen, ausgedorrten Kehle ein schmerzhaftes Grunzen. Die Sehnerven schreien malträtiert auf. Langsam, fast schon verschämt wird der Blick schärfer. Verliert sich in der Skyline aus leeren Bierflaschen auf dem Tisch, die um meinen Kopf herum drapiert sind.
Der Kopf ruckt von der Tischplatte, verknotete Muskeln im Rücken straffen sich, schwankend richtet sich der Oberkörper auf. Sicherheitshalber auf dem Tisch abstützen. Ein Bierkäpselchen, auf dem mein Kopf die Nacht über lag, löst sich von der Wange, tanzt trällernd, spöttisch, hämisch klimpernd über den Boden.
Nur langsam realisiert mein blutunterlaufener Blick die Szene. „Muss ja eine riesen Feier gewesen sein“, schießt es mir durch den Kopf. Eine leise, verträumte Glocke beginnt in meinem Unterbewusstsein zu klimpern, aufdringlich... um Aufmerksamkeit heischend. Unbemerkt.
Dann zuckt der Blick plötzlich auf den mit klebrigen Bierflecken verunstalteten Computerausdruck. Die Erkenntnis ist grausam...
Wieder schweift der Blick über die geleerten Flaschen. Eine schadenfrohe Stimme zählt in Gedanken laut mit... ein leicht fehl am Platz wirkender Teil meines Unterbewusstseins ist – typisch männlich! - stolz auf die Menge des vernichteten Alkohols. „Nicht schlecht, so ganz alleine...“ flüstert er mir zu...
Endlich werde ich mir auch wieder der Erinnerung bewusst, auf die mich das schrille Klimpern der gedanklichen Glocke vorhin so penetrant hinweisen wollte.
Mit zitternden Fingern greife ich nach dem versifften Blatt. Einige Buchstaben sind verschwommen, doch alles in allem ist der Text noch gut lesbar. Mit unbewegter Miene überfliege ich ihn, die Worte, die mir am Abend zuvor so flüssig, unter so viel heißen Tränen aus den Fingern durch die Tastatur in den PC geflossen sind, scheinen mich nicht einmal mehr zu berühren.
Und doch hatten sie sich in meine Seele gebrannt, bevor ich sie auf dieses wertlose Stück Papier gebannt hatte, mit einem simplen Mausklick auf den „Drucken“-Button.
Wie lange hatte ich gebraucht, um mir bewusst zu werden, dass das mit uns nichts werden wird, werden kann ?
Eine Woche? Einen Tag? Ein Wort einer guten Freundin?
Der Kopfschmerz setzt ein, etwas vier Zentimeter innerhalb des rechten Auges... wie die Kriegstrommeln eines kleinen, verrückt gewordenen Moria-Orks in meinem Schädel.
Mein Rücken fühlt sich an, als hätte jemand stundenlang, geduldig hineingetreten, die Schultern....
Ein schriller Schmerz durchschießt meine Ohren, die Klingel an der Haustür schreit ihren Protest über mein verspätetes Aufwachen hinaus. Benommen, torkelnd, stolpere ich zur Türe. Als ich sie öffne, stehst du vor mir, mit verheulten Augen, verlaufener Schminke, wirfst dich mir in die Arme, küsst mich auf den Mund und...
Kaltes Glas berührt meine Lippen. Die Augen blinzeln, scheinen mit Kleister verleimt zu sein. Als sich der Blick erhellt, werde ich mir der Skyline der um meinen Kopf drapierten, leeren Bierflaschen bewusst, die neben diesem auf der Tischplatte stehen...