AW: Rollenspieltheorie 2.0
Ich ignorier einfach mal diese ganze Metadiskussion und mach mir Gedanken, wie man denn Stimmung ins Zentrum einer theoretischen Rollenspielbetrachtung setzen kann. Die folgenden Gedanken sind das Ergebnis meiner Auseinandersetzung mit dem Gumbrecht-Artikel, der Skar bewegt hat, diesen Thread zu starten. Hier meine Erklärungen des besagten Artikels:
I woke up this morning in a terrible mood
Erstmal die eine oder andere Definition:
Stimmung: der Grad von ästhetischer (d.h. sinnlicher bzw. imaginiert sinnlicher) Wirkung. Stimmung am Spieltisch speist sich aus zwei Quellen: zum einen durch das Maß an Spannung und Erregung, das meist über den Plot sowie durch den Einsatz von taktischen, strategischen oder zufallgesteuerten Elemente erzeugt wird; zum anderen durch die sinnliche Konkretheit, die durch Beschreibungen, Interaktion, Visualisierungen, Handouts oder den Einsatz von Musik geschaffen wird.
Formelhaft ausgedrückt: Stimmung = Spannung + Sinnlichkeit
Ziel eines stimmungsvollen Rollenspiels müsste es dann sein, durch Mechanismen (Crunch) und Settinginformationen (Fluff) unter Einbeziehung der kommunikativen Fertigkeiten der Spielenden (Social Skills und Social Contract) ein starkes und erinnerungswürdiges Erlebnis zu schaffen (ästhetische Wirkung).
Als komplexe Formel: Stimmung = Spannung (Crunch + Plot) + Sinnlichkeit (Fluff+Kommunikation+Visualisierung+Haptik) + Soziales Gefüge
Legen wir mal diese Kriterien an D&D an und schauen wir mal, welche Variablen nicht abgedeckt werden:
D&D weist im Normalfall einen hohen Spannungsfaktor auf - Zufallselemente, Steigerungsmöglichkeiten und taktisches Handeln wird stark betont.
Plot kann mehr oder minder stark vorhanden sein - ein 0815 Dungeon bringt nicht viel dazu, aber ein spannender Handlungsstrang mit vielen dramatischen Wendungen ist in vielen typischen Abenteuern enthalten
Sinnlichkeit wird durh professionelle Handouts, viele Abbildungen und vor allem Karten, Battlemaps und Miniaturen (Visualisierung und Haprik) erzeugt.
Im Bereich der Kommunikation hängt es sehr von der Gruppe ab: Jede Aktion ist durch Regeln abgedeckt, es muss eigentlich nur wenig kommunikativ ausgespielt werden. Jedoch laden die Settinginformationen der Kampagnenwelten sehr dazu ein, sich mit dem Setting zu identifizieren und auf diese Weise sich kommunikativ einzubringen über die reinen Spielanweisungen hinaus.
Das soziale Gefüge wird zum einen durch die Nischenverteilung der Charakterrollen verstärkt, und das schiere Ausmaß der Fälle, die durch die Regeln schon abgedeckt wurden, wirkt hier auch positiv. Der Spielleiter als Dungeonmaster hat eine dominante Rolle, agiert als Gatekeeper (er entscheidet, welche Teile der gemeinsam erschafften Fiktion verbindlich sind) und trägt die Verantwortung für den reibungslosen Ablauf des Spielabends - indem er Regelstreits löst und den Spielern die Welt bereitstellt, in der sie agieren. Durch den geringen Einfluss der anderen Spieler auf die erschaffte Fiktion (denn auf diese können sie nur über Kommunikation mit dem Spielleiter oder über die Anwendung von Mechanismen einwirken) müssen die Spieler als Team agieren, um so effektiv auf das Geschehen im Spiel einwirken zu können.
Bei Vampire bzw. dem alten Storyteller-System würde ungefähr folgendes herauskommen, wenn man das Modell anwendet:
Die Crunch-Elemente sind verglichen mit D&D sehr viel weniger, jedoch nehmen die Disziplinen einen bedeutenden Rang im Spiel ein, da dadurch die Spielercharaktere übermenschliche Effekte erzeugen können und dadurch sehr stark auf die Spielwelt einwirken können. Plot ist meist sehr im Vordergrund, auch aufgrund der byzantinischen Verschwörungspolitik, die meist im Mittelpunkt des Spiels steht.
Sinnlichkeit wird Identifikation mit dem eigenen Clan über die Splatbooks erreicht (Insider-Wissen), außerdem sehr stark durch Kommunikation verstärkt (Intime Gespräche und Intrigen schmieden). Kerzen und abgedunkelte Räume erschaffen eine schauerromantische Grundstimmung (der Emo-Faktor), die durch das parodierende (dunkler Zerrspiegel unserer Welt) und satirische (alles wird ins Extreme gesetzt) Setting wiederum aufgenommen und verstärkt wird. Soziale Gefüge ist ein Problem, da die Nischenverteilung der Clans gleichzeitig eine Bresche durch die Gruppe schlägt (Hohe Clans - Ventrue, Tremere, Toreador, Malkavian - vs. Niedere Clans - Brujah, Nosferatu, Gangrel, Caitiff). Auch der politische Schwerpunkt des Spiels kann das soziale Gefüge schädigen (Gruppenkonflikte durch fehlende Team-Loyalität, aber auch stärken (Angrenzung Coterie gegen andere Machtgruppen).
Natürlich könnte man das Modell jetzt noch sehr viel genauer verfeinern und explizit alle erwähnten Elemente eines Spiels genauer unter die Lupe nehmen.
Und mit dem so erarbeiteten Wissen könnte man dann schauen, welche Elemente effektiv stimmungsmachend sind und wie man sie zusammen effektiv einsetzt - dann hätte das Modell auch Wert für Rollenspielschreiber - zum einen für Spielentwickler (was muss in ein Spiel rein, damit richtig gute Stimmung aufbaut) aber auch Abenteuer- oder Quellenbuchautoren (wie baue ich en Szenario oder Setting, das die Spieler wirklich interessiert und zur Identifikation einlädt.)
Aber das an einem anderen Tag.