AW: [05.05.2008] Jemand da?
Lilly nahm sich einen der Stühle und setzte sich an den Tisch, auf den die Geissel gezeigt hatte.
Ihre Körpersprache, ihr Tonfall und wie sie Malik anschaute verriet, dass sie ihm gegenüber positiv eingestellt war.
„Es war übrigens ganz gut, dass ich nicht sofort wusste, dass Sie Geissel sind, sonst hätte ich nämlich garantiert nicht ´hier´ geschrieen als Sie gefragt haben ob jemand bei Ihnen mitfahren möchte. Das wäre jedoch schade gewesen. Anfangs hätte mich also ihr Amt abgeschreckt, aber später zum Glück nicht mehr.
Sie sind übrigens die erste Geissel, die mich positiv überrascht. Diejenigen, die ich bisher kenne, die hätten nie einem Caitiff die Hand gegeben.“
An Lillys Gesicht war abzulesen, dass sie von diesen Geisseln offenbar nicht viel hielt.
„Kleine Gesten können manchmal eine große Wirkung haben. Auch gefällt es mir, dass Sie sich mir gegenüber wie ein Gentleman verhalten haben. Ich hoffe doch, es bleibt dabei?“
Sie lächelte ihn verschmitzt an.
Bei den Brujah war es leider nicht üblich, dass Männer Kavaliere waren, da hatte man nun mal untereinander einen recht rauen Umgangston, da gab es keine großartigen Höflichkeiten, auch nicht bei Männern Frauen gegenüber. Lilly konnte zwar damit leben, aber sie mochte es dennoch wenn Männer Kavaliere waren.
„Ich weiß es auch zu schätzen, dass Sie bereit waren Asgar eine faire Chance zu geben. Leider hat er dies versiebt.
Immerhin habe ich somit erleben können, dass Sie offenbar nicht übertrieben haben was Ihre Kampffähigkeiten angeht. Da sind Sie also für mich eine Herausforderung. Vielleicht sind Sie sogar ein wenig besser als ich, aber sicher nicht so viel besser als dass Ihnen Trainingskämpfe mit mir nichts bringen würden. Und leicht machen werde ich es Ihnen nicht…“
Lilly sagte die letzten Worte ein wenig neckend, sie lächelte und ihre Augen blitzen in Vorfreude auf ihren ersten Trainingskampf gegeneinander, der einfach stattfinden musste, ja, sie mussten diese Schlacht einfach überleben!
„Aber ein paar Dinge gibt es bestimmt, die Sie von mir lernen können. Gegen ein wenig mehr Schlagkraft hätten Sie doch sicher nichts einzuwenden, unter Umständen wäre ich bereit Ihnen die zu verschaffen.“
Stellte sie ihm das doch ruhig in Aussicht, dann bemühte er sich hoffentlich um sie.
„Vielleicht interessiert es Sie warum ich hier bin. Nun, ich bin schlicht und einfach hierher gekommen weil es mir in Frankfurt zu langweilig war. Dort wohne ich seit einem halben Jahr. Hier kann man sich gewiss nicht über Langeweile beklagen, hier ist ein absoluter Krisenherd. Vielleicht sogar für meinen Geschmack ein wenig zuviel Aufregung, aber eine Herausforderung. Da könnte es gut sein, dass ich länger bleibe.
Sie wiederum hat anscheinend jemand von ganz oben nach Finstertal geschickt um hier etwas aufzuräumen sozusagen.“
Nach dem was er ihr im Auto erzählt hatte, war es ja nicht schwierig sich das zusammen zu reimen.
„Ich könnte mir durchaus vorstellen Ihre Verbündete zu sein, aber nicht weil sie Geissel sind sondern obwohl Sie Geissel sind. Ich hoffe Sie fassen dies als Kompliment auf und nicht als abwertend.“
Sie machte eine kurze Pause, und sagte dann:
„Was ich Ihnen jetzt gesagt habe können Sie mir glauben oder es sein lassen. Ich meine jedoch das alles so wie ich es sage, und bevor ich Ihnen hier etwas vorheuchele um mir dadurch Vorteile zu verschaffen, da verzichte ich lieber auf die Vorteile. Wir Brujah sind ohnehin nicht dafür bekannt, Arschkriecher zu sein, zum Glück."
Auch Zacharii gegenüber hatte Lilly keine Hemmungen gehabt ihm entgegenzuschreien, was sie von ihm hielt.
Lieber würde sie sich die Zunge abbeißen als dass sie einer Geissel was vorheuchelte!
Heuchelei mochte sie sowieso nicht, und im Lügen war Lilly nicht unbedingt meisterhaft. Sie zog es vor nur das zu sagen was sie wirklich so meinte (und dann klang sie stets sehr überzeugend) und über den Rest zu schweigen.
„Ich habe den Eindruck, auch Sie sind nicht einer von den doppelzüngigen Heuchlern, sondern sagen lieber geradeheraus ihre ehrliche Meinung - das gefällt mir.
Überhaupt, bisher gefallen Sie mir, und ich hoffe einfach mal, dass es so bleibt.“
Und dann schenkte sie ihm ein besonders verführerisches Lächeln.
„Sie gefallen mir übrigens auch als Mann.“
Und sie schaute ihm kurz ein wenig zu tief in die Augen. Sie war in diesem Moment ganz Frau und schaute ihn an wie eine Frau einen Mann anschaut wenn sie ihn sehr anziehend findet.
Konnte das einen Mann völlig kalt lassen, wenn sich eine attraktive und derart charismatische Frau wie Lilly so äußerte? Selbst wenn man keinen Sexdrive mehr hatte, eigentlich müsste das doch dem Ego schmeicheln. Aber genauso gut könnte es einen abschrecken, da wusste man doch nie.
Doch dieser Moment ging schnell vorbei. Es wäre nicht angemessen Malik jetzt anzuschmachten, und Lilly wollte es nicht übertreiben, es war nur ein Testballon, den sie losschickte. Sie wollte Malik weder verärgern noch in Verlegenheit bringen, also verpackte sie das Ganze so, dass er es ignorieren konnte wenn er wollte.
Ihre Mimik normalisierte sich also schnell wieder.
„Lange Rede, kurzer Sinn: Ich hätte prinzipiell ein Interesse an einer Zusammenarbeit mit Ihnen. Wir könnten es ja zunächst mal locker angehen und dann sehen wie es läuft? Vertrauen kommt natürlich nicht aus dem Nichts, das wächst erst mit der Zeit.
Sie können ja dann mal meine Referenzen prüfen und es sich überlegen. Und erstmal abwarten ob wir den morgigen Kampf überleben.
Enio sagte mir übrigens, ich kämpfe morgen in der Gruppe der Neuen, die Sie leiten werden."
Nicht nur Lillys Augen, ihre ganze Körpersprache strahlte Selbstbewusstsein aus, und Willensstärke. Und sie war sehr offensichtlich keine sanftmütige Person, die man leicht unterbuttern konnte.
Die Brujah hatte recht viel geredet, aber es wirkte nicht langatmig, und es war nicht langweilig ihr zuzuhören.
Lilly konnte eine sehr überzeugende Rednerin sein, und es wurde deutlich, dass sie sicherlich andere gut mitreißen konnte, schon allein durch ihre magnetische Persönlichkeit, ihre Ausstrahlung, dafür brauchte sie gar nicht irgendwelche Präsenztricks einzusetzen. Wenn Lilly erst einmal anfing etwas länger zu reden, so war es nicht unbedingt leicht sich diesem Charisma zu entziehen.
Da war es nicht schwierig sich vorzustellen wie sie voller Inbrunst Leute motivierte, und in der Tat hatte sie dies schon oft genug getan. Hatte sie ein Kampfgrüppchen geleitet, so war man ihr gern gefolgt.
Lilly raste so einiges durch den Kopf. Tat sie jetzt das Richtige? Aber als ob man das immer im voraus wissen konnte.
Wenn Malik doch besser nicht Geissel wäre!
Aber er war es nun mal.
Wie es aussah hatten irgendwelche hohen Camarillabonzen Malik hergeschickt.
Ob er also ein totaler Camarillahardliner war?
Aber schließlich hatte Lilly nicht vor die Camarilla an sich zu sabotieren.
Und überhaupt, Lillys terroristischen Aktionen waren passé, und die hatten sich ohnehin nie direkt gegen die Domänenführung gerichtet, sie hätte gegen die Apartheid gekämpft egal ob es die Camarilla gab oder nicht, egal ob sie Kainskind war oder nicht. Nur dass sie als Normalsterbliche sicher nicht lange genug gelebt hätte um das Ende der Apartheid zu erleben, außer sie wäre fast 100 Jahre alt geworden.
Dass es der der einen oder anderen südafrikanischen Domänenführung recht gewesen wäre, wenn die Apartheid weiterexistiert hätte, nun ja, dafür konnte Lilly ja nichts.
Aber sie hatte immerhin noch nie irgendeinem Camarillamitglied den Hintern weggesprengt, nicht einmal den nazifreundlichen, obwohl die es nun wirklich verdient gehabt hätten. Stattdessen hatte sie immer wieder mal gegen den Sabbat gekämpft, von daher, eigentlich konnte die Camarilla sich nicht beschweren.
Den Nazis hatte Lilly gern das eine oder andere gesprengt, aber die Zeiten wo Lilly gern Gebäude oder Autos in die Luft gejagt hatte waren mittlerweile vorbei.
Da war sie doch direkt gemäßigt jetzt.
Meist galt doch die Regel: Je älter und mächtiger ein Camarillamitglied war, desto mehr Dreck hatte es am Stecken. Bei ihr war´s eben nur eine etwas andere Art von Dreck als bei vielen anderen Camarillamitgliedern, und nichts wofür sie sich ihrer Ansicht nach hätte schämen zu müssen.
Es wäre schon sehr verwunderlich, wenn Malik eine völlig weiße Weste hätte.
Seine Leichen im Keller kümmerten Lilly aber gar nicht großartig, also sollte er besser auch nicht versuchen nach ihren Leichen zu graben. Was hier in Finstertal zählen sollte, für beide, das war doch nicht primär die Vergangenheit, sondern das Jetzt und die Zukunft.
Solange sie Malik hier nicht in die Suppe spuckte, sollte es ihn da kümmern, was sie vor 10 Jahren irgendeiner anderen Geissel angetan hatte? Das brauchte er ja nicht zu erfahren, und vorgeheuchelt hatte sie diesen Scheißkerlen nichts. Sie hatten ihr sogar etliche Gefallen getan, aber nicht etwa freiwillig, sondern weil sie die Hunde erpresst hatte. Niemand hatte etwas davon erfahren, denn solche Typen hängten es doch nicht freiwillig an die große Glocke, dass sie jemand in der Zange gehabt hatte.
Entscheidender als die Vergangenheit war jedoch die Frage: Waren Lillys eigenen Ziele mit Maliks Zielen vereinbar? Tja – wenn sie denn so genau wüsste was ihre eigenen Ziele waren. Aber bevor sie hier in Finstertal nicht die Lage sondiert hatte, konnte sie schlecht konkrete Pläne machen.
Das wird schon irgendwie passen. Es muss einfach!
„Was nicht passt, wird passend gemacht“, wo hatte sie diesen Spruch bloß gehört, der passte jedenfalls ganz gut.
Es musste einfach passen! Denn sie wollte diesen Mann. Und sie wollte ihm eigentlich nicht schaden.
Dann musste sie eben ein wenig improvisieren.
Und da sie also nicht vor hatte hier der Domäne irgendwelchen Schaden zuzufügen, warum sollten Sheriff und Geissel etwas gegen Lilly haben.
Enio hätte höchstens was dagegen, wenn sie sich mit der Geissel verbündete, aber das musste sie ihm ja nicht auf die Nase binden.
Der Alte meint wohl, er hätte mich im Sack, nur weil er hier der Oberboss der Brujah ist. Aber ich bestimme selbst mit wem ich mich einlasse!
Vielleicht würde er es sogar als Verrat am Clan sehen, wenn sie sich mit „so einem“ einließ.
Das größte Problem bei einer Verbindung zwischen Malik und Lilly wäre also wahrscheinlich nicht einmal das, was die beiden voneinander trennte, sondern eine dritte Person, die diese Verbindung missbilligte. Enio!
Es war doch seltsam wie sich manche Dinge wiederholten. Enio hatte für Malik wahrscheinlich ebensoviel Geringschätzung übrig wie ihr Vater für Mongabe.
Dafür verabscheute Lilly Enio schon jetzt. Sie ahnte, dass das Verhältnis zwischen ihm und ihr problematisch bleiben würde. Sie hatten keinen guten Start gehabt, und zu ahnen, dass er Malik verachtete und es missbilligen würde wenn sie sich ausgerechnet mit ihm verbündete, allein das brachte sie schon innerlich gegen diesen Ahn ihres Clans auf.
Der leichtere Weg wäre es, wenn sie brav täte was Enio wollte. Aber hatte Lilly jemals den Weg des geringsten Widerstandes gewählt? Dann wäre sie niemals Widerstandskämpferin geworden.
Aber vielleicht hatte die Geissel eh kein Interesse, dann konnte sie sich all diese Überlegungen sparen.