AW: D&D ist scheisse weil...
xorn schrieb:
Lass deine Spieler mal einen Gegner treffen der nach der Mondsichel greift, selbige vom Himmel reisst und den Krieger der Gruppe damit gegenübertritt als wäre es ein Krummsäbel.
Dann wird das auf Glorantha und nach dem Spielsystem HeroQuest/HeroWars sein. Da ist solch ein hohes Kompetenzniveau der Charaktere und "earth shattering magic" eine Voraussetzung um echte Heldenepen erzählen zu können.
Aber: Gerade die hochstufigen D&D-Charaktere, ja selbst wenn sie Hundert Meter weit springen oder über einen Festungswall hopsen können, gehören eben nicht in die traurigen low-powered Fantasy-Jammertäler, die manche "Realismus"-Fanatiker so gerne zelebrieren. Diese Überhelden gehören in die Geschichten, wo ALLE Helden und ihre Gegner ordentlich was reißen können müssen. Da ist es zu erwarten, daß einer seinen Speer wirft, draufspringt und auf ihm in die Schlacht fliegt. - Kein Grund die Realismus-Polizei auf den Plan zu rufen.
Das einzige, was ich an D&D in seiner neuesten Ausprägung (3.5) nicht gut finde, ist, daß es gegenüber dem einfachen aber coolen D&D von 1979, mit dem ich damals angefangen hatte, viel zu kompliziert, zu regeltechnisch aufgeblasen wurde. Einfacher, schneller, beherrschbarer will ich es haben.
Das ist der Grund, warum wir zwar jede Menge D&D-Material kaufen und spielend verwenden, aber nicht nach dem D20-System, sondern nach einem anderen, schnelleren, einfacheren System, daß uns alten Säcken das gute "old school" Spielgefühl von D&D wieder zurück gibt, aber ohne die viele Kalorien, ohne das Fett, ohne das Nikotin. - Der volle D&D-Geschmack, aber keine Kopfschmerzen.
D&D ist nämlich mehr als nur das D20-Fantasy-Regelsystem. D&D ist eine Art Fantasy-Rollenspiele zu spielen, eine Art Fantasy-Welten darzubieten, eine Art Szenarien zu schreiben. Ich finde es schwer zu beschreiben, was das Besondere an D&D ist.
Die meisten Kritiker zerreißen sich über das Regelsystem von D&D. D&D hat aber mit dem Basic-D&D (und Expert, Master, etc.)-Set ein gewisses, gut funktionierendes Regelsystem - auch als Minimalsystem mit klarem Fokus auf bestimmte Spielweisen herbeizutheoretisieren - gehabt, welches jahrelang das in sich konsistenteste D&D war, welches zu erwerben war.
Der große (aufgeblähte) Nachfolger "für mehr Details" war AD&D (wobei AD&D und D&D zeitgleich nebeneinander bis zu AD&D 2nd Ed. existierten). Das war für lange Zeit das inkonsistenteste Rollenspiel der Welt, welches TROTZDEM eine enorme Anhängerschar hatte.
Auch die spätere Überarbeitung zur 2nd Ed. mit der halbherzigen Einführung von Skills als "non-weapon proficiencies" war nicht wesentlich besser organisiert.
Aber wen scherte es?
Mit Welten wie Athas, Krynn, Mystara, mit so coolen Settings wie Planescape mit Spelljammer, Ravenloft etc. Da gab es eine solche Fülle an richtig interessantem Material, daß man sich in und mit (A)D&D zuhause fühlen konnte.
Das D20-System stellte das Chaos der alten Regelungen auf eine in sich wesentlich konsistentere Basis als sie je für ein D&D genanntes Rollenspiel verfügbar war. (Obschon zu AD&D-Zeiten mit zum eigenständigen Rollenspiel aufgeblasenen Hausregeln und Regelergänzungen für AD&D wie Rolemaster schon andere Fantasy-Systeme existierten, die ein in sich geschlosseneres Regelwerk aufwiesen. Doch waren das geschmacksneutrale Fadheiten, die sich nur auf ihr Regelwerk verließen, und dafür jegliche Stimmung, jegliche Begeisterung auslösende Phantasie vermissen ließen. Ganz so wie die ja viel besseren Nicht-Brettspiele mancher D&D-Kritiker hier in diesem Thread.)
Das D20-System hat eine Gratwanderung als Aufgabe gehabt: einerseits die alten D&D-Fans bei der Stange zu halten, andererseits zu Fans vorzudringen, die heute auf ein breiteres Angebot als in den 1970ern an Rollenspiel-Konkurrenzprodukten zugreifen können, zu zeigen, wie man gute Rollenspielprodukte macht. Und nebenbei sollte mit der OGL auch noch ein kontrollierter Anreiz für Dritthersteller geschaffen werden ihre Produkte auch kompatibel zu halten.
Auch schon damals Anfang der 1980er gab es mit Judges Guild und anderen Verlagen bereits Hersteller, die D&D bzw. AD&D Supplements, Abenteuer etc. hergestellt hatten. Aber wenige. - Damals gab es lauter halbprofessionelle gerade-eben-nicht-mehr Heartbreaker und es fand ein enormer Shake-out auf dem Bereich der Fantasy-Rollenspiele statt.
Und D&D hat diesen Shake-Out überlebt.
Warum wohl?
Weil alle Käufer von D&D doof sind und die Doofen halt nicht auszurotten sind und deshalb auch heute noch D&D kaufen anstatt das nächste coole 600-Seiten-Crunch-Krampf-Regelwerk-ohne-Seele-aber-mit-Realismus(tm)?
Wohl kaum.
D&D weiß auch heute noch zu begeistern.
Auch mich.
Obwohl ich nicht vom D20-System so begeistert bin (ja, es gibt auch ein paar gute D20-Adaptionen, aber eher nicht im D&D-typischen Fantasy-Sektor, sondern in Randgebieten zur Fantasy Iron Kingdoms, Spellslinger oder als ganz anders orientierte Richtungen nach D20 Modern, D20 Future etc.).
Und jetzt kommt das Beste: WotC stellen haufenweise kostenlos(!) uraltes D&D und AD&D Material zum Download zur Verfügung. Da kommen solche Schätze wie alte Ravenloft-Szenarien, uralte Abenteuer und Welt/Regionsbeschreibungen vor. Aber auch neue kostenlose D20-Abenteuer etc. - Da greife ich gerne zu, da in der großen Autorenschar, die über 30 Jahre D&D hervorgebracht hat, eben NICHT nur Nieten, sondern auch richtig gute Autoren mitwirken, die Ideen haben, die sie unabhängig vom gerade in D&D aktuellen Regelsystem-Crunch umsetzen können.
Ich klaube mir diese Perlen aus dem Internet-Misthaufen und setze sie mit meinen Spielern nach und nach in neue, schöne Schmuckstücke an Szenarien, Kampagnen um.
Da D&D für mich und meine Runzelrunde an Rollenspielopas immer noch etwas von dem Feuer auslöst, welches in mir die Liebe zum Rollenspiel zu Schulzeiten (lang ist's her) entfacht hat, ist mir D&D in allen seinen Ausprägungen immer ein ständiger Begleiter gewesen. Klar, wir haben auch parallel lange Jahre Midgard, RuneQuest, Traveller etc. gespielt. Doch zu (A)D&D haben wir immer zurückgefunden. Und jetzt noch viel mehr, wo wir ein Regelsystem verwenden, welches das D&D-Spielgefühl auch für zeitbehinderte Lohnsklaven jenseits der Midlife-Crisis bietet. Vor ca. 2 Jahren hatte ich angefangen, die "Band" wieder zusammenzubringen. Das sind die Leute, mit denen wir seit 1983 an der Uni gespielt haben, und die noch in der groben Region verblieben sind. Immerhin waren das noch 5 von damals insgesamt über 10 Leuten in unseren AD&D-Runden. Das sind alles alte Säcke(Innen
). Alle haben weniger Zeit und mehr Jobstreß als früher. Alle scheißen auf Regelsysteme, die zum Erlernen mehrere Semester Sabbaticals brauchen. Alle wollen schnell losspielen und was erleben.
Das ist für mich D&D.
Und D&D ist ganz klar Scheiße.
So wie Negerküsse Scheiße für die Zähne und die sonstige Gesundheit sind.
Aber es macht halt Spaß, obwohl es scheiße ist. Denn im Spielen merkt man es nicht, sondern erlebt coole Spielabende mit seinen alten Kumpels, die sich immer noch (und sehr schnell persönlich sauer werdend) wegen magischer Gegenstände bzw. des Diebstahls derselben durch Spielercharaktere in die Haare kriegen können, die 1984 passiert sind.
Das finde ich einfach toll.
Das wollte ich hier mal bei der ganze Scheindiskussion über "D&D ist Scheiße" loswerden, da man sich hier ja auch ein wenig auskotzen können darf.
D&D ist für mich das zum Thema Rollenspiele, was Tempo für Papiertaschentücher oder Tesa für Klebebänder ist.