Von hier:
Die Diskussionen werden ob unseres Wikingervergleichspostes rege und mit harten Bandagen geführt. Da ich von Seiten der postfaktischen Fraktion häufiger höre, Wissenschaftler bilden sich ein sie wissen was, dabei wissen sie gar nichts, möchte ich hier 5 der am häufigsten von der Postfaktfraktion angeführten Histo-Fan-Mythen bezüglich des Frühmittelalters aufzählen und kurz aus meiner beschränkten wissenschaftlichen Sicht dazu Stellung nehmen. Impfen ist übrigens super, die Erde ist nicht hohl und erst recht nicht flach. Chemtrails gibt es nicht und Angela Merkel ist kein Reptiloide und plant nicht Deutschlands Vernichtung. Dies nur nebenbei. Dann mal los.
1. Fast niemand konnte sich im Frühmittelalter ein Schwert leisten und ein Kettenhemd kostete ein ganzes Dorf.
Mal von der Tatsache abgesehen, dass die Definition von "Dorf" höchst unterschiedlich ausfallen kann, ist diese Behauptung Quatsch. Wir haben keine akurate Definition der Kaufkraft im Frühmittelalter. Anhand der spärlichen Schriftquellen hat man allerdings Versuche unternommen, sich zumindest einer groben Vorstellung zu nähern. Das ist natürlich vage und hängt auch immer von Ort und Jahreszeit ab (Angebot und Nachfrage, Transportkosten, etc.). Als Grundlage nahm man die teils überlieferten Preise für Nahrungsmittel. So taxiert man nach dieser Untersuchung den Preis für 1 Kg Getreide auf 3 Gramm Silber, nach heutigen Maßstäben etwa 60 - 80 EUR. Im gleichen Preisrahmen liegt etwa ein Messer. Ein guter Mantel war etwa 300 EUR teuer, ein Schaf 400 EUR. Eine Kuh war war mit 2000 bis 2500 EUR schon wesentlich kostspieliger. Beispiele gäbe es noch mehrere. Dem Preis eines Schwertes nähert man sich ab etwa 8000 EUR. Ein guter Kettenpanzer schlägt ab 20.000 EUR zu Buche, also quasi ein kleiner Mittelklassewagen. Das sind erhebliche Werte, aber mitnichten ein ganzes Dorf.
2. Der Mensch im Frühmittelalter trug keine Farbe / konnte nicht färben / durfte kein Rot tragen, denn das war dem Adel vorbehalten.
Völlig falsch. Kleidungsvorschriften als wirkliche Gesetzgebung sind aus dem Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit überkommen, diese und deren Befolgung in der Realität sind ein sehr komplexes Thema. Im Frühmittelalter gab es so etwas wie gesetzlich geregelte Kleiderordnungen nicht. Der Wohlstand entschied über die Kleidung und spiegelte sich in der Kleidung wieder. Was das Färben angeht: Mit Naturfärbemitteln lässt sich fast jeder Farbton erreichen. Das vielfach als den Reichen vorbehalten gescholtene Rot kann z.B. das Ergebnis einer einfachen Färbung mit Krapp sein. Blau lässt sich mit Färberwaid erzeugen. Natürlich gab es auch teurere Farbstoffe für höherwertige Farben, wie etwa Indogo für ein noch satteres Blau. Der Unterschied liegt auch hier in Qualität und Farbausprägung, nicht im Nutzen von Farben generell.
3. Leder ist doch soviel praktischer als Wolle.
So gar nicht. Wolle hat Wollfett, wird nur sehr schwer nass und Schmutz lässt sich einfach ausbürsten. Leder muss imprägniert werden, damit es sich nicht in eine glitschige zweite Haut verwandelt. Ist es nass dann wird es beim Trocknen spröde. Trocknet es nicht richtig, dann schimmelt es schnell. Natürlich wird es Funktionskleidung mit Lederbestandteilen gegeben haben, auch mit Pelz. Aber Leder war kein Material für Alltagskleidung und ist eine Erfindung des Fernsehens für einen finsteren und gefährlichen Bikerlook. Pelz wurde übrigens, wenn er getragen wurde, nur als feine Verbrämung verwendet oder als spezielles gut geschnittenes Kleidungsstück für entsprechende Witterungslagen, dann aber immer ordentlich geschneidert und mit Stoff unterfüttert. Niemand hätte sich ein ganzes Kuh- oder Schaffell über den Kopf geworfen. Das hätte man damals vermutlich als ebenso merkwürdig empfunden wie heute.
4. Alle waren schmutzig und hatten lange Haare und Zottelbärte.
Bitte, nein. Wir haben dazu entsprechende Schriftquellen. Außerdem musste allein wegen der Parasiten wie Läuse und Flöhe die Kleidung regelmäßig gewechselt und gereinigt werden, die Haare gekämmt und geschnitten. Es gibt zahlreiche Funde von Kämmen und sogenannten Toilettbestecken, welche Dinge wir Ohrlöffer, Fingernagelreinigungsdorne und Pinzetten (bspw. zum Haare zupfen) enthalten. Die Hygiene war sicherlich nicht die gleiche wie heute, dürfte aber in etwa mit der Hygiene korrespondieren, die wir noch nach dem Zweiten Weltkrieg mit Kohlebadeofen als normal empfanden: Samstag ist Badetag
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Was die Haar- und Bartracht angeht sehen wir an den seltenen figürlichen Abbildungen übrigens höchstens halblange Haare und nur gepflegte Schnauzbärte.
5. Ihr Wissenschaftler und A-Päbste wisst nichts, niemand war dabei und kann es genau sagen.
Nun, wir Wissenschaftler und A-Päbste wissen da ziemlich viel ziemlich genau, weil wir uns mit den Primärquellen beschäftigen und nicht auf krude Informationen aus dritter Hand zurückgreifen. Es gibt eine hervorragende archäologische und historische Forschungslage. Gerade die Archäologie arbeitet immer interdisziplinärer, untersucht Funde und Befunde multimethodisch, erarbeitet Erkenntnisse unter Zuhilfenahme von Fachleuten aus Biologie, Zoologie, Medizin und werkstoffkundlichen Wissenschaften. Damit sind wir nichts Besseres als andere und wir erwarten auch nicht, das jeder sich genauso gut auskennen muss. Aber wir sind eben doch Profis. Und den Profis kann man dann schon mal eher Glauben schenken als dem Wikinger mit Pelzkragen und Trinkhorn vom Metstand.
Bonuspunkt: Was regt ihr euch denn über sowas auf, das ist Quatsch / nicht interessanter, als ein Sack Reis in China u.s.w.
Nu lasst uns doch alle. Es ist eben unser Hobby, bei einigen auch noch Beruf und / oder Passion. Fußballfans diskutieren über Fußball, Celebrityfans über Celebritys und wir über Geschichte, Archäologie und schlechte Filme. Wer nicht will muss ja nicht
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