Abenteuer-Kampagne
Bittet man einen Cthulhu-Fanboy um eine griffige Erläuterung seines Spiels, steht er vor einem Problem. Im Gegensatz zu den Spielern anderer Systeme, hat er weder ein Setting noch ein Regelwerk, über das er berichten könnte – beides liegt in dermaßen unübersichtlicher Vielfalt vor, dass die Suche nach einem gemeinsamen Nenner erfolglos bleibt. Es gibt schlicht keine Mitte zwischen CthulhuTech, De Profundis und Katzulhu. Einzig Gemeinsames wäre wohl der Lovecraftsche »Mythos«, aber auch hier liegen Widersprüchlichkeit und das Ungreifbare in der Natur der Sache.
Am einfachsten gelingt eine Annäherung, wo es unsere Alltagswelt ist, die mit dem Mythos konfrontiert wird – bei dem Subsystem also, das bei Pegasus unter dem Label Cthulhu Now geführt wird und für das mit dem Dreiteiler Nocturnum soeben eine erste deutschsprachige Kampagne erschienen ist. Eindeutigkeit schafft allerdings auch das now-Label nicht und darum geht es mir auch mit dieser Vorbemerkung: Auch Cthulhu Now ist nicht gleich Cthulhu Now und vermutlich werden nicht alle Erwartungen an diese »legendäre Kampagne« erfüllt. Ich komme darauf zurück.
Und auch das noch vorweg: Es handelt sich bei Pegasus’ Nocturnum um die Übersetzung eines Klassikers von Fantasy Flight Games mit Regelanpassungen. Eine gründliche Überarbeitung, wie etwa im Fall der hervorragenden Neuauflage von Horror im Orient-Express, war aus lizenzrechtlichen Gründen leider nicht möglich.
Aus Gründen der Lesbarkeit wird diese Besprechung der ersten beiden Teile Lange Schatten und Kalter Wind nicht von unzähligen Spoilerwarnungen unterbrochen. Wer die die Chance hat, einen Spielleiter für die Kampagne aufzutreiben, sollte das Lesen an dieser Stelle unterbrechen und gleich zum Fazit springen.
Ein Überblick
Im Zentrum der Nocturnum-Kampagne steht die neue Mythosrasse der Shk’ryth – sie wurden vor Ewigkeiten als böser Gedanke im Inneren der Erde abgelegt und gelangten in den letzten Jahrhunderten zu Form und Bewusstsein. Nachdem sie einige Zeit isoliert von einander in entlegenen Regionen der Erde wirkten, begannen sie langsam, aufeinander aufmerksam zu werden und sich schließlich zu organisieren. Heute nutzen sie die Infrastruktur der globalisierte Menschheit. Hinter der Fassade des Konzerns TemCo arbeiten sie daran, noch in der Wildnis verstreute Shk’ryth zu rekrutieren und einen Weg zu finden, unsere Dimension zu verlassen.
Ihr bisher erfolgversprechendster Plan beinhaltet dummerweise die Zerstörung der Erde: Mit Hilfe einer gigantischen Maschine im Himalaya ziehen sie an einem Kometen, dessen Kollision mit der Erde die Energie für ihr Fluchtprojekt freisetzen soll. Angetrieben wird diese Maschine von der mentalen Energie übersinnlich begabter Menschen, die TemCo zu diesem Zweck entführt und »verheizt«. Um diesen Ausgangspunkt entfaltet sich ein Netz von rivalisierenden Verschwörungen und Mächten (bis hin zu Nyarlathotep, der seine Kultisten gegen die Shk’ryth ins Feld schicken wird), in dem sich schließlich auch die Spielercharaktere verstricken.
Die beiden ersten Bände der Kampagne sind sind schick und stimmungsvoll Illustriert und warten – wie üblich – mit einer Vielzahl an Handouts auf. Layouttechnisch abgegrenzte Erzähltexte vermitteln die Stimmung der einzelnen Abenteuer und lockern die umfangreiche Lektüre des Kampagnentextes angenehm auf. Leider verirrt sich dieser Schreibstil häufig auch in den eigentlichen Abenteuertext, so dass gelegentlich Szenen nach- oder besser vorerzählt werden, wo eine nüchterne Beschreibung der Umstände hilfreicher gewesen wäre.
Band 1: Lange Schatten
Die ersten 30 Seiten des ersten Bandes beschreiben den komplexen Hintergrund der Kampagne sehr nachvollziehbar. Die Gliederung des Textes anhand der unterschiedlichen global player erlaubt schnelles Nachschlagen im Verlauf der Kampagne. Eine schöne Lösung, die erstens Chaos vermeidet und zweitens Lust auf mehr macht. Dazu enthält der erste Band drei Abenteuer, die allerdings nur im Vorfeld der eigentlichen Kampagne angesiedelt sind und zunächst die Shk’ryth vorstellen.
Das erste Abenteuer Winternacht führt die Spielercharaktere in das Gebirgskaff Miner’s Folly und dessen sehr stimmungsvolles Hotel. Das Tal steht unter dem Einfluss eines Shk’ryth und es ist die Aufgabe der Spieler, einem indianischen Schamanenzirkel mit ihrem Bannfluch zu helfen. Wie auch der Rest der Kampagne liest sich das Abenteuer als atmosphärisch nette Geschichte, worin aber zugleich auch ihre größte Schwäche liegt: Der Text besteht aus schönen Szenen, die im tatsächlichen Spielverlauf aber hochgradig konstruiert daher kommen und zudem auch ärgerliche Logikfehler enthalten. Ein guter Spielleiter kann mit Hilfe der Handouts sicher einen oder zwei gute Spielabende daraus machen, aber nach dem viel versprechenden Auftakt ist der Kampagnenstart insgesamt doch etwas enttäuschend.
Es geht aber gleich im Anschluss wieder steil bergauf. Im zweiten Abenteuer bekommen es die Spielercharaktere mit einer neuen Szenedroge zu tun, deren Konsum die Wahrnehmung auf eine Nachbardimension und ihre sonderbare Bewohnerin verschiebt. Dieser Königin des Zwielichts gilt es gegen die Shk’ryth zu helfen, was einen ersten Vorgeschmack auf die nicht immer eindeutige Frage nach der guten Partei bietet, die einen wesentlichen Reiz der Kampagne ausmacht. Das Abenteuer bietet psychedelischen Horror vom feinsten und ist erfreulich durchdachter aufgebaut als sein Vorgänger.
Das eigentliche (und erste unentbehrliche) Vorspiel zu Nocturnum stellt aber erst das dritte und letzte Abenteuer des Bandes dar. In Stille suchen die Spieler nach einer Entführten mit übernatürlicher Begabung und bekommen einen ersten Einblick in TemCos Pläne. Leider geraten die Charaktere nur über einen wenig motivierenden Auftrag in die Geschichte, aber vor Ort entfaltet sich das Abenteuer dann deutlich freier über den interessanten Schauplatz. Richtig gut ist aber vor allem, dass es endlich los geht und hilfsbereite Dienerkreaturen Nyarlathoteps für die erste richtige Überraschung sorgen.
In den drei Abenteuern wird der Spielstil vorgezeichnet, in dem die Kampagne verfasst wurde: Durch Ermittlungsarbeit »freigespielte« Hinweise führen die Charaktere recht linear von Szene zu Szene. Abweichungen von der Route werden im Text zwar immer mal wieder als Möglichkeit genannt, dann allerdings dem Spielleiter zur weiteren Ausarbeitung überlassen. Kämpfe spielen im Verlauf der Abenteuer nur eine untergeordnete Rolle, sind darum aber nicht minder gefährlich. Spätestens zum jeweiligen Höhepunkt der Abenteuer geht es meist recht heftig zur Sache. Wer es taktisch mag, wird seine Freude an den zahlreichen Gebäudeplänen haben, die sich bei entsprechender Vergrößerung auch sehr gut für den Einsatz von Miniaturen eigenen.
Insgesamt leistet Lange Schatten, was der Titel andeutet: Einen Vorgeschmack auf die Kampagne. Wirklich wichtig ist zwar nur die Zusammenfassung am Anfang, aber da sich die Abenteuer ohne großen Aufwand auch unabhängig von Nocturnum spielen ließen, ist der Kauf des Bandes auch dann keine Verschwendung, wenn die Kampagne schließlich doch nicht gespielt werden sollte.
Band 2: Kalter Wind
Der zweite Band umfasst fünf Abenteuer und einige kürzere Szenen zum Einbau an passender Stelle. Während die Charaktere einer Spur von Hinweisen durch die USA folgen, wecken sie zunehmend das Interesse anderer Parteien. Als besonders lästig erweist sich das FBI, dem die Häufung sonderbarer Ereignisse in der Umgebung der Charaktere nicht entgangen ist. Ein eifriger Agent (bei Bedarf zuzüglich Task Force) wird die Spieler auf Trab halten und sie zwingen, den Kopf unten zu halten. Diese wiederkehrenden Elemente bieten zugleich einen roten Faden zwischen den Abenteuern und vermitteln den Fortgang der Ereignisse. Sie wären es durchaus wert gewesen, etwas ausführlicher behandelt zu werden. Vorschläge zu verschiedenen Einsatzmöglichkeiten oder zur Steuerung des Tempos hätten dem Band gut getan, erfahre Spielleiter sollten aber auch keine Schwierigkeiten damit haben, das Material entsprechend anzupassen.
Die modularen Szenen sollten allerdings nicht darüber hinweg täuschen, dass dieser Teil der Kampagne recht linear aufgebaut ist. Es gibt keine losen Enden oder alternative Routen und jedes Abenteuer folgt notwendig auf seinen Vorgänger. Nicht, dass dies grundsätzlich eine erwähnenswerte Besonderheit unter Cthulhu-Abenteuern wäre, aber gerade vor dem Hintergrund der Verschwörungsthematik hätten die Möglichkeit eines freieren Aufbaus der Kampagne gut getan. Auch hier erfordert es allerdings keinen großen Aufwand, die Phasen zwischen den Abenteuern in diesem Sinne zu gestalten.
Bemerkenswert sind die vielen Mythosbezüge, die nur zufällig mit dem Plan der Shk’ryth zu tun haben – fast jedes Abenteuer hat sein »monster of the week«. In Flug 714, der von TemCo sabotiert wurde, dann aber von Nyarlathotep-Kultisten zum Absturz gebracht wird, ist es ein zufällig auf dem Weg lauernder Sternenvampir. Eine Familienangelegenheit behandelt die dunkle Saat von Shub-Niggurath Sumpfmonster und in Thors Amboss werden die Charakter von Heerscharen tiefer Wesen überrannt, bevor sich Papa Dagon schließlich höchst persönlich aus der Tiefe erhebt. Während mit dem Cthulhu-Mythos vertraute Spieler sich über den ein oder anderen alten Bekannten »freuen« werden, bleibt für den Neuling leider nur ein Haufen sonderbarer Monster. Ohne Vorwissen lässt sich die Geschichte in ihren reizvollen Details kaum nachvollziehen. So lesenswert der Abenteuertext für Spielleiter auch sein mag – die Spieler bleiben meist nur an Oberfläche.
Hier zeigt sich dann sich dann auch – und damit komme ich zum Anfang zurück – wie Cthulhu Now in Nocturnum gedacht ist. Nicht als Einbruch eines irrational Monströsen in unsere vermeintlich rationale Alltagsrealität, sondern als phantastische Parallelwelt, in der zwar finstere Mächte existieren, die ansonsten aber nach ziemlich eindeutigen Interessen und Vorgehensweisen organisiert ist. Wahnsinn und Tentakelhaftigkeit sind zwar zentrales Thema der Geschichte, wirken aber nicht über den Rahmen der Erzählung. Die Charaktere mögen in Folge ihrer Erlebnisse wahnsinnig werden (die Chancen stehen ganz gut), aber der Reiz der Kampagne liegt letztlich darin, dass die Spieler sehr genau begreifen, wer hier was aus welchen Gründen tut. Es ergibt alles einen Sinn, der gar nicht so besonders wahnsinnig ist.
Die häufigen Vergleiche zwischen Nocturnum und Akte X treffen die Sache ziemlich genau. Scully-Charaktere mögen abstreiten so viel sie wollen, ihre Spieler wissen aber, dass sie weitermachen müssen, wenn sie das Abenteuer beenden wollen. Das ist weder schlecht, noch eine Besonderheit Nocturnums – im Grunde funktionieren fast alle Cthulhu-Abenteuer auf diese Weise. Wissen muss man es aber trotzdem, um nach der Lektüre des Cthulhu Now Quellenbandes nicht mit falschen Erwartungen an die Kampagne zu gehen. Dies gilt insbesondere für deutsche Spieler, die Schauplätze und Institutionen der Kampagne ohnehin eher aus Fernsehserien als aus ihren Alltagserfahrungen kennen.
Neben dieser reinen Geschmacksfrage hat der zweite Teil der Kampagne leider auch zwei wesentliche spieltechnische Mängel. Erstens wird der Spielleiter mit dem Problem toter oder wahnsinniger Charaktere weitestgehend allein gelassen. Gab es im Orientexpress noch gute Hinweise zu mitreisenden Ersatzcharakteren in ständigem Briefkontakt mit den Aktiven, muss man Nocturnum hin biegen, was das Zeug hält, wenn die (zu Recht!) paranoide Gruppe ein neues Mitglied aufnehmen soll. Zum anderen gibt es einige Stellen, an denen ein verpasster Hinweis die Kampagne zur Sackgasse werden lässt, wenn der Spielleiter nicht aushilft. Er hat für diesen Zweck zwar einige Informanten parat, der Eindruck fehlender Entscheidungsmöglichkeiten wird dadurch aber noch weiter verschärft.
Fazit
Wer bereit zu Überarbeitungen oder ist in der Lage zur spontanen Improvisation ist, bekommt mit Nocturnum eine spannende und nervenaufreibende Kampagne geboten. Unerfahrene Spielleiter werden ab dem zweiten Band Probleme damit haben, ihre Spieler nicht hin und wieder mit Gewalt auf die richtige Fährte setzen zu müssen. Nocturnum wurde nicht für Spielrunden geschrieben, die »Railroading« als die Wurzel allen Übels ansehen. Es wäre sicher spannend gewesen, freier in dem Verschwörungsnetzwerk ermitteln zu können. Außerordentlich plastische Örtlichkeiten und Personen ermöglichen aber schönes und freies Spiel im Rahmen der einzelnen Stationen.
Wer große(!) Geschichten, Cthulhumonster und Akte X mag, und außerdem kein Problem damit hat, dass die Erzählung schon vor Beginn des Spiels vollständig aufgeschrieben wurde, wird von Nocturnum begeistert sein. Wer erst jetzt skeptisch geworden ist, sollte wenigstens einen Blick riskieren. Die Karten, Handouts und Ideen lassen sich ohne allzu großen Aufwand als Grundlage einer großartigen Kampagne verwenden.
Wir sind gespannt auf das große Finale im dritten Teil!
Titel:
Nocturnum (Bd. 1: Lange Schatten; Bd. 2: Kalter Wind)
Art:
Rollenspiel-Kampagnenband
Regeln:
Cthulhu Now
Sprache:
Deutsch
Verlag:
Pegasus Spiele
Publikationsjahr:
2009
Autor:
Darrell Hardy
Übersetzer:
Christina Wessel-Heller, Michael Weh
Illustrationen:
Toren Atkinson, Andy Brase, Michael Clarke, Ear Geier, Bill Heagy, Hive, Eric Lofgren, Mrad McDevitt, Brian Schomburg, Christopher Shy, Tyler Walpole, Kenneth Waters
Coverdesign: Manfred Escher
Umfang:
132 Seiten; 112 Seiten
Bindung:
Hardcover
Preis:
Je 24,95 €
Rezensent: Jan-Paul Koopmann
Links:
Copyright © 2008
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