AW: [07.05.08] Krisensitzung
Niemand schenkte ihm übermäßig große Beachtung. Lurker war sich noch nicht einmal ganz sicher ob das an ihm lag und ob er unbewusst so stand und sich so verhielt, dass man ihn weitestgehend ausblendete, oder ob es einfach nur die alltägliche Ignoranz war, mit der man seinem Blut nunmal begegnete.
Kurz spürte er einen kleinen, heißen Stich aus Angst, als hätte man mit einer glühenden Nadelspitze in sein Herz gestochen. Es war ihm schon in der Vergangenheit zu einigen Gelegenheiten passiert, dass er plötzlich Panik bekommen hatte, weil er sich nicht mehr sicher war, ob er selber es war, der sich vor Anderen verbarg, oder ob es der Gebrauch seiner Clanskünste war, der ihn immer dünner, durchsichtiger und unwirklicher werden ließ. Er hatte mit jemand älterem darüber sprechen wollen. Jemand der ihn verstand und der ihm sagte, dass alles in Ordnung kommen würde. Nun gab es niemanden mehr. Seine Primogena hatte kapituliert und hatte beschlossen ihren Körper für einige Zeit dem Tod und ihren Verstand der verlockenden Leere zu überlassen. Vielleicht würde er eines Tages auch an diesen Punkt kommen, wer konnte es wissen? Noch war die Furcht vor dieser riesigen, unendlichen Leere zu groß, so dass er lieber in der rasenden Hektik der Nacht verblieb, aber eines Tages mochte er es als verlockend empfinden einfach einige Jahrzehnte Ruhe zu haben vor all diesem hier.
Der Kopf des Nosferatu ruckte wieder hoch. Er hatte das Bedürfnis zu blinzeln, doch sein Verstand holte ihn bereits wieder ein und er unterließ die menschliche Geste. Sie hätte ohnehin nichts genutzt. Trotzdem dauerte es tatsächlich einen Moment, bis sich sein Gesichtsfeld wieder klärte und er den Raum mit den Anwesenden wieder wahrnahm. Für einen kurzen Moment hörte sich jedes Schaben von Kleidung, jedes Tuscheln und jedes Abstellen eines Glases auf die Tische übermäßig laut an und dröhnte in seinen Ohren, so als hätte er bis gerade alles nur gedämpft wahrgenommen. Es war die Klarheit mit der er plötzlich alles um sich herum erfasste, die ihn wissen ließ, dass er für eine gewisse Zeit alles wie in Watte gepackt erlebt haben musste, ohne es vorher überhaupt bemerkt zu haben.
Irgendwie waren seine Gedanken weggeglitten. Kurz sprang sein Blick im Raum hin und her, besah sich die Anwesenden. Wie lange war er weggetreten? Hatte jemand etwas bemerkt? Zumindest machte es den Anschein, als wenn sich alle auf den Monitor konzentierten. Irgendwie war die Geißel dort plötzlich zu sehen. Die Räumlichkeit auf dem Bildschirm machte den Eindruck, als gehöre sie zu einer Art Keller.
Lurker kannte den jungen Mann der dort saß. Er war gestern Nacht in der Domäne der Verborgenen herum gestrolcht. Der Nosferatu war auf ihn aufmerksam geworden, als er mit Lilian Flynn gesprochen hatte. Eigentlich hatte er vorgehabt sich an die Fersen des Hünen zu heften um zu sehen wer der Kerl war, doch die Brujah war dann einfach hinab gegangen und hatte den Riesen gestellt. Für seinen Eindruck, hatte der Kerl dann eigentlich ganz manierlich reagiert und war tatsächlich mit der Flynn brav abgezogen um sich anzumelden. Lurker nahm an, dass dieser scheußlich aussehende Fremde wohl von einer Sabbat Zeugung übrig geblieben, oder zumindest von einem wildem Streuner wahllos in die Nacht geworfen geworden war. Jetzt war er also in die Mühlen der Camarilla geraten und die Geißel opferte ihn auf dem Altar der eisernen Faust, die sie hier demonstrieren wollte.
Für manchen endete die versprochene Ewigkeit ihres Fluches abrupt und schneller als man dachte. Stumm starrte der Nosferatu durch den Monitor in die toten Augen des Caitiffs. Mit einem schnellem Seitenblick zu Jenny, versicherte er sich, dass es ihr noch gut ging. Nicht auszudenken, wenn seine Tochter plötzlich als dämliche Machtdemonstration auf dem Richtbock geendet wäre. Schnell verbannte er auch diesen Gedanken. Er würde so etwas verhindern. Es blieb die Frage wessen Sohn der Fremde Caitiff wohl war, der dort gerade in dieser Sekunde seinen Kopf von den Schultern geschlagen bekam.
Es mochte Leute geben, die einen sauberen, schnellen Hieb als eine gute Sache empfanden. Irgendwie war sich der Nosferatu sicher, dass solche Schwätzer sich nie auf der falschen Seite der Richtaxt wiedergefunden hatten. Wenn sie es doch taten, war die Erkenntnis, dass sie vorher nur hohle Phrasen gedroschen hatten ebenso verspätet wie sinnlos. Nachdenklich richtete Lurker seinen Fokus nach Innen. So wie jemand mit der Zunge im Mund umher tastet um zu prüfen ob der faulige, entzündete Zahn noch da war und auch weiterhin weh tat, suchte er in seinem Innerem nach einem Gefühl. Er stellte zwei Dinge fest. Erstens, er empfand bedauern für das arme Schwein. Er hatte den Anderen nicht übermäßig gut gekannt, sicher, aber es war auch kein völlig unbekanntes Gesicht. Vor allen Dingen tat dem Nosferatu wohl leid, dass der Mann als hilfloses Baunernopfer für ein krankes System abgeschlachtet wurde.
Altehrwürdige Regeln der Camarilla...Blah Blah.
Es wollte sich keine echte Wut in ihm regen, aber ein erneuter Blick zu seiner Tochter, die sicherlich siedete vor Verwirrung und Ärger, ließ ihn an ihrem Zorn teilhaben. Wenn sie zu ihm hinüber sah, würde er ihr nur ein sanftes, niedergeschlagenes Kopfschütteln als Trost anbieten können. Es hatte keinen Sinn jetzt und hier etwas zu tun. Diesen Einen konnten sie nicht mehr retten und wenn sie nun gegen den Henker vorging, würde an diesem Tag nur ein weiterer Verfechter ihrer Sache vernichtet werden. Es musste einem nicht schmecken, aber große Ziele, verlangten große Opfer und manchmal musste man sich selbst, die eigene Seele und die eigenen Ideale opfern, damit andere ihre behalten konnten. Irgendwann.
Er hoffte, dass Stray klug genug war und all dies aus seiner bedrückt wirkenden Körperhaltung herauslesen würde. Wenn es jemand gab der Lurker dazu gut genug kannte, dann sie.
Das Zweite das er feststellte war eher persönlicher Natur. Er bemerkte, dass er sich selbst dabei beobachtete, wie er in seinem Innerem prüfte ob etwas vor sich ging. Es war seltsam abstrakt, wenn man eine Ebene in seinem Bewusstsein fand, die einen selbst nüchtern beobachtete. Schon oft hatte sein kühler, analytischer Teil in den merkwürdigsten Situationen ganz nüchtern reagiert und Dinge mitprotokolliert, die ihm dann später zur Verfügung standen. Dass dieser Teil mittlerweile ihn selbst ebenfalls nüchtern betrachtete und selbst dann kalt und berechnend wahrnahm, das dort so etwas wie ein Gefühl herrschen sollte, fühlte sich irgendwie bizarr losgelöst von sich selber an. Es ließ seine Emotion irgendwie indirekt wirken, so als hätte er sich selber nur erzählt was er empfand. Vielleicht war dies die Ebene in der sich ein psychopatischer Killer aufhielt, wenn er gerade furchtbare Dinge mit seinem Opfer anrichtete. Er stand in sich selbst wie auf einer Galerie und beobachtete sich selber, ohne eine Gefühlsregung für seine eigene Person.
Schließlich kam Bewegung in die Menge und wieder erwischte sich der Nosferatu dabei, wie seine Konzentration abgeglitten und sinnlos irgendwelchen Gedanken nachgegangen war. Glücklicherweise hatte er diesmal nur blicklos ins Leere gestarrt, was man nicht bemerken konnte, da er sein Gesicht nicht zeigte. Er würde sich Konzentrieren müssen. Es war ein ungünstiger Zeitpunkt für Träumereien. Mechanisch erhob er sich und ging hinüber in den Versammlungsraum. Die Bewegung tat ihm gut und vertrieb die seltsam, schleichende Schwere aus seinem Kopf.