Cyberpunk 2020 Cyberpunk RELOADED 2.0.3.5.

AW: Cyberpunk RELOADED 2.0.3.5.

ich fuerchte mal dass es sich bie der Neuaflage lediglich um das Zusaetliche Artwork aus der italienischen auflage handelt (die ist auch in die englische Neuauflage von 2020 reingekommen, inhaltlich hat sich da nix geaendert, soviel ich weiss)

@Raben-Aas
I wo, Jonny Silverhand LEBT ;)
 
AW: Cyberpunk RELOADED 2.0.3.5.

schoen zu segen das du am thema dran bleibst - und wie!

hoert sich fuer mich krank genug an um stimmig zu sein, und ich bin weiterhin gespannt auf weiteres.

der punkt des ewigen prekariats scheint mir allerdings bislang etwas unzureichend eroertert. wo sind sie denn die millionen von ungebildeten, ueberfluessigen und kaputten (respektive, wann bist du das letzte mal in neukoelln gewesen)? was ist aus der theorie das unmuendikeit krank/bloed macht geworden? wie sieht das leben der verlierer aus? verhungern die einfach still und leise?

gibt es noch die grauzonen? bohemians, kuenstler, freelancer? und gibt es soetwas wie eine gegenkultur, szene oder bewegung?
 
AW: Cyberpunk RELOADED 2.0.3.5.

Grobkonzepte (in der Mache)

- Perspektivlose werden z.T. durch BuReLoc weggebracht.

- Wo immer die hinkommen: Verhaltenschips und Persönlichkeits-Reprogrammierrung (Braindance) kann wie in CyberGeneration bereits angekündigt selbst völlig Unkooperative in überaus "zufriedene Mitbürger" verwandeln. Anwendungsgebiete für diese "Zombies" wären z.B. jede Art von "Service-Personal", was für die Klasse der Ultrareichen (Pagen, Koffersträger, Dogwalker, lebendes Mobiliar, persönliche Beauty Assistants, Sekretäre, LifeStyle Manager, Kindersitter ...) ebenso interessant ist wie für die neue Klasse der zufriedenen CorpZone Bewohner (Putzkräfte, Burgerbrater, Einkaufstaschenträger ...).

- Eine sicherheitskonzeptionell attraktive Anwendung könnten zudem "professionelle Rentner" sein. Soll heißen: Da wird wer weggefangen, bekommt seine Umprogrammierung, und wo man dabei ist setzt man ihm noch eine Digicam ins Auge und stattet ihn mit einer Art Panicbutton aus, wodurch dieser "Verdächtiges" an die Zentrale melden kann. Das Digicam-Modul mit der Denunzianten-Hotline gibt es darüber hinaus als Corp-gesponsortes Unterhaltungs-Tool (Schicke Brille mit entsprechenden Built-Ins, super billig zu erwerben, allerdings hohe monatliche Leasing-Kosten, die aber durch "Meldungen" (die sich als solide erweisen) bezahlt werden können).

- Grauzonen gibt es aktuell definitiv noch, weil was immer BuReLoc und Co. anstellen so schnell nicht Millionen von Leuten "behandelt" ("processed") werden können. Für Künstler und Selbständige gibt es mit der "Entrepreneur-Card" ohnehin ein Schlupfloch, das die Corps auch so schnell nicht dichtmachen können.

- Was die Theorie angeht, dass Unmündigkeit blöd macht, so wurde dieses Problem bereits um 2005-2007 herum mit corp-gesponsorten "alternativen Unterhaltungswelten" wie Second Life oder WoW gelöst: Die Illusion von Online-Mündigkeit und die Generierung von virtuellem Sozialprestige im Cyberspace bekämpfz überaus effektiv Groll, geistige Verödung und "Offline-gewalttätigkeit" (wie man an der rapide sinkenden Teilnehmerzahl Jugendlicher an Demos schon jetzt SEHR anschaulich sieht).

- In der aktuellen (2035) Phase der Gleichschaltung werden die Corps vor allem auf solche Online-Welten und andere "Communities" setzen, um die Massen still zu halten.

- Siehe dazu unbedingt auch http://www.systemfehler.de/global.htm
 
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Am letzten Freitag war erste Session des neuen Settings bei mir ... :)



Freitag, 9.3.2035

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Konzernstadt Night City,
California Nordsektor, ISA
2035-03-09 19:30:00


Night City. Die Luft im T-Mex duftet süßlich. Überwürzte Tacos. Gesundheitszigaretten. Luftumwälzer. Eine Anlage hinter der Theke trällert Mainstream. Konzernpop. Mexican. Wie das Bier, das hier vor den Regulars schal wird.

So früh ist hier eh nichts los. Man verpasst nichts. Erwartet noch weniger als das. Nur ein Bier. Auf dem Weg vom mies bezahlten Drecksjob nach Hause. Falls man nen Job hat. Und den haben hier wenige.

Overdrive hieß die Nachbarschaft früher. Nach dem, nun, Overdrive. Einem lange Zeit unvollendet in der Gegend herumstehenden Stück Autobahn-Zubringer, in dessen beton-ummantelter Hohlstruktur sich Squatter eingenistet hatten. HiFiver Turf. Protector Gang. Was aus denen wohl geworden sein mag. Niemand weiß es. Niemanden interessiert’s. Und ihr seid Niemand.

Heute summen Autos über die frische Asphaltdecke des Overpass. Flitzen vom gleißend lichternen CorpZone Center zu den Satelliten, den vereinzelten, über die ganze Südstadt verteilten, reurbanisierten Konzernvierteln. Brausen hinweg über die Outside. Die Viertel, die es noch nicht geschafft haben, Teil des schönen, neuen Amerika zu werden.

Richtige Kampfzonen – Combat Zones – sind selten geworden. Der größte Teil der Stadt befindet sich in between. Wie ein Kunde zwischen den Beinen einer Drei-Ebbie-Nutte. Overpass ist keine Ausnahme: die meisten Blocks hier sind schon Konzernbesitz. MegaCon, meist. Das heißt: Budget Living. Ein Unternehmen der Night City Housing Group. Eine Tochter der MegaCon Construction Group. Ein Unternehmen der Night City Interest Group. Firmen-Netzwerke. Das Zauberwort der neuen Weltordnung.

Überall da draußen, jenseits der getönten, verschmierten Fenster des T-Mex, stehen Baukräne. Ganze Viertel wurden abgerissen. Das meiste von diesem hier auch. Überall wurden neue Wohnblocks hochgezogen. Hier auch.

Babel Tower Projects heißt das Viertel – der Sektor – jetzt. Die Projects. Massenhousing für Night Citys aus allen Nähten platzende Bevölkerung. Asiaten, die meisten. Geflohen aus dem Pazifikraum. Aus zerstörten Küstenstädten. Tsunami-Opfer. Steinbrocken-Opfer. Kriegs-Opfer. Gestrandete. Wie ihr, hier drinnen.

Die meisten hier sind aus der Nachbarschaft. Project People. Wie ihr. Ein Squat in den Projects, das bedeutet Strom und Wasser. UniCable. Und verhältnismäßig viel Sicherheit. Die Kehrseite ist: Sicherheit. Denn wer – wie ihr – eine verborgene Waffe trägt, ist potenzielles Risiko. Und bleibt irgendwann in den Maschen des Sicherheitsnetzes hängen.

Ein Jahr vielleicht noch, dann ist das hier CorpZone. Das Revier des Departments ist kaum eröffnet, da beginnen die Cops schon wieder die Zelte zu packen. Moven südwärts. Und von Norden übernimmt die CorpSec. Habt ihr gehört. Überall der gleiche Talk.

Bis dahin habt ihr Zeit. Entweder eine Nische im System finden. Einen Sponsor. Eine Corp. Eine ID. Oder abtauchen. Mit der NCPD nach Süden gehen. Oder weiter, in eins der verbliebenen Höllenlöcher. Combat Zone. Klingt wie ein Begriff aus großer Ferne. Mittelalter-Mäßig.

Von den Kons lernen heißt siegen lernen. Haben auch die Gangs gerafft. Bilden jetzt Tribes. Aliierte Gangs. Teilen den Turf. Gemeinsames Wirtschaften, mehr Muskeln. Mehr Profit für alle. Oder zumindest deren Bosse.

Früher haben die HiFiver vom Overpass hier sowas wie Sicherheit gemacht. Die guten Gangs packen es nie. Sind weg. Als BuReLoc den Pass geräumt hat. Geblieben sind die East End Ripperz. Freak Legion. Der stärkste Tribe hier am Südrand des Centers.

Der da drüben ist einer von ihnen. Mischblut. Irgendwas. Gegerbte Haut. Glattes Haar. Bestimmt Mexikoreaner oder sowas. Pockennarbig. Heißt Don Carlos. Oder so. Keine Ahnung. Ihr senkt den Blick. Nur niemanden reizen.

In ner Stunde macht das OG auf. Erster Stock. Drei Räume. Slot Machines. Kartenspiele. Würfeln. Ein paar Hooker gibt’s auch. Und deren versiffte Bumswiesen im 2. OG. Wenigstens sind die Asseln und Zecken real. Virtuell ficken kann jeder. Online Hirnfick gibt’s billig wie nie. Hält die Massen ruhig. Sagen die Verschwörungstheoretiker.

Aber ihr seid nicht wegen den Games hier. Und nicht wegen den ausgeleierten Punzen der Girlies. Sondern wegen dem Jazz. Dem Fixer dieses Joints.

Wenn es irgendwo in den Projects Jobs für Halblegale gibt wie euch – Ex Punks, Untergetauchte, Fringer, Bones, wie immer man euch nennt – dann bei ihm. Jazz ist straight. Keine große Nummer, aber straight. Wie Schlips früher. Oder Sandman. Oder McKenzie. Oder Headlock. Wie sie alle hießen, die Midlevel Fixer. Zu groß für den Bodensatz, zu klein für die Oberliga. Ein taffes Pflaster. Tödlich. Tot.

Ihr scannt den Raum. An der Bar sitzt ein Snoop. Ein Girlie. Kurzes Haar. Dunkelhäutig. Vielleicht ein Ho. Obwohl. Nicht mit diesen Boots. Ihr Kée sieht neu aus. Stylish. Ein kleiner Chrom-Zylinder am Ohr, ein Kabel zu ner Schläfen-Trode, ein filigranes Stück Draht, an dessen Spitze ein kleiner Beamer sitzt, der ihr Bilder direkt in die Iris wirft. Sieht von innen aus wie das frühere TimeSquare. Nur dass man sich halt nicht mehr die Augen dafür rausrupfen lassen muss. Minimalinvasiv. Auch so ein Zauberwort.

Natürlich ist in Wahrheit nichts minimalinvasiv in 2035. Schon gar nicht das, was dank verdecktem Sponsoring der Konzerne auch für LowLife billig zu kaufen ist. Das Kée ist ein Handy-Camera-Musik-Videoplayer-Datenbank-Organizer-Mini-Pad-Multifunktionsdingsbums. Mit mehr als genug Platz für Spyware der Konzerne.

StalkMob. Finster. Ihr ward noch nie in einem drin, habt aber davon gehört. Wer ein Kée hat, kann Credits sammeln, indem er auf eingeblendete Anzeigen in seinem Sichtfeld reagiert. Bitte schaun sie nach rechts. Gehen sie dochmal dem da hinterher. Oder gleich: Senden Sie uns ne MMS mit Vid, wenn Sie was Verdächtiges sehen. Sind die Infos solide, steigt Ihr Snoop Status. Wie früher bei ebay. Credibility ist harte Währung. Für mehr Games, mehr Guthaben, mehr virtuelle Gimmicks ohne reellen Wert. Verraten Sie Ihre Nachbarn, und erwerben Sie Ihre Traumvilla. Bei Second Hirnfick. Ihrer Eintrittskarte in eine Welt, die Sie mit ihrem Pleite-Arsch in Reallife niemals zu Gesicht bekommen werden.

Geht ein solider Alarm ein, geht ein Trace raus. Alle Snoops im Umfeld kriegen Downloads. Sehen Sie den da irgendwo? Und es gibt Scheiße nochmal weniges, was mehr spooky wäre als eine Gruppe Passanten, die sich auf ein unsichtbares Signal hin alle gleichzeitig zu dir umdrehen.

StalkMob. Finster. Ich sagte es ja.

Bisher hat sowas Seltenheitswert. Ungefähr so wahrscheinlich, wie auf nen LEDiv Agenten in der Subway zu treffen. Aber die Wahrscheinlichkeit steigt. Für beides. Tick. Tack. Kein zurück. Time Zero war erst gestern. Und ist trotzdem hundert Jahre her.

Das Girlie sitzt an der Theke und spielt mit ihrem Kée. Chattet vielleicht mit wem. Oder sieht fern. Oder vielleicht hat sie auch nen NeuroSim Zugang an der Wirbelsäule und lässt sich grade durchbumsen. Wer weiß. In jedem Fall schaut sie nicht zu euch. Und ES – ihr Kée – auch nicht.

Paranoia. Auch so ein Zauberwort.

Von oben ist schon gedämpft Musik zu hören. Wird bald losgehen. Der Rest der Anwesenden ist kaum weiter interessant. Außer den Charakteren der anderen Spieler natürlich, die mit dir grade Cyberpunk bei Andi zocken. Nenn es Straßeninstinkt. Aber mit denen stimmt was nicht. Wie mit dir.

Die, und ein Typ in nem Parker fällt dir auf. Weil die Schultern und Ellbogen des Parkers exakt so aussehen, als wäre das ne Gibson Jacke. Und die sind selten geworden nach Einführung der neuen Waffen- und Rüstungsgesetze.

Keine Hard Armor mehr LowLife. Vollautomatik? Illegal. Pistolen? Nur mit GunCam und 911-Chip, my friend. Grad mal Gewehre – halbautomatische – sind noch legal. Mit ID, klar. Und mit Erlaubnis des Sponsors.

Der Typ sitzt im Halbdunkel weiter hinten. Sieht euch nicht. Ihr aber ihn. Tippt mit dem Finger erratisch auf dem Tisch herum. Also hat er vermutlich nen PDA geslottet. Und ackert auf ner Tastatur, die nur in seinen Gedanken existiert. Jetzt seht ihr’s auch: Feines Kabel, Glasfaser, vier Stück, aus dem Nacken. Dezenter Hautjob.

Er bestellt nochn Bier. Ihr schließt ihm euch an. Eins noch, ehe die Tür oben aufgeht.
 
AW: Cyberpunk RELOADED 2.0.3.5.

Und das "Outro" zum nächsten Abenteuer. Warden, von dem in dem Text die Rede ist, ist der Typ mit der Gibson-Jacke aus dem Intro-Abschnitt. Im Abenteuer hat er sich als alter NCPD Cop entpuppt, der an einem Fall weiter nördlich dran war, ehe die Gegend CorpZone wurde und die Zuständigkeit an CorpSec überging. Als BuReloc das T-Mex stürmt, gelingt ihm gemeinsam mit den SCs die Flucht. Entkommen, offeriert er ihnen, den Fall quasi "für ihn" weiter zu verfolgen, da er selbst das offiziell nicht mehr kann.



Freitag, 9.3.2035

R | E | M | A | I | N | S


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Konzernstadt Night City,
California Nordsektor, ISA
2035-03-09 21:25:00


Das rote Licht der Rückscheinwerfer verschwindet um die nächste Hausecke. Indirekte Reflektionen in Blau und Rot auf Glas und Stahl und Straßenmüll. Durch die Trümmer der kleinen Bar gehen die letzten Uniformierten. Gelangweilte Blicke. Die Masken im äußersten Haltloch. Baumelnd. Rotes Glimmen der Nachtsichtgeräte. Beweissicherung.

"War's das jetzt?"

Ein schlanker Mann auf der Treppe zum Obergeschoss. Straßenabfall. Überbleibsel des gestern. Abgetragenes Jacket, Shirt mit Löchern, lächerliche Melone, primitiver Cyberarm. Nichtmal mit Verschalung. Ekelhaft. Reibt sich die Handgelenke. Uniformierter geht hinter ihm vorbei, steckt seine Cuffs wieder in die Rückseite seines Gürtels.

An der Bar steht der, der die Antwort kennt. Longcoat. Glatze. Kleine Rauchgläser. Schmaler Zigarillo. Trodes an der Schläfe. Bunter Tanz von Betriebslichtern im PDA in seiner Hand, das die Einspielungen des Einsatzes sortiert.

Die Lichter verschwinden. Schmale Finger in schwarzem Leder greifen die Trodes. Kniff in den Nasenrücken, während das PDA in der Manteltasche verschwindet.

"Ja, das war's."

"Haben Sie Ihren Mann?"

"Ich wüsste nicht, was Sie das angeht."

Der Mann im Mantel schlägt den Kragen hoch, zeichnet mit dem Finger einen Kreis in die Luft. Die Uniformierten packen zusammen. Draußen startet der Motor des letzten Transporters. Er wendet sich zur Tür.

Der andere, die Melone in der Hand, tupft sich die Stirn ab. Beschaut sich den Schlamassel. Umgekippte Tische. Scherben. Nicht ein einziges Glas noch heil. Herber Duft von Kotze und Fusel.

"Was meine Cheque angeht ... da werden wir nochmal über die Summe reden müssen."

Der Mantel hält inne. Der Kopf geht halb zur Seite, wendet sich aber nicht zum Inhaber der Saufhöhle um.

"Werden wir, ja?"

Ein Mann fällt zu Boden. Zwei Uniformierte heben ihn an den Armen. Schleifen ihn raus. Spuren in Erbrochenem. Singen von Glas. Knirschen.

Irgendeiner stirbt bei so einer Räumung immer. Gesetz der Straße.

Bedauerlich nur, dass der Mann nicht Warden heißt ...

Hinter dem Manteltyp fällt die Tür ins Schloss. Das heißt: Ihr Rahmen.


Morgen kommen die Bagger.
 
AW: Cyberpunk RELOADED 2.0.3.5.

Auf cyberpunk 2032 gibt's was Neues, nämlich Infos zu den letzten 2 Modulen der Gruppe. Inklusive dem Fast-TPK (1 Überlebende) am Ende des gestern abgeschlossenen Abenteuers "ASHES".

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Realstart/Ende: 2007-05-15 bis 2007-11-04
Spielstart/Ende: 2035-05-15 bis 2035-05-18

A | S | H | E | S

- I n t r o -


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Konzernstadt Night City,
California Nordsektor, ISA


P a t t y
Night City schmilzt in der Hitze des Frühsommers 2035. Hier draußen, außerhalb der klimatisierten Räume von Trauma Team, merkst du es wieder. Spürst die verzehrende Sonne, die drückende Schwüle, die aus den austrocknenden Kanälen der Stadt in die Straßen steigt.
Zehn Stunden Arbeit liegen hinter dir. Vier Stunden Mobiler Einsatz, drei Stunden Aufnahme – Kreislaufzusammenbrüche, Hitzschlag, überhitzte Implantate, meist – zum Schluss drei Stunden Bereitschaft und Büro. Anschließend abduschen – Luxus! – dann in die Zivilklamotten, und ab nach draußen.
Dein Kopf ist noch halb bei der Arbeit, halb in der nächsten Bar und bei einigen Burritos, deshalb entgeht dir der schwarze Sedan, bis er mit aufsurrendem Motor neben dich zieht. Du stoppst, alarmiert. Er hält an. Die hintere Seitentür öffnet sich selbsttätig. Halbdunkel hinter schattierten Scheiben. Eine weibliche Gestalt.
„Darf ich Sie zu mir in den Wagen bitten? Ich habe Ihnen ein Angebot zu unterbreiten“.
(...)
Die Person im Wagen ist Asiatin. Und eine reichlich traditionelle offenbar. Das Gesicht ist weiß getüncht, mit einer kunstvollen Bemalung – kein Implantat – im Kabuki-Stil, dem Stil der Japanischen Oper, der aktuell sehr en vogue unter Night Cities japanischer Elite ist – und das stark mit dem körperbetonten lackschwarzen Catsuit der Asiatin kontrastiert.
„Sie haben vor nicht allzu langer Zeit eine Mitarbeiterin des NCPD kennen gelernt, für die sie einige sagen wir ‚Privatermittlungen’ durchgeführt haben.“
„Nun, besagte Person hat offenbar in jüngerer Zeit den Hang dazu entwickelt, sich außerhalb ihrer geregelten Arbeitszeiten mit nicht ganz ungefährlichen Erkundigungen zum Tod ihres Partners zu beschäftigen. Was es leider jenen, die mit dem Erhalt ihres Wohlergehens beauftragt sind, schwierig macht, ihrer Pflicht nachzukommen.“
Sie wendet sich ab, blickt in die vorbeiziehenden Lichter des Expressways. Ihr fahrt südwärts auf den Gibson, deiner Wohnung zu.
„Sie können uns helfen, die betreffende Person vor sich selbst zu schützen. Ohne, dass sie etwas davon erfährt. Die junge Dame hält sehr viel auf ihre ‚Selbständigkeit’, und es ist ihr offenkundig egal, wie respektlos dies gegenüber ihrer Familie ist. Jene hofft weiterhin, dass sie eines Tages zur Vernunft kommen wird – aber damit dieser Tag kommen kann, muss sie ihn auch erleben.“
„Soweit es ihre Arbeit bei der Polizei betrifft, ist für sie gesorgt. Sie wird abgeschirmt und von gefährlichem Fronteinsatz – für den sich das Kind immer wieder bewirbt – ferngehalten. Das hat sehr gut funktioniert. Aber nun genügt das nicht mehr.“
Sie wendet sich dir zu, blickt dir direkt in die Augen
„Sie sucht außerhalb des Departments nach ihren Kicks. Und verkennt, in welcher Gefahr sie bei diesen ganzen Verrückten und dem Abschaum da draußen schwebt. Ich beauftrage Sie damit, das Kind zu behüten. Und im Falle, dass sie Schaden nimmt, ihre medizinische Versorgung zu übernehmen, bis professionelle Hilfe geschickt werden kann.“
Sie greift in die Innentasche ihrer Jacke, zieht eine graue, unbeschriftete Karte hervor und gibt sie dir.
„Dies ist eine Notrufkarte, die direkt mit dem medizinischen Notdienst der Familie verbunden ist. Ihre Aufgabe ist es, das Kind vor Schaden zu bewahren, es im Falle, dass sie versagen, zu stabilisieren und diese Karte zu zerbrechen, damit Hilfe geschickt werden kann. Darüber hinaus haben Sie Stillschweigen zu dieser besonderen Vereinbarung zu wahren, und die medizinische Versorgung anderer Personen zurückzustellen. Sie sind nun ihre Leibmedizinerin.“
Sie blickt wieder in die vorbei gleitenden Lichter.
„Mit Ihrem Arbeitgeber ist die Angelegenheit geklärt. Sie sind von uns auf unbefristete Zeit gebucht und uns ausgeliehen worden. Wir hätten Sie auch übernommen, glauben aber, es ist für Ihre Tarnung gegenüber dem Kind besser, Sie behalten offiziell ihre Tätigkeit bei Trauma Team bei. Auch Ihr Gehalt beziehen Sie weiter via Trauma Team. Ich bin ermächtigt, Ihnen eine monetäre Vergütung in Höhe von plus einem Viertel Ihres bisherigen Einkommens zu gewähren, zuzüglich einer ARASAKA IdentiCard für Angestellte. Ihr Angestelltenverhältnis ist Ihrerseits unkündbar und wird anhalten, bis die junge Dame zur Vernunft gekommen ist und eine leitende Tätigkeit für die Konzernsicherheit Ihres Hauses angenommen hat, oder bis Sie sich als inkompetent für die Ihnen gestellte Aufgabe erwiesen haben, in welchem Fall unser Verhältnis terminiert wird.“
Draußen gleiten die Trassenleuchten des Gibson Expressway vorbei. Der Sedan überholt ohne Eile einen aus 6 miteinander verlinkten Wagen bestehenden Road Train von Dionysos Industries. Sie dreht sich wieder zu dir um:
„Herzlichen Glückwunsch. Haben Sie noch Fragen?“
(...)
"Yoroshiku onegai shimasu – Ja mata"
M a v e n
Venedig. Jede Stadt hat ihren Bezirk, der durch die den Steinbrocken fallenden Wellen vom Meer überspült wurde.
Vom alten Seagull’s Cradle vor Night City sind nur noch in den Himmel ragende Skelette übrig. Schief im gelben Meerschaum stehende Ruinen. Das neue Venedig der Stadt reicht nun 6 Kilometer in die Weststadt hinein, und noch am Elm’s Park steht das Wasser bei Flut knöcheltief.
Du erwachst. An der schimmeligen Decke über dir tanzen Reflektionen von Wasser. Wasser, das unter dir, Stockwerke unter dir, am Grund des Treppenhauses gegen moosige Teppichstufen schwappt.
Es ist Stunden her, dass du das letzte Mal das Fauchen der AV Motoren gehört hast. Schließlich haben dich Erschöpfung und die abklingenden Adrenalin-Booster schlafen lassen.
Du setzt dich auf. Der Gang im vierten Stock des Restes eines einstigen Hotels ist so leer, wie du ihn vorgefunden hast. Die Wände sind von Graffittis übersäht. Irgendwo, weit weg, hustet jemand. Einer der Letzten, die in Venedigs Gebäuden Zuflucht suchen. Leute wie du. Auf der Flucht.
Das verebbende Adrenalin lässt Kopf- und Muskelschmerz zurück. Stickig ist es hier. Draußen ist die Sonne aufgegangen. Brennt aufs Wasser. Und in den Schluchten von Venedig steht der heiße Nebel verdunstender Schmutzwässer. Auch hier, im Treppenhaus, in das du dich in einer fernen gestrigen Nacht geflüchtet hast. Um den Greifern der BuReLoc zu entfliehen. Nachdem die Party am alten Ausleger, 2 Klicks von hier, gebustet wurde.
4 Bands – alle vom Network of Resistance – und rund 600 Fans. Kein Riesending. Nix, was die Aufmerksamkeit der High and Mighties hätte erregen müssen. Klar – kein Gig ohne Risiko – aber laut euren Infos – und laut Zusicherung von Two-Tone, dem organizing Fixer und Chef des Pyrate Blog Radio Streams PBRS, hätte die Location so weit off-interest sein müssen, dass Störungen extrem unwahrscheinlich wären.
Unwahrscheinlich. Fuck.
Die Greifer kamen im 4. Takt von Urban Hellfire – Sinas neuer Solo Dance Nummer. Du warst Backstage. Was Trinken. Kurzer Power-Nap vorm nächsten Set. Backstage. In diesem Fall hieß das: 100 Meter off, an Bord der SeaBlade, einem im Steinbrockenkrieg aus irgendeinem verwüsteten Yachthafen geklauten Jetkatamaran, dessen Pilot und Owner Booster seinen Namen nicht zu Unrecht hatte. Friede seinen Einzelteilen.
Hits des BuReLoc gegen Venice hatten Seltenheitswert. Und das nicht nur, weil die Harbor Police chronisch underfunded war und insofern wenig Amtshilfe leisten konnte. Diesmal aber kamen sie mit allem, was das Bureau aufbieten konnte. Zu Wasser und zur Luft. Und – soweit du es mitbekommen hast – mit Hilfe von Sabotage oder einer gekauften Gang vor Ort, denn außer der SeaBlade hatte es kaum ein Schiff vom Anlegesteg weg geschafft.
Du reibst dir die Augen, prüfst deinen Körper auf Blessuren, die du vor lauter Adrenalin noch gar nicht mitbekommen hast. Dein Bein schmerzt und ist so blau, dass es schon schwarz aussieht. Du bist ganz schön herumgeschaukelt worden, als Booster die SeaBlade mit dröhnenden Jet Turbinen über die Wellenkämme, durch überflutete Straßenzüge, durch eine überflutete Mall, kreischend über ein flaches Trockendach, gischsprühend durch aufspritzende MG-Garben jagte.
Deine Handgelenke sind noch taub vom Kickback vibrierender Gun-Griffe, mit denen du versucht hast, die euch jagenden, dicht über das Wasser flitzenden, überraschend von oben hinabjagenden markierungslosen raketenbellenden Spinner abzuknallen – oder zumindest auf Distanz zu halten.
Du weißt nicht, wann Booster genau erkannte, das Spiel verloren zu haben – jedenfalls jagte er in ein halb überflutetes Parkhaus, schrie dir zu, dass du abspringen solltest, und raste danach mit schreienden Turbinen in die Nacht. In die Richtung, aus der wenig später ein Feuerball emporstieg.
Der Rest der Nacht war ein Irren durch unbekanntes Gelände. Ab und an kamen nochmals Geräusche. Ein Spinner. Zweimal ein Hover, Küstenwacht. Auf der Suche nach denen, die geflohen waren. Und das würden nicht viele gewesen sein.
Booster hatte dir den Seefunk in den Helm gespielt, den er dir reichte. Ein alter Navy Helm mit Zielhilfesystem, ohne das du vermutlich keinen einzigen Schuss angebracht hättest. Du reibst dir die Schultern. Stehst auf.
Dem Seefunk der Nacht nach waren die meisten Jetbikes, Hover und Boote der Raver außer Gefecht gesetzt worden, bevor die Greifer kamen. Obwohl niemand so genau zu sagen wusste, wie oder durch wen. Ein EMP? Nein. Dann hätte die Bühnentechnik versagt.
SINA!
Sie stand auf der Bühne, als es passierte. Schaffte es nicht mehr zur Blade, ehe Booster den Kickdown machte und euch – dich, MC Baal, Lace, die Jungs der Rebel Clown Army, ein paar andere – rausbrachte. Vielleicht hat sie es irgendwie weg geschafft? Der Gedanke ist Unsinn, und du weißt es. Spürst es. Dass die BuReLoc sich ein paar Raver greift, ist Unfug. Vor allem deshalb, weil der Talk of Town sagt, dass die BuReLoc in Night City vor allem nach der Pfeife von MegaCon tanzt, um „sauberen“ Baugrund für die neuen Konzernzonen zu bereiten.
Also war die Brigade das eigentliche Target. Möglicher Weise auch nur die Pyrate Station. Institutionen, die daran ein Interesse haben, die letzten „freien Radikalen“ mundtot zu machen, gibt es leider genug. Und es ändert verfickt noch mal nichts an dem Fakt, dass Sina vermutlich tot oder von den Greifern geschnappt wurde.
Vorsichtig gehst du durch das Treppenhaus hinab. Sinkst ein in den weichen Spülschlamm, den Ebbe und Flut in die Lobby des Hotels geschwemmt haben. Spähst hinaus.
Die Sonne brennt hell vom Himmel. Schräg gegenüber, etwa 200 Meter die Strasser hinab, ragt das Parkhaus aus den Fluten, wo du abgesetzt wurdest. Du flippst dein Handy auf. Hast Empfang. Nicht viel, aber immerhin.
Ein Anruf bei Monarch, einem Ex-Runner für die Water Rats, wird dich von hier schon wegbringen. Dann: Erstmal zu Patty, nen Body Check machen lassen. Schlecht, sich in dem Siff hier was einzufangen. Oder nen Steckschuss zu haben, von dem man nix weiß, bis man zusammenklappt.
Zudem: Vielleicht hat Patty einen gut bei dieser Cop-Tusse. Auch wenn die ein kleines Licht ist – in die Reports der Nacht müsste die reinkommen.
Du bist Sinas einzige Chance jetzt. Keine Zeit für falschen Stolz.
Oder Hemmung, nen Cop-Kontakt zu nutzen.
(Coris Char)
Es waren nicht viele Leute bei der Farewell Zeremonie für Police Officer Warden Sigorsky. Du. Ein paar Kollegen. Captain Ikiata. Dr. Harrow nicht. Dafür seine Ex und ihre – seine – beiden Kinder.
Die Zeremonie war einfach. Ein neutraler, weißer Andachtsraum im Untergeschoss des Monolith Instituts, der Einäscherungsfirma mit Exklusivvertrag für NCPD Angehörige. Ein Priester, katholisch, auf Wunsch der Ex-Frau, Warden habe sich das gewünscht. Und als die Urne in Klappe Nummer 45337 verschwand, spielte dazu „Danny Boy“.
Du hältst Wardens Bild in Händen. Irgendeine Aufnahme, auf der er etwas debil grinsend in die Kamera winkt. Du hast gefragt, ob du sie haben kannst, als du seiner Ex bei der Auflösung der Wohnung zur Hand gegangen bist. Sie hatte nichts dagegen. Auch nicht bei den anderen Sachen, die du eingesteckt hast, alles in allem zwei Kartons zuzüglich des Krimskrams aus seinem Schreibtisch.
Natürlich hast du insgeheim gehofft, in dem Material noch irgend einen Hinweis zu finden. Ein Geheimfach mit einem Datenchip, der Wardens gesammelte Erkenntnisse über eine ominöse, riesige Verschwörung enthalten würde, der nur du dich jetzt noch entgegenstellen könntest.
Natürlich warst du dir klar darüber, dass das Quatsch ist. Wenn Warden etwas von irgend einer Verschwörung gewusst hätte – wofür oder wogegen auch immer – hätte er dir was davon erzählt. Oder es wenigstens mal angedeutet.
Nein, die Erkenntnis, dass Warden selbst keine weiteren Erkenntnisse hatte, dass sein Tod einfach nur ein „Death as usual“ war, bestürzend alltäglich, der Tod eines Cops, der den falschen Leuten in die Quere gekommen war, diese Erkenntnis war keine Überraschung gewesen.
Vielleicht gerade deshalb war dir so kalt geworden, als du den letzten Gegenstand des letzten Kartons (eine potthässliche Kitsch Mickey Mouse Tischuhr, herrjeh!) weggelegt hattest.
Jetzt ist es was? 6 Wochen später. Und die Sache – Wardens Tod, und all die im Sand verlaufenen Spuren – lassen dich immer noch nicht los.
Draußen surrt ein Spinner vorbei. Die Stadt flimmert in der frühen Sommerhitze.
Du hockst in Wardens Appartement. Leer. Fertig für den Neubezug. Der Facility Manager hat dich reingelassen. Was du hier suchst, weißt du selbst nicht so wirklich. Abschließen, vielleicht. Adieu sagen, vielleicht.
Auf deinen Knien liegt ein Laptop, mit allen Daten zu den Dingen, die dir im Kopf herumgeistern.
Da ist der Fall, an dem Warden zuletzt dran war. Ein Ring von Raubkopierern. Spezialisiert auf DMS Warez. Die Festplatte, die das japanische Hackerkid eingesteckt und an diesen Bishop gegeben hatte, der sie wiederum dir weiterreichte (vermutlich nachdem er und das Kid sich ihre jeweilige eigene Kopie gezogen hatte) enthielt praktisch nur Copies und Buffer Fragmente. Copy Scripts und Programme zum Copy Protect Hacken.
Laut Ansicht des Hacker-Kiddies war nur eine Sache an den enthaltenen Daten wirklich ungewöhnlich: Der große Anteil an Zero-Day Warez. Anhand der abgespeicherten Timestamps war abzulesen, dass ein ungewöhnlich hoher Anteil der Raubkopien direkt am Tag der Erscheinung des Originals oder recht dicht danach, in zwei Fällen sogar VOR Release der Originalversion erstellt worden waren.
Gerichtlich verwertbar waren diese Facts zwar nicht – jeder konnte Zeitdaten von Dateien beliebig auf einer Festplatte ändern – aber es war ein solider Hinweis dafür, dass die DMS Raubkopien ein „Inside Job“ waren, also die DMS Originals von einem DMS Mitarbeiter dem Raubkopierer Ring zugeführt wurden, möglicher Weise mit Codes und Spezifikationen, wie man den Kopierschutz umgehen könne. Möglicher Weise sogar direkt und unverschlüsselt, vor Aufspielen der Copy Protection.
Leider gab es keine weiteren Hin- und erst recht keine Beweise, die diesen Verdacht unterfütterten: Die Gruppe hatte beim Einstieg in die Schifffahrtskirche – die offenbar ein Copy- und Verteilungszentrum für die anderswo gecrackten Warez war – im Keller ein Feuer entzündet, das alle Beweise vernichtet hatte.
Was den Van betraf, sah es ähnlich deprimierend aus: Da die Gruppe losgelegt hatte, ohne sich mit dir zu koordinieren oder dir zumindest eine Nachricht des bevorstehenden Einstiegs zukommen zu lassen, hattest du nicht wie geplant den Van dingfest machen oder taggen lassen können. Da das Purgatory nun ausgebrannt war, hatte es für den Van keinen Grund gegeben, die betreffende Gegend erneut aufzusuchen, und die Besitzer desselben waren klug oder paranoid genug, ihn vor Abschluss seiner letzten Runde in einen von Night Citys Kanälen zu werfen, wo er dann später – völlig ausgebrannt – gefunden wurde.
Der Fall war nicht abgeschlossen, aber nach den Regularien gab es aktuell keine Begründung, ihn weiter aktiv zu verfolgen: Ein unmittelbarer Zusammenhang zu Wardens Tod war nicht zu konstruieren – auch nicht mit viel Fantasie – und trotzdem Zero-Day Raubkopien ein äußerst lukratives Geschäft waren, bestand hier kaum ein öffentliches Interesse: Eine Mail an DMS und deren CorpSec Abteilung wäre die einzige angemessene – und an dieser Stelle vorgeschriebene – Aktion. Womit der Fall für das NCPD abgeschlossen wäre.
Bleiben die Leichen in der benachbarten Fischfabrik. Natürlich wurde hierzu ein File geöffnet, und da die Vorfälle zu einer Zeit geschahen, da das Areal noch nicht Konzernzone war, fallen diese zu deiner Freude (und nach einiger guter Cop-Arbeit deinerseits) in NCPD Zuständigkeit.
Allerdings waren bisher trotz anfänglicher Euphorie alle Spuren kalt geblieben. Ein Zusammenhang zwischen den Leichenbeseitigungen und den Raubkopierern war außer auf Basis zufälliger Nachbarschaft nicht zu sehen, und die Identifikation der Genspuren von 3 der insgesamt wohl 25 Opfer als Angestellte von Net54 machten noch nicht DMS zum Täter, zudem 2 weitere selbst als DMS Angestellte identifiziert wurden.
Zudem es ohnehin unwahrscheinlich war, dass DMS „offiziell“ hinter der Sache steckte. Wenn, so deutete alles darauf hin – erneut: Ohne dass davon etwas beweisbar wäre – dass ein einzelner DMS Mitarbeiter – vermutlich im Management – sowohl hinter der Beseitigung von Rivalen als auch den DMS Raubkopien als „einträgliches Nebeneinkommen“ steckte. Vielleicht waren ihm die getöteten DMS Angestellten auf die Schliche gekommen. Vielleicht waren sie einfach im Weg gewesen.
Sei es wie es sei, die Ermittlungen steckten fest. Und das seit Wochen. Alles, was du hast, sind unbestimmte Gefühle – Cop Grips, hätte es dein Mentor genannt – und zwei offene Akten, von denen mindestens eine geschlossen und ans DMS Management geschickt gehört, wo sie möglicher Weise genau von dem Arschloch in Empfang genommen wird, der all das zu verantworten hätte.
Natürlich hast du das DMS Management durchkämmt, aber selbst der sorgfältigste Abgleich zwischen dem Zeitpunkt der Tode der in der Fabrik gefundenen Opfer(Reste) und der jetzt laufenden Raubkopie-Aktivitäten brachte keine Treffer: Es gab keinen Konzerner im Management von DMS Night City, der damals ebenso wie heute auf einer Position im Konzern gewesen wäre, das Vermutete auch getan zu haben.
Der einzige – oder wie es sich verhielt DIE einzige – die dir überhaupt aufgefallen war, war Hitumi Kituasa, die amtierende CEO von DMS Night City, und das auch nur deshalb, weil ihr Aufstieg innerhalb von DMS etwas bemerkenswert schnell gegangen war.
Andererseits war Miss Kituaras Aufstieg auf den zweiten Blick auch nicht soo auffällig, hatten sich DMS und Net54 Night City doch Mitte/Ende der 20er ziemlich offensive Gefechte geliefert, was auf beiden Seiten stets auch eine gewisse „Fluktuation“ (und Manager-/Producer-/Media-/Star-Sterberate) mit sich gebracht hatte.
Einige Momente vergehen. Dann drückst du auf SENDEN und überstellst den vorläufigen Abschlussbericht zum Fall der Raubkopien an DMS CorpSec. Sollen die sich damit herumschlagen, einen Verräter in den eigenen Reihen zu finden – würde der Bericht noch länger zurückgehalten werden, wäre es ein strikter und überaus nachweisbarer Verstoß gegen die Dienstordnung. Und würden sich neue Erkenntnisse finden, könnte der Fall neu aufgerollt werden.
Ein weiterer Klick, und das File über die Morde bzw. die Leichenbeseitigung in der Fischfabrik landet in deinem privaten TO DO Ordner. Plus Haftbefehl für den früheren Besitzer der Fabrik, egal, wie unwahrscheinlich es war, dass dieser noch in Night City oder in der Stadt auffindbar war.
Dann piepst dein Handy, und ein kurzes Telefonat später erhebst du dich, um einen IOU abzuzahlen. Ein letzter Blick, dann fällt die Tür zu Wardens Leben ins Schloss. Und die Wohnung bleibt leer zurück.
A l l e
Das Fiepsen ihres Handys ruft Patty aus dem Schlaf. Ein Blick auf die Uhr – 9:42 Uhr – viel zu früh angesichts der Tatsache, dass sie erst vor 5 Stunden ins Bett gegangen ist, wo sie trotz großer Müdigkeit erst sehr viel später Schlaf gefunden hat.
Das Fiepsen wiederholt sich. Sie erkennt es: Ein medizinischer Ruf, nicht von Trauma Team, sondern von einem ihrer „Privatpatienten“. Sie rafft sich hoch, kriecht mehr denn sie geht zum Handy (warum habe ich es bloß in der vermaledeiten Jacke gelassen, statt es mir neben das Bett zu legen, ich Idiot) und sieht aufs Display: Nummer unterdrückt. Na klar.
Kurz zögert sie, ob sie es einfach weiterbimmeln lassen soll. Dann klickt sie auf ABNEHMEN.
Maven ist dran. Erzählt ihr irgendeine obskure Story davon, dass er gestern einen Gig hatte, der vom BuReLoc gebustet wurde. Er sei auf dem Weg nach Night City (wo zum Geier ist er denn gerade?) und bräuchte wen, der sich seinen Körper anschaut. Nur zur Sicherheit.
Sauer darüber, wegen einer offenkundigen Nichtigkeit geweckt worden zu sein, schnaubt Patty ein „Geht klar“ in den Hörer, nur um Maven weiterreden zu hören, dass er sie weniger wegen seiner diversen blauen Flecken und den mördermäßigen Kopfschmerzen angerufen habe, sondern wegen Sina, seiner Partnerin (was für eine Partnerin? Diffuse Erinnerungen, sie mal getroffen zu haben, Sina Niocca, kurze schwarze Haare, damsls neu: weiße Flash Haarspitzen, traurige Augen) – er müsse wissen, was mit dieser sei.
Patty schlurft telefonierend zum Kühlschrank und fischt sich ein VitaWater heraus, trinkt und hört zu und murmelt noch immer nicht ganz klar, dass sie gerne die Krankenhäuser checken ... Nein, darum gehe es nicht – aber Patty soll doch neulich was mit diesem Cop, dieser Cop-Tusse zu tun gehabt haben, was, wo sie seine Hilfe hatte haben wollen, und er verneint habe, ob sie das getan hätte.
„Hör mal, Mave, ich weiß wirklich nicht, was das eine ...“
„Hast du oder hast du nicht?“
„Klar hab ich – haben wir – aber was ...?“
„Ihr habt keine Knete bekommen, oder? Stattdessen einen gut bei ihr, nicht wahr? So wie immer, oder?“
Er klingt ungewöhnlich verzweifelt. Und langsam dämmert ihr, was er von ihr will.
(...)
Es ist 2 Stunden später, als Maven und Patty die Tür zum Muffins & Mann durchschreiten. Die Bullizistin ist schon da, sitzt im Hintergrund, auf einer drei Stufen erhöhten Empore, die fast völlig durch eine Belustrade und irgendein grünes Plastik-Dingsbums, das wohl Farn oder so etwas darstellen soll, vom Rest des Raumes getrennt ist.
Ihr bestellt an der Theke und geht hoch. Maven humpelt etwas. Patty begutachtet hinter ihm gehend seine Bewegungen. Von wegen Kleinigkeiten. Sie würde ihn ordentlich durchchecken müssen. Wie kann man als Tänzer nur so sorglos sein...
(...)
„Um gleich zum Punkt zu kommen“ werdet ihr von der Polizistin in zivil begrüßt „Es gab keinen BuReLoc Einsatz in Venice gestern.“
Maven schnaubt misstrauisch: „Ach ja? Zufällig weiß ich da anderes.“
Ihr Blick bleibt kühl, ohne Regung. Patty interveniert: „Ist das sicher? Ich meine, dass es keinen BuReLoc Einsatz gab? Könnte es nicht sein, dass er nicht in die NCPD Datenbank eingetragen wurde?“
Sie nickt, widerstrebend: „Technisch gesehen könnte das sein. Das Bureau of Relocation ist kein Unit des NCPD. Und in der Diensthierarchie steht es was irgendwelche Räumungen angeht stets über uns. Im Regelfall erfahren wir von Operationen des Bureaus – oder sonstiger ISA Dienste, was das angeht – nur dann, wenn sie Amtshilfe anfordern. Sprich: Wenn unsere Jungs kommen sollen, um ein Areal abzusperren, Leute zusammenzutreiben oder einem Transportzug sicheres Geleit zu geben“.
Maven presst die Kiefer zusammen.
Sie senkt den Blick, entschuldigend: „Es ist nicht so, als würden unsere Leute diese Art von Einsatz gerne bestreiten. Nicht nur, weil es in der Regel schlecht vorbereitete Missionen sind und wir zu wenige Infos haben, die Einsätze schlampig geplant sind und auf NCPD Interessen keine Rücksicht nehmen. Auch die Rechtslage ist in den meisten Fällen schwammig, und es gibt mehr als nur ein paar bei uns, die gerne vorab prüfen würden, ob die im Eilverfahren erstellten Bescheide so wirklich völlig solid und legitim sind. Fakt ist aber: Solange das Bureau das GO des Gerichts hat, ist unsere eigene Ansicht irrelevant.“
„Was nun den Fall mit gestern abend angeht, so gab es natürlich BuReLoc Einsätze. Ein paar davon sind aktenkundig geworden, in zwei Fällen wurde auch Amtshilfe bei uns angefordert. Aber keiner dieser Fälle betrifft die Harbor Police, oder unsere AV Staffel West, oder das Operationsgebiet Pacific Coast Region PCR. Ich schließe nicht kategorisch aus, dass das BuReLoc dort oder anderswo gestern irgendwelche Einsätze hatte, aber ich kann ausschließen, dass das Department – und damit meine ich auch die Harbor Police, NOCH gehören die zu uns – irgendetwas damit zu tun hatte.“
„Weißt du das nur per Datencheck oder...“ fragt Patty, und die Antwort folgt sofort: „Natürlich nicht. Als die Data Search kein Ergebnis brachte, hab ich rumtelefoniert. Hab behauptet, einen Anruf von nem Informanten wegen angeblichem Waffenfeuer im Venice District gehabt zu haben, ob da gestern nacht was war und ob das die Harbor Police war. Aber das einzige, was in der Gegend war, ist eine Meldung über zwei Waffengefechte zwischen rivalisierenden Jetski-Gangs, eine Explosion in den Ruinen, vermutlich Gasleck oder Altlasten aus dem Konzernkrieg, und eine Verfolgung eines Schmugglerpanzers durch die HPs, aber viel weiter nördlich. Und das war das“.
Maven legt die Stirn in Falten. Denkt angestrengt nach
(...)
„Möglicher Weise war die Harbor Police und das NCPD doch nicht dabei.“ Der unlesbare Blick der Asiatin reizt Maven, der schärfer entgegnet, als er vorhatte: „Was macht das schon für einen Unterschied, wenn du von allen Seiten beschossen wirst? Ja, da waren AVs und Powerboote und Hover und Lautsprecherdurchsagen und Scheinwerfer und Sirenen, und wer schrie auch was von wegen H.P. und Cops in meine Funke ...“
„... aber selbst gesehen haben Sie ... hast du die Polizei nicht, nicht wahr?“
Maven zuckt die Schultern. „Es war das reinste Chaos, Mann.“ Er grübelt nochmals
(...)
„Nein, wirklich gesehen hab ich die Cops nicht. Wir waren ja schon auf Highspeed weg vom Anleger, noch ehe der Hit anlief. Booster – der Cäptn der Seablide, dem Jetkatamaran, der unser Backstage-Bereich war – zündete sofort die Turbinen, wohl nnachdem er nen Warnruf von nem Späher der Orgas des Rave bekommen hatte. Ich – wir alle in der Umkleide – wir haben ganz schön gebraucht, ehe wir überhaupt geschnallt haben, was abgeht. Dann hab ich mir nen Geschütz gekrallt, Booster hat mir nen Helm mit Zielpeilung und Funk-Link aufgesetzt, und der Rest ... ich hab auf Scheinwerfer gefeuert ... keine Ahnung, ob die Fahrzeuge dahinter Cops oder BuReLoc waren. Ich hab nur nie gehört, dass das Bureau Hover, Boote und AVs hat – also nahm ich an, dass es die Cops seien.“
„Gut. Sie waren es aber nicht. Das Ding hat das Bureau wohl selbst gestemmt. Wenn es das Bureau war. Ich jedenfalls bezweifele es.“
„Und warum?“ will Patty wissen.
„Weil Maven völlig recht hat: Wenn das Bureau hätte einen Hit gegen ein Ziel in Venice gemacht hätte, hätten sie Hilfe von der Harbor Police angefordert. BuReLoc hat keine Hover oder Boote an der kalifornischen Westküste. Und das Büro hat genug damit zu tun, Baugrund für MegaCon zu sichern – warum sollte es einen Rave hochnehmen?“
 
AW: Cyberpunk RELOADED 2.0.3.5.

- I n t e r l u d e -

Konzernstadt Night City,
California Nordsektor, ISA


Venedig am frühen Abend. Jede Stadt hat ihren Bezirk, der durch die den Steinbrocken fallenden Wellen vom Meer überspült wurde.
Vom alten Seagull’s Cradle vor Night City sind nur noch in den Himmel ragende Skelette übrig. Schief im gelben Meerschaum stehende Ruinen. Das neue Venedig der Stadt reicht nun 6 Kilometer in die Weststadt hinein, und noch am Elm’s Park steht das Wasser bei Flut knöcheltief.
Von draußen dringt das sonore Wummern der „Barter“. Einem schrottreifen Hovertruck, dessen Pilot „Jethro“ euch netter Weise hier rausgefahren hat. Ins Niemandsland zwischen Ebbe und Flut. Ölschlick und Trümmer. Amerikas Vergangenheit und jene, die keine Zukunft haben.
An der schimmeligen Decke über euren Köpfen tanzen trübe Reflektionen von Wasser. Wasser, das unter euch, Stockwerke unter euch, am Grund des Treppenhauses gegen moosige Teppichstufen schwappt.
Patty kniet einen Absatz unter euch. Scannt das Treppenhaus, die Augen bedeckt von einer IR Brille, beide Hände ruhig um den Griff ihrer Waffe geschlossen. Sie hat wenig von einer Medtech, mehr von einem Solo, wie sie dasitzt und ruhig die Umgebung sichert, damit ihr hier oben nach Spuren von Mavens Story suchen könnt.
MC Baal, Pattys letzter Patient, ist soweit ihr wisst neben Maven und diesem Typen namens Lace, der abgetaucht ist, der einzig Überlebende des Network of Resistance Gigs in Venice, nur rund 4 Kilometer von eurem Standpunkt. Und euer letzter Stop, wenn dies hier und der Check des Parkhauses an der Deckard Street nichts bringen sollte.
Unter Führung von Maven habt ihr den Ort gefunden, wo er aufgewacht ist. Und fandet bestätigt, was ihr euch schon gedacht hattet: Dass Maven keineswegs alleine hier hergekommen war, sondern dass er von zwei Leuten hier förmlich abgeladen wurde.
Prüfend hat sich das NCPD-Girl – trotz betont straßentauglicher Kleidung schon aufgrund der Art, wie sie sich bewegt, so ganz fremd hier – auf ein Knie herab gelassen und beäugt kritisch die schwammigen Spuren, welche sich um Mavens früheren Schlafplatz befinden.
„Hm. Also, den Spuren nach könnten es BuReLoc Leute gewesen sein. Oder Cops. Oder jede beliebige andere Fraktion. Außer Arasaka“. Maven kneift misstrauisch die Augen zusammen: „Und warum ausgerechnet Arasaka nicht?“ Mit kühler stimme entgegnet die Asiatin: „Ganz einfach. Das Profil der Stiefel deutet auf einen Arasaka Standard Issue Stiefel hin. Da Arasaka Marktführer im Bereich Sicherheitsbekleidung ist, sind diese Stiefel buchstäblich überall zu finden. NCPD inklusive. Allerdings verwendet Arasaka selbst ein neues Modell, und zwar schon seitdem sie ihre Standard-Uniformen von dem Blüten-Design auf den heutigen, mehr samurai-lastigen Elitesoldaten Look umgestellt haben. Sprich: Wenn die Leute, die dich hier abgeladen haben, Arasaka-Soldaten gewesen wären, hätten sie -wenn in Uniform- das neue Modell getragen, und wenn sie undercover in Zivil hier gewesen wären hätten nicht beide die gleichen Stiefel an. Aber wir können das gerne von einem Augenzeugen bestätigen lassen – wenn wir hier einen finden.“
Suchend blickt ihr euch um. Und starrt in zwei große, tiefbraune Kinderaugen, die euch angstvoll und neugierig aus dem Stockwerk über dem euren anstarren.
 
AW: Cyberpunk RELOADED 2.0.3.5.

- L a s t -

Konzernstadt NIGHT CITY
Freitag, 18. Mai 2035


Tempus fugit. Die Gravur auf der Rückseite der rostfreien STEINER Stahluhr ist noch sichtbar. Trotz Säureregen. Trotz Hafenwasser. Trotz Misshandlungen jeder Art, die einem Chronometer der Zwanzig30er zugefügt werden können.
Die Lichter des Expressway schneiden Lichtschneisen durch das Innere des Wagens. Nur gelegentlich stört ein sanftes Rumpeln das gesichtslose Gleiten der Pneus auf dem geriffelten Asphalt.
Mit einem Klicken schnappt das Gelenk der Uhr ein. Und sie kehrt an ihren Platz am Mavens Handgelenk zurück.
Zeit vergeht. Verschwindet. Flieht. Zerrinnt. Sina hat ihm die Uhr geschenkt, nach dem Gig in der Bay Arena in San Francisco. „Damit du nie vergisst, dass das Leben kurz ist. Und zu Schade, um sich mit Unwichtigem aufzuhalten.“
Sein Blick geht hinaus in die regenverwischten Konturen. In der Ferne brennen die Werbeleuchtfeuer von Downtown. Himmelsschreiber und Blips. Laserbeams und Skimmer über der funkelnden Nässe der Stadt. Night City. Wo er nur ein paar Monate bleiben wollte, und das ihn nun schon so lange gefangen hält.
Die anderen im Wagen sind in ihr Gespräch vertieft. Und die Zuhörerin lauscht aufmerksam, nur gelegentlich Fragen stellend, während ihre Hände geisterhaft auf einem Face tanzen, das nur sie selbst sehen kann.
Durch die Trennscheibe ist der graue Hinterkopf des Fahrers zu sehen. Und die groben Stecker, schwere Zwanziger-Ware, die seinem Genick das archaische Aussehen einer Bestie aus vergangenen Zeiten verleihen.
Die Runnerin heißt Nadja. Russin. Genau wie der Fahrer. Dancer. Beides Ex-Nomaden. Und somit in doppelter Hinsicht Experten für das, was es zu tun gilt: Sina aus den Fängen der Fleischhändler holen. Die Russen sind. Und die sich Ravven Shiv, den Abschaum der Nomadenwelt, als Knochenbrecher an Bord geholt haben.
Nadja nickt, nachdem alle gesagt haben, was zu sagen war. Sie sieht jung aus. Nichtmal ganz volljährig. Eine gute Arbeit. Glatte Haut. Feste Brüste. Seidiges Haar. Große Augen. Lange Wimpern. Tigermuster-Tattoos, die sanft im Kontrast zur vorbeigleitenden Straßenbeleuchtung pulsieren. Retro. Und dadurch verräterisch. Ein kindlicher Mund. Süß. Unschuldig. Modell nach dem Ideal von 2025. Kurz vor dem Crash. Gut designed. Sie geht auf die vierzig zu. Oder ist schon drüber. In dieser Hinsicht ist sie das ganze Gegenteil von Dancer, der sein noch höheres Alter ebenso wie seine veraltete Hardware geradezu trotzig zur Schau stellt. Beide waren in den Zwanzigern mal von der Edge. Heute hockt sie beim Helpdesk von Microtech, er fährt Hovertrucks für eines der kleineren Bodenunternehmen.
„Gut“, sagt das Mädchen mit der honigsüßer Stimme und dem zuckersüßem Lächeln: „Ich fasse das nochmal zusammen, nicht dass ich was übersehe, und lasse gleich einfließen, was die Net-Jagd gebracht hat.“
Lichtreflexe huschen durch ihre braunen Augen, als ihr internes Display die Daten einströmen lässt und in Fraktal-Arme wechselseitiger Beziehungen aufspaltet.
„Die BuReLoc steht im Ruf, Leute verschwinden lassen zu können. Und ist ein derart schweres Geschütz, dass Fragen nach dem Verbleib von Verschwundenen unbeantwortet bleiben – und in der Szene gar nicht mehr gestellt werden. Dieses Prinzip hat sich wie es sich darstellt jemand zunutze machen wollen, indem er einen Anschlag als BuReLoc-Häscheraktion ausgibt: Das Konzert in New Venice, letzten Montag, also heute vor 3 Tagen.
Der Anschlag auf den Venice Gig wiederum war vermutlich nur ein Ablenkungsmanöver, um Takeshi Yamada aus dem Weg zu räumen, hiesiger Yakuza Unterboss im Bereich Chip-Piraterie. Bleiben wir mal crime-like. Der Act, einen Gig in den Fluten von Venice zu versenken und hunderte Leute in den Tod zu schicken, um ein einziges Schlitzauge zu killen, ist ziemlich krank. Aber der Act ist auch zu detached, zu cryo, als dass es eine persönliche Sache sein könnte. Das Ding stinkt nach Biz. Also ist das Motiv ebenso biz-like. Und das bedeutet: Es geht um Chip-Piraterie, und darum, wer diese Boom-Branche in Night City in Zukunft kontrolliert. Oder darum, was Yamada gewusst hat. Wenn er was gewusst hat. Oder erfahren.“
Ihre substanzlose Handbewegung verrät, dass sie einige der Fraktal-Arme abgetrennt und in ein gesondertes File verschoben hat, und nun andere Arme in den Vordergrund ruft.
„Sehen wir uns den Act selbst an. Der Mover hat einiges in Bewegung gesetzt, um sein Ding durchzuziehen. Sich dabei aber zugleich refinanziert. Er hat unter Verwendung einer Scheinfirma einen Katamaran und andere Requisiten besorgt, um den Eindruck einer BuReLoc Op zu erwecken. Man-mäßig hat er sich mit dem Zaren zusammengetan, dem größten Fleischhändler in Kalifornien. Zu dem später. Im Moment ist wichtig: Der Macher ist gewillt, viel zu investieren, er ist aber nicht almighty. Vor allem scheint er ein Personalproblem zu haben, denn er benutzt Fremdfleisch, um die Sprengladungen am Gig-Floater anzubringen und den Katamaran umzufitten – und holt sich damit Mitwisser an Bord, was man ja exakt vermeiden will, wenn man die Yakuza an der Nase herumzuführen plant.“
Wieder einige geisterhafte Bewegung, während derer euer Wagen sanft an einem autogesteuerten Road Train mit 4 Hängern entlangsummt.
„Versuchen wir mal eine zeitliche Rekonstruktion des Ablaufs.
Der früheste Fact, den wir haben, ist die Anmietung des Katamarans, und letzten Samstag dann diese angebliche Trennung von Takeshi Yamadas Geliebten von ihm. Moment, ja: Nikita Ikagaze, Bühnen-Name Aleksandra, die mit ihm am Samstag per VoiceMail Schluss macht – interessantes Medium dafür, kein Pic, gut zum Waffe an den Kopf halten. Leider hab ich die Data nicht. Würde gerne den Voicestress scannen. Ist aber secondary. Am Montag erfährt dann unser Yakuza-Chipdealer von unbekannt, dass sich sein Popsternchen bei dem Gig in Venice mit Musikproduzenten aus Beijing treffen will, und weil er das als sein Privatproblem betrachtet, macht er sich ohne seine übliche Yakuza-Escorte zur Plattform auf, wo er auch definitiv eintrifft. Und vermutlich erschossen wird.
Die Vid-Daten vom Pirate Blog zeigen, dass es erst zu irgendwelchen Gewalthandlungen auf dem Floater kommt und dann erst zu Explosionen. Außerdem wissen wir, dass von den Partygästen eine ganze Reihe von einem Hover mit BuReLoc-Markierung aus dem Wasser gefischt wurden, nachdem sie mit E-Shocks genullt wurden. Da wir wissen dass der Zar hier mit drinhängt, ist es nicht schwer zu raten, was mit den ganzen Leuten geschehen ist: Die dürften entweder schon verschifft worden sein, wahrscheinlicher aber sind sie im Sachalin, dem Zarenreich und HQ vom Zaren und den Shivs.“
Im rotgedimmten IR-Lichtkegel des Fahrzeugs taucht eine Gabelung im Highway auf. Das Radar und nach hinten gerichtete Verfolgerkameras prüfend, schert Dancer im letzten Moment aus und folgt dem Abzweig Richtung Süd Night City. Das gellende Hupen eines Blitz-Bikes verliert sich im Regen, als dessen Fahrer vor der ihn schneidenden verschrammten Limo wegschlingert.
Das Rumpeln unter den Pneus verschwindet. Der Straßenbelag ist hier ganz neu, und Nadja schweigt einige Momente lang, während sie tief im System der NC Traffic Control die Anwesenheit des Fahrzeugs auf der von Sensoren umlagerten Trasse zu maskieren versucht.
„Gut. Das wäre das. Weiter im TXT. Nebenschauplatz: Pyrate Blog Radio. Der Mover kauft sich bei Pyrate ein, um die Ladungen am Floater anbringen zu können. Wie es sich gehört, erstickt der Macher von Pyrate an seinem Blutgeld und wird kalt gemacht. Sein Second-In-Command bleibt am Leben, geschützt davon, dass er nichts weiß. Leider ist er so bescheuert, via Blog bekannt zu geben, dass der Gig nicht von der BuReLoc gebustet wurde, und dass Maven und ‚seine Leute’ dabei seien, die Sache aufzuklären. Typisch Media. Story comes first. Woraufhin er natürlich für diese Abweichung vom Script bestraft wird. Und jetzt samt der Sendebarke des PBR im Giftschlamm liegt.“
Eine weitere kurze Pause, während der Nadja irgendwelche Face-Operationen ausführt. Sie starrt einige weitere Momente auf das sich nur ihr enthüllende Geflecht an Verbindungen, Verdachtsmomenten, Querlinien zu älteren Files. Ein DMS Logo flirrt vorbei. Draußen wird jenseits des Lichtdamms der Trasse die Dunkelheit tiefer, indem das beleuchtete Center hinter euch zurückbleibt. Unterdessen ihr immer tiefer in die Südstadt gleitet.
„Das Folgende ist nicht bewiesen, aber ich müsste mich sehr irren, wenn ich falsch liegen würde. Wir haben es mit zwei Parteien zu tun. Die eine ist der Zar, Fixerbaron der Fleischhändler. Mit vollem, falschen Namen Nikolai Zarewitsch. Eltern 2024 nach Amerika, beantragen Aufnahme als Flüchtlinge vor dem japanischen Kaiserhaus, das 2014 die Heimatinsel der Familie Kunaschir – heute wieder Kunashiri – annektiert hat. Hasst Japaner entsprechend, und kaum jemanden mehr als Arasaka. Schade, dass der Zar ein Menschenschwein erster Klasse ist, sonst könnte er einem fast sympathisch sein.
Anyway. Der Zar hat im Sachalin – der Name seines HQ und Clubs leitet sich vom dem russischen Verwaltungsbezirk ab, zu dem Kunaschir gehört – ich meine: seiner Ansicht nach eigentlich gehören sollte – der Zar hat in seinem Club jedenfalls am Tag nach dem Venice-Gig eine Riesenparty geschmissen. Ich glaub wir können uns denken, was der Anlass war.
Ich hab ein paar meiner russischen Outputs angehauen, die da waren, und die haben mir bestätigt, dass der Buzz vor Ort war, der Zar habe einen fetten Deal gemacht. Und dass das Kühlhaus – der Store Room für Fleisch im Sachalin – voll sei. Wie es sich anhört, lässt er grade seine Connections einfliegen, die sich die Ware besehen, um diese dann als Einzel- oder Gruppenposten zu verticken. Entgegen dem Buzz sind seine Kunden nicht nur an Sexsklaven interessiert – so fancy werden die ganze Gig-People wohl nicht gewesen sein – sondern da sind auch Pharma-Unternehmen darunter, die Test Subjects suchen und die aus welchen Gründen auch immer trouble mit dem „Freiwilligenprogramm“ der BuReLoc haben. Zum Beispiel weil sie nicht American sind. Oder ihre Fangquote bzw. ihr Limit schon abgerufen haben. Andere Kunden sind die Orbitals. Gibt immer Bedarf an Skin Rider Material. Die meisten Allgeborenen haben nicht die Muskelmasse, um auf der Erde leben zu können. Wollen aber trotzdem mal ihre Kolonie besuchen. Der aktuelle Trend geht weg von der Full Body Conversion. Und hin zu Skin Riding. Mind Download in eine Fleisch-Shell eines Schmutzgeborenen. Danach wieder Extraktion und Backload in den Engels-Body. Aber egal.
Wir werden uns hier und jetzt auf den Zaren konzentrieren. Schließlich geht es euch ja um diese Sina. Wer der eigentliche Mover ist, der hinter der ganzen Op steckt, werden wir an dieser Stelle nicht ermitteln können. Wenn überhaupt. Und wer die Clients des Zaren sind ist euch vermutlich eh scheißegal.
Klar deuten einige Finger in Richtung DMS, allein schon der ganze alte Chip-Kram den ich noch von Blackbird geloaded hat pulst hier voll auf Querlinks – und klar sagt der Buzz of Town auch, dass auf der Straße neue Chipdealer aufgetaucht seien in den letzten 3-4 Jahren, dass da ein Fight um Dominanz im Gange ist, und dass NC zum neuen Hub für Chipdeals an der Westküste und von hier aus in den Pazifikraum geworden ist. Aber das könnt ihr euch ja später aufdröseln, wenn ihr Bock habt. Wenn ihr CRED habt, häng ich mich da auch gerne rein.“
„Wir sind bald da, komm zum Ende, Nadjeschka“ kommt die Stimme von vorne, und tatsächlich taucht schon das Abfahrtschild Richtung Zone 14, South End Harbor, und das charakteristische blinkende Display mit der Warnung über erlöschenden Versicherungsschutz bei Abfahrt aus dem Dunst des Regens auf.
Ihr hattet einige Zeit lang diskutiert, wie ihr vorgehen wolltet. Kühne Pläne über einen ungesehenen Einstieg wurden ebenso verworfen wie ein Stürmen des Sachalin unter flankierendem Schutz der Yakuza. Denn weder glaubt ihr, in eine von Dutzenden Leuten bewachte ehemalige Fabrik-Zitadelle und jetziges Gang-HQ ungesehen eindringen und mit einer aller Voraussicht nach im Koma liegenden Sina unerkannt fliehen zu können, noch glaubt ihr, dass die Yakuza euretwegen und nur aufgrund vager Verdächtigungen einen Krieg mit der russischen Fleisch-Mafia vom Zaun brechen wird.
Was blieb, nach Stunden des ergebnislosen Grübelns, war nur dies: Der Gang durch die Vordertür. Im besten Fall würde man Sina einfach kaufen und gehen. Im ärgsten Fall hätte man die Location und ihre Verteidigung wenigstens mal von Innen gesehen. Und würde so zu neuen Ansätzen kommen. In jedem Fall war beides besser als nur Zeit verstreichen zu lassen. Bis alles Fleisch verkauft und an unbekannte Adresse verschoben worden wäre. Schlimmstenfalls in Richtung Schwerkraftschacht.
Als sie von der Sache hörte, erklärte sich Nadja bereit, euch zu begleiten. Und etwas auf euren Rücken aufzupassen. Dancer ist dabei, nicht wegen euch – ihr und Sina seid ihm scheißegal, das hat er mehr als deutlich gemacht – sondern damit Nadja nichts passiert. Die beiden haben sich auf russisch mehrere Male gestritten, sie darauf beharrend, kein Kind mehr zu sein, auch wenn sie sich so habe stylen lassen, er an ihrem Verstand zweifelnd. Man war überein gekommen, als normale Party-People ins Sachalin zu gehen. Nadja aufgrund ihres Body Sculptings, Dancer aufgrund seines verblassenden Ruhmes als Kurierfahrer der „Wilden Jahre“ von Night City zu leicht erkennbar und daher völlig ungetarnt kommend, ihr hingegen in der Rolle irgendwelcher Gesichtsloser, die ihr ja zu Teilen auch seid, und die Nadja und Dancer zufällig im Sachalin treffen.
Schon taucht der Straßenabzweig Richtung Gang-Quartier ein gutes Stück vor euch auf. Die Gegend hier gehört zum facettenlosen Südende der Stadt. In den Jahren des Punx alles Schwarze Zone. Ausgebrannte Fabriken. Verfallene Hafenanlagen. Durch Mafia-Baupfusch unbewohnbar gewordene Kasernen. Dazwischen anonyme Silos und Lagerhallen der großen Konzerne, die abseits des Lichts der Öffentlichkeit ihren Geschäften nachgehen. Ne Weile lang war die Gegend dabei, sich zu rappeln. Dann kam der Steinbrockenkrieg und die Flutwelle. Und nun sind hier die Lichter zwar nicht wieder aus, aber erheblich gedimmt. Und trotzdem: Sobald der Mega-Damm vor NC fertig ist, wird das hier alles Prime Ground sein. Und die Parcellen sind schon verteilt.
Der Wagen rollt aus. Die Häuserzeilen rechts und links sind barrikadierte Geschäftsfronten. Einige tragen noch die „Auf Plünderer wird geschossen“ Hinweise aus der Zeit nach der Flutwelle. An der Ecke ist eine Baustelle von Megacon. Von Flutlichtern erhellt. 24 Stunden am Tag in Arbeit. Auf der Infotafel dreht sich träge die Projektion irgendeines schlanken Business-Towers. Ein abgeranster Freelance-Truck mit offener Pritsche verkauft Snacks und Getränke an die Arbeiter. Der Verkäufer blickt sich nervös nach anrückender Security des Snack-Vertragshändlers von MegaCon um. Die Jungs scherzen nicht, wenn es um den Schwarzverkauf von Burritos und Wilderei in ihrem Gebiet geht.
Bullerei sieht man hier selten. Eine Lücke im System. Wegen den Überflutungen ist der ganze Hafen der Harbor Police zugeteilt. Jetzt ist die Gegend trocken, und wird von der Hafenwacht ignoriert. Sollen sich die Landcops drum kümmern. Deren Reviere beginnen aber erst zehn Blocks weiter nördlich. Niemandsland. Eine kleine schwarze Zone, in der schon eine neue Konzernzone im Bau ist. Weird.
Dancer zieht die Limo in den Schatten eines verfallenen Parkhauses zurück, um euch rauszulassen. Ein IR-Scheinwerfer tastet die Dunkelheit ab. Ein paar Squatter. Weiter nichts. „Bereit?“ fragt er in eure Richtung. Und Nadja klinkt sich aus und sieht euch fragend an.
(...)
Da es nichts weiter zu besprechen gibt, steigt ihr aus. Die Luft ist kühl und schmeckt nach Meer. Nicht nach der stockigen Giftbrühe der Bay, sondern dem wenige Meilen entfernten Pazifik. Der Wind steht gut. Der Regen lässt nach. Irgendwo in der Dunkelheit hustet es.
Ihr wartet, bis die lichtlose Limo mit lautlosem Elektroantrieb auf die Straße gerollt ist. Seht zu, wie ihre Scheinwerfer aufflammen und der CHOOH2-Motor gierig Alkohol einsaugt, um das gepanzerte Gefährt vorwärts zu schieben. Dancer war mal ne ziemliche Nummer. Seine Rep so gut, dass er eine Weile lang Security-Pilot für einen Konzerner aus der Innenstadt wurde. Man hörte lange nix von ihm. Nach dem Crash tauchte er wieder auf. Und hatte diese Darkfire Limousine, Modell von 22, rußgeschwärzt, zerkratzt, voller Einschussbeulen. Ist retired. Ein müder Held. Geschichte. Wie Paladin, der etwa ebenso alt sein müsste wie er.
Das Grollen des veralteten Alkoholbrenners verhallt, als der Wagen um die Ecke fährt und dem Sachalin entgegenfährt. Ihr scannt die Umgebung.
(...)
Ihr setzt euch Richtung Zarenreich in Bewegung. Erreicht bald darauf die Zufahrtstraße. Eine Seitenstraße, die in sanfter Steigung hinauf zur Hauptzufahrt führt. Schon von fern hört ihr das Wummern von Bässen, das sich in der Vibration der in leeren Fensterrahmen klemmenden Scherben fortsetzt. Ihr passiert eine ausgebrannte Mini-Mall. Ein paar Schmutzjungen spielen Fußball.
Auf der Hauptstraße angekommen, könnt ihr einen Blick zum Zarenreich werfen. Die Straße kommt von jenseits eines breiten Kanals über eine lange Brücke zu euch herüber, beschreibt auf Höhe der Seitenstraße eine sanfte Kurve nach rechts, knickt dann vor dem Sachalin scharf nach links ab. Vom Rand der Straße bis zum Tor des Sachalin sind nur Schemen von wartenden und feiernden Partygästen zu sehen. Ein Inferno aus Himmelsstrahlern und das wilde Staccato ultraschneller Beats erfüllt die Luft, vermischt mit gelegentlichen Feuerstößen aus Automatikwaffen. Ihr fragt euch nicht zum ersten Mal, warum die Polizei bei allem möglichen Zuständigkeitskonflikt zwischen Harbor Police und NCPD ein blindes Auge auf das Zarenreich wendet.
Die Menschen vor dem Eingangstor spritzen auseinander, geben zwei Paaren gleißender Scheinwerfer den Weg frei. Sekunden später brüllen die hochgezüchteten Motoren zweier Muscle Cars auf, und zwei der euch von Bildern schon bekannten Monsterkarren rasen Haube an Haube die Straße entlang, begleitet von Jubelrufen.
Ihr tretet einen Schritt zur Mauer zurück, als die beiden Wagen euch passieren. Sie entfernen sich schnell über die Brücke. Eine blechernde Stimme vom Eingang her kommentiert das Rennen zwischen Krim und Stalin.
Die Gelegenheit scheint günstig, durch die vom Rennen beschäftigten Zuschauer zum Eingang zu gehen.
(...)
D r i n n e n
Ihr lasst den zweiten Checkpoint und die auf den Freiplatz gerichteten Gewehrläufe von den Schützen auf den Dächern hinter euch, als plötzlich ein vielstimmiger Schrei hinter euch zu hören ist und die Leute um euch auseinanderstürzen, von euch weg.
(...)
Mit scharfem Kreischen von Metall auf Asphalt und funkenstiebenden Flanken setzen die beiden aufgemotzten Kampfwagen nach ihrem Sprung über die Hängerrampe im Hof der Fabrikzitadelle auf. Wie durch ein Wunder scheint niemand ernsthaft verletzt – nur vereinzelt rappeln sich Gestürzte auf, die unglücklich zu Boden gegangen sind.
Der vordere Wagen, ein fies aussehender BMW mit Dornenmuster in der Lackierung, dreht noch eine Extrarunde mit qualmenden Reifen, ehe auch er zum Stiffstand kommt. Pfiffe und Applaus sind zu hören. Ein bulliger Russe mit verchromter Schädelplatte unweit von euch ruft „Hurra! Huzzaar! Ein Hoch auf die Husaren des Zaren!“ und schüttelt voll Begeisterung seine von einem Kampfhandschuh ummantelte Faust.
Von links und rechts drängen Partygäste näher.
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Außerhalb des Pulks der Partygäste habt ihr Platz und Ruhe, euch umzusehen. Der Sacharin ist eine frühere Fabrikzitadelle. Eine einstige Enklave unternehmerischen Wirkens inmitten des Chaos einer unkontrollierten schwarzen Zone. Verblasste Schriftzüge identifizieren den einstigen Besitzer der Fabrik: Teletronics
Die Anlage ist insgesamt etwa so groß wie drei Fußballfelder, unregelmäßig geformt und an zwei Seiten (Norden und Osten) von Wasser begrenzt.
Die gesamte Anlage ist von einem etwa 1,5 m hohen und 2 m dicken Betonsockel umgeben, auf dem eine etwa 3 Meter hoher Betonwand steht, die wiederum von einem etwa 1 m hohen Zaun bekrönt wird. 4 Wachtürme erheben sich über die Mauer, scheinen aber unbesetzt zu sein. Von den einst auf den Zaun und an den Parkplatzlampen montierten Sicherheitskameras sind zwar nur noch aus der Fassung ragende Kabel zu sehen, dennoch habt ihr das unbestimmte Gefühl, dass die am Zaun angebrachten Warnung „Vorsicht Hochspannung“ ernst zu nehmen sind. Zusätzlich zu einer etwaigen Stromspannung sind die Zäune durch 4 Stränge gespannten Stacheldraht auf der Spitze beschützt, und auf der Innenseite der Schutzwand befindet sich ein Laufsteg, auf dem in sehr unregelmäßigen Abständen einige wenige, gelangweilte Shiv postiert sind.
Das Innere des Geländes ist insgesamt zwar wenig bebaut, aber trotzdem ziemlich unübersichtlich. Zwischen umfangreichen Leerflächen – dem einstigen Fuhrpark und Parkplatz sowie einem Containerbahnhof – ragen mehrere große Gebäude auf, darunter die Verladehalle, mehrere Lagerhäuser, ein vermutlich von einem nach dem Niedergang von Teltronics hier angesiedelten Schlachtunternehmen aufgestellten Kühlhaus, ein paar Garagen, in denen früher die Lieferfahrzeuge gewartet und betankt wurden, und der bis zu 8 Stockwerke hohe Verwaltungsbau mit Blick über den sich in die Wasser verlierenden, mäanderartig gebauten Südhafen.
Die Freiflächen des Geländes sind zugestellt mit Junk. Hier stehen einige verrostete Container, dort parkt das Halbrund aus nomadisch wirkenden Fahrzeugen der Ravven Shiv, weiter hinten sind Fahrzeuge in verschiedenen Stadien der Ausschlachtung abgestellt. Im Gelände zwischen Eingang und Verwaltungsbau – wo ihr euch gerade befindet – existieren zudem einige Buden, Trailer, Bühnen und Stände verschiedener Kleinfixer. Im Prinzip hat das ganze den Charme eines altertümlichen Jahrmarktes. Mit Feuerspuckern, Ausschwank von heißem Kwas, mit Zigeunern, mit Ringkämpfen – aber immer auch mit Elementen, die das Grausame Geschäft des Zaren vor Augen führen:
Auf Pfähle gesteckte Autos mit verdrehten Achsen, Trauben von Schädeln, die an einem von Motten und Fliegen umtanzen Leuchtmast hängen, Ghule mit dem hungernden Blick nach guten Fleisch, das Blutgeld noch klebrig warm in ihren Taschen, ein- und ausfahrende Vans mit verrottenden Kennzeichen und dem charakteristischen Gestank faulenden Fleisches.
Einiges davon mag inszeniert sein. Eine Gruselschau des Drecks und der Abscheu für die von der Hygiene ihres kontrollierten Lebens angeödeten Elite, die sich flankiert von bezahlten Muskeln hier abartigen Neigungen hingeben mögen – aber die Handschrift der Shiv ist nicht zu leugnen. Und Shiv spielen nicht.
Immer wieder erhascht ihr Blicke auf die gertuneten Muscle Cars der Gang. Auffallend glänzend zwischen den vergammelten Fahrzeugen ihres Trails, zu denen, wenn ihr die Schrotteile auf dem Tieflader im Hintergrund richtig erkennt, sogar eine schrottige Propellermaschine und eine Drohne gehört.
Was die Security im Inneren der Zitadelle angeht, so entdeckt ihr immer wieder unter den Partyleuten einzelne, die sich mit grimmer Entschlossenheit umblicken, als suchten sie etwas, oder die am Rand auf etwas erhöhten Positionen sitzen – Containern, Autowracks, Laderampen – und die Leute beobachten. Erkennbare Abzeichen, welche die Leute des Zaren von Fremden absetzen würden, habt ihr nicht sehen können.
Darüber hinaus sind neben den Wachen auf der Mauer rund ein halbes Dutzend Guards auf den Dächern der Gebäude verteilt. Die meisten machen einen ziemlich gelangweilten Eindruck, tragen ihre Jacken offen oder sogar nur Shirts, die Waffen baumeln lasch an der Seite, rauchen, trinken Wodka oder reden miteinander.
Aber es gibt auch einige, die ihren Job ernster nehmen. Besonders ein Typ, auf dem großen Hauptdach des Verwaltungsbaus im 6. Stock, wo die eleganten Skimmer der Elite landen, scheint ein Pro zu sein. Er trägt einen langen schwarzen Duster im HiStyle, sein schwarzes Haar ist kurz und tidy, seine Augen hinter einem bügellosen sonnenbrillenartigen Cyberaugenersatz verborgen, der mit Sicherheit einige technische Zoom-, Thermo-, ID-, LoLite- und TimeCube Gimmicks enthält.
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V e r w a l t u n g s b a u
Ihr verlasst den Lärm und das Lichtgewitter der Partyzone, betretet das leerere Areal vor dem Eingang zum Verwaltungsbau. „Krim“ steht in roter Leuchtfarbe über den Haupteingang gesprüht, weitere Eingänge habt ihr bei der ehemaligen Ladehalle bemerkt, vermutlich gibt es auch auf der Rückseite noch Zugänge. Hinter dem Gebäude allerdings ist es wie ausgestorben, und man liefe Gefahr, aufzufallen, besonders wenn eine Minicam irgendwo platziert sein sollte oder eine Krabbeldrohne das Gebiet patrouilliert.
Ihr tretet durch eine zerborstene Glasfront ins Innere des Verwaltungsbaus. Das Echo von Gelächter, klirrendem Glas und das Schrappen von Stiefeln auf Splitt und Schutt hallt durch den Raum, der nur von ein paar brennenden Ölfässern erhellt wird.
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E m p o r i u m
Über die Köpfe der anderen Gäste im Emorium hinwegblickend, dauert es nicht lange, bis ihr den grauhaarigen Russen mit den charakteristischen Steckern und die mädchenhafte Nadja entdeckt. Sie sitzen in einer der tiefergelegten Balkonieren, von denen man freien Blick auf die 3 Stockwerke tiefer liegende Hölle des Dancefloors hat.
Ohne Schwierigkeiten bahnt ihr euch den Weg zu den beiden, dabei feststellend, wie sehr das Publikum hier sich vom Gang-Abschaum der MegaViolents weiter unten unterscheidet. Der Begriff „Elite“ wäre zwar etwas hoch gegriffen für die hier anwesende Mélange, aber alleine der Blick durch intakte Glasscheiben auf die Moonlight Bar und das Parkdecks der Skimmer und AVs macht einen großen Unterschied. Auch sieht man zwischen den verschiedenen Straßenleuten hier auch das ein oder andere cryo-coole HiStyle-Teil aufblitzen. Ein schlanker, scalpellgeformter Bauchnabel, das anrüchige Glitzern trendiger europäischer Cat-Tacs, das perlend-modulierte Lachen eines teuren Joygirls, der schrankartige Schatten eines Bodyguards, der tatsächlich weiß, was er tut.
Drei Stufen führen zur offenen Balkoniere hinunter. Ein Dreiviertelrund eines Lounge-Sessels, um einen Tisch mit sanft rot illuminierter Acrylplatte, in der sich die Getränkeliste dreht und filigrane, kaulquappenähnliche Fraktalwesen zu den Beats der Musik tanzen. Dancer blickt euch teilnahmslos entgegen, nippt an seinem Wodka und fährt fort, den Floor unter euch zu beobachten. Nadja macht euch, nachdem ihr „gefragt habt, ob noch frei sei hier“ Platz, lässt euch durchrutschen und beginnt mit Smalltalk, bis Dancer ihr durch Nicken anzeigt, dass sich niemand für euch interessiert.
„Okay, cryo dass ihr es geschafft habt. Seht mal da runter, schräg gegenüber, eine Etage über dem Dancefloor – das ist die Balkoniere des Zaren.“
Ihr folgt ihrem Blick, seht eine etwa 15 Schritt breite Balkonflucht, auf der antik aussehende stoffbespannte Sessel mit barocken Ornamenten platziert sind, gruppiert um einen etwas höher stehenden Sitz, den man einfach nur als Thron beschreiben kann.
Der Thron selbst ist leer, aber im Sitz daneben flezt eine hübsche junge Frau mit auffälliger, weißer Kleidung, deren Augen pechschwarz und pupillenlos aussehen. Neben ihr hocken zwei weitere Gestalten, ein Mann und eine Frau, er ein muskelbepackter Soldatentyp, der beim Reden mit einem Kettenmesser spielt, sie ein im Kontrast zu ihm auffallend businessmäßig gestyltes Wesen, dem der unsichtbare Schriftzug „EUROSOLO“ auf der Stirn geschrieben steht.
(...)
„Die Schwarzäugige ist Oracle.“ Flüstert Nadja euch zu: „Netrunnerin. 2.0 versteht sich. Sie ist gut. Nach allem was man hört. Das Killergirl ist Natascha, der Messepsycho nennt sich Putin.“ Sie lacht, worüber, ist euch nicht ganz klar.
„Der Zwar lässt sich hier unten nicht so oft blicken, an jedem Abend aber mindestens einmal. Heute war er schon da, wohl kurz nachdem der Laden für die Nacht aufgemacht hat. Dmitri, der Kellner, meint der Zar sei in seinem Thronsaal, im Stock über uns. Wenn er das ist, hat er jedenfalls grade keinen wichtigen Besuch, denn dann wäre Natasvha oder ihr Bruder und Lover Kirov bei ihm.“
Sie lacht laut auf, als hättet ihr gerade einen Witz gerissen, wirft den Kopf in den Nacken und scannt dabei einmal kurz die Crowd ab. Greift dann ihr Glas und prostet euch zu, lehnt sich vor und flüstert lächelnd weiter.
„Kirov und Natascha sind eine Neuanschaffung des Zaren. Sind seit etwa einem halben Jahr hier. Aus St. Petersburg, nach allem was man hört. Es heißt, er glaube, jetzt wichtig genug geworden zu sein, dass ihn vielleicht jemand abräumen möchte. Wenn ihr mich fragt, sind die beiden Eurokiller ne Message an die Shivs, von wegen glaubt ja nicht, ihr könntet mich aus dem Geschäft bringen – ihr gehört mir, nicht ich euch. Putin ist Ex-SovOil. Hat auf Kunaschir gegen die Japanischen Besatzungstruppen gekämpft. Gesucht wegen Kriegsverbrechen ziemlich ekligen Ausmaßes. Einer der Lieblingsleute des Zaren. Hat entsprechend große Freiheiten, wenn ihr versteht.“
Sie deutet beiläufig mit dem Glas in Richtung der unteren Tanzfläche, wo eine elegante Tür mit rotem Vorhang wohl den Aufgang zur Balkoniere des Zaren markiert. Dort steht ein weiteres Duo, ebenfalls in ein Gespräch vertieft.
„Der Pockennarbige rechts ist Krim, der Anführer der Shivs. Hat hier nichts zu suchen. Ist zu weit oben in der Hierarchie, um am Vorhang die Wache zu markieren. Der Typ, mit dem er spricht, die Glatze mit dem Kettenshirt, ist Igor. Einer von den Leuten des Zaren. Hat ein Alkoholproblem. Und sympathisiert mit den Shivs. Keine Ahnung was die beiden bereden, aber Oracle hat sie im Blick. Ich sehe es an ihren Fingerbewegungen – die steuert irgendeine Kameralinse. Word auf der Straße ist dass das ihre Spezialität ist: Kameras, Mikros, Remote-Wanzen, sie ist allwissend, weil sie ihre Nase überall reinsteckt, und insofern die eigentliche Herrin dieses Palastes. Mimt entsprechend schwer einen auf beratende Zauberin des Königs. Schätze man muss Russe sein, um unser Faible für dieses Märchenthema und unsere Sehnsucht nach dem Zarenreich zu verstehen. Schade halt nur, dass eine Schabe wie Nikolai und seine Fleischfänger das Erbe Russlands so ausbeuten. Widerlich.“
 
AW: Cyberpunk RELOADED 2.0.3.5.

- E p i l o g u e -


Konzernstadt NIGHT CITY
Freitag, 18. Mai 2035


Fluchend kehrt schließlich auch Putin in den Thronsaal zurück, gefolgt von Natascha, den Micro Missile Launcher locker über die Schulter gelegt.


Der Zar blickt ihnen entgegen. Reglos. Von seinen Gesichtszügen tropft Blut in Pfützen, die den Boden bedecken. Putin hält inne, als sein Blick die Leichen von drei Leuten erfasst, die noch gelebt haben, als er zum Dach stürmte. Ihre Gesichtszüge verbrannt. Verätzt. Geschmolzen.


Der Grauhaarige und das Silikon-Girl stehen abseits. Die Hände im Nacken. Waffen nutzloses Spielzeug auf dem Boden. Keine Acids. Eine Armalite. Ein Handtaschenrevolver. Weggekickt. Blutstreifen hinter sich herziehend, wo sie die Pfützen durchglitten haben. Keiner scheint sie als Gefahr zu betrachten. Kirov hat beide mit jeweils einer Pistole im Visier.


Der Zar hebt den Blick, als Oracle zu ihm tritt, ein weißes Tuch in der Hand, und ihn sorgfältig – fast zärtlich – abzuwischen beginnt. Nicht wie einen Menschen. Wie eine Puppe. Er verzieht keine Miene.


„Sie haben versagt." Erklärt Krim, der auf der Couch flezt. Eine Squirt Gun liegt neben ihm. Spröde Flecken auf der einst makellosen Tischplatte. „Haben zugelassen, dass der Zar angegriffen wurde." Er nimmt einen Schluck Wodka. „Haben gezögert, als sie sagten der Zar sei ..." Der Kopf von Oracle dreht sich zu Krim. „... nicht er selbst." Er lächelt.
Putin gibt ein grunzendes Schnauben von sich, dessen Bedeutung ebenso unklar wie unbedeutend ist. Gorki. Katinka. Riddick. Drei Leute tot. Nur er und Igor noch da. Mehr Einfluss für die Geschwister und die Shivs. Er wird auf seinen Rücken aufpassen müssen.


„Und was jetzt?"


„Jetzt" sagt Krim, sich erhebend, die Wodka-Flasche lässig in der einen Hand, sein Glas in der anderen, „wirst du das Japsen-Kid aufs Dach legen, damit diejenigen, die wegen seines Alarms vermutlich auf dem Weg hierher sind, sich nicht erst zu uns durchkämpfen müssen."


Putins Blick huscht zu dem Jungen, den er niedergeschossen hat. Oracle nickt und bedeutet ihm so, dass ihre Sensoren ein entsprechendes Signal aufgefangen haben.


„Dann werden wir uns den Suit vornehmen, der der Chef dieser kleinen ... Unternehmung war." fährt Krim fort, indem er über den von Kugeln durchsiebtem, verdrehten Leib hinwegsteigt. Und vor dem Grauhaarigen zum Stehen kommt.


„Und wir beide unterhalten uns mal darüber, was mit der kleinen Nadja geschieht."




Montag, 21. Mai 2035


„Und? Haben Sie etwas gefunden, dass Ihnen gefällt?"


Der junge Russe mit dem blonden, adrett gestutzten Schopf und der cremefarbenen Weste legt den Kopf schräg, um einen Blick auf das in den Tisch eingebaute Display zu werfen, das zum Teil durch ein auf ihm abgestelltes Glas und einen Aschenbecher verdeckt ist.


Aus der tiefen Schwärze der glattspiegelnden Fläche schimmern ihm die Gesichter zweier Frauen entgegen. Beide scheinen zu schlafen. Der Hintergrund ein formlos-trübes Weiß. Wie Wolken, auf denen zwei Engel träumen.


Er zieht eine Augenbraue hoch, nickt anerkennend.


„Eine vortreffliche Wahl. Interessante Paarung. Nicht nur aufgrund der Physis – die angenehm kontrastiert zwischen junger, europäischer, durchtrainierter Naturware und American Art Style – auch betreffs der ... sagen wir ... persönlichen Verknüpfung."


Er blickt auf, sucht das Gesicht des Kunden nach Regungen von Interesse ab. Versucht, das Ausmaß seines Kredithintergrundes abzustecken. Eine Evaluierung von Persönlichkeit und Kaufhintergrund anhand Garderobe, Aufmachung, Schuhen und Körpersprache. Doch er entdeckt nichts. Anonyme Züge. Anonyme Label. Keine Bewegung.


Ein leiches Frösteln durchzuckt ihn. Aber Dmitri ist zu versiert in seinem Geschäft, um zimperlich zu sein. Oder den Regungen der Menschlichkeit in seinem Inneren allzu große Bedeutung beizumessen. Er hat keine Probleme, die sich nicht durch einen Fick und Wodka lösen ließen.


„Ja. Die Europäerin – Tänzerin. Rebellisch. Idealistin. Unmodifiziert, im übrigen. Nicht nur Körper, auch Geist. Unerweckt. Seit einer Woche. Die kleine Amerikanerin wollte sie retten. Sehr ritterlich. Wehrhaft. Natürlich erfolglos, sonst wäre sie jetzt ja nicht hier. Haha."


Der Fremde nimmt in aller Ruhe sein Glas auf. Trinkt. Ohne eine Aufforderung zu geben, weiter zu reden, aber auch ohne ein Anzeichen dafür, dass er keine Lust auf Smalltalk hat.


„Sie interessieren sich für Motorsport? Vielleicht?" hakt Dmitri nach. Aber die Mine des Gastes bleibt unbewegt.


„Michail Dobrov – genannt Dancer. Eine Legende, hier an der Westküste. Hat sechs Mal das Rennen des Dutchman auf dem Gibson Highway gewonnen. Sechs Mal! War undenkbar seinerzeit. Naja. Heute gibt's Rennen dieser Art ja nicht mehr – das heißt: Am letzten Wochenende, das war schon große Geschichte, was hier geschrieben wurde. Hier, im Sachalin."


Der Mann greift in seine Innentasche. Holt einen Credträger mit eingepflanztem Kreditkristall hervor. Tippt leicht mit der Spitze auf den Tisch. Ein Ladebalken flimmert. Bestätigt Kreditwürdigkeit, Finanzrahmen. Dmitri – aus seiner Plauderei gerissen – quittiert mit Daumenabdruck. 26.000 Krediteinheiten, anonymisiert, werden in das Face Account des Sachalin verschoben.


„Sehr gut. Herzlichen Glückwunsch. Soll ich Ihnen die Ware liefern lassen? Oder nehmen Sie gleich mit?"


„Der Mann. Dancer."


Der Mann blickt auf, die Augen hinter einer schwarzen Brille verborgen, das Gesicht ein featureloses Allerweltsface, OP-Ware, gute Qualität.


„Ähm. Der steht nicht zum Verkauf. Er ..."


„... ist tot."


„Ja. Er... Nachdem der Diebstahlversuch vereitelt wurde und seine Komplizen beseitigt wurden, lieferte er sich aus. Es ... Er wurde von Krim gefordert. Zum Rennen. Um die Kleine, die Sie gerade gekauft haben. Nun. Er hat ..."


„... verloren."


Der Namenlose steht auf. Blickt sinnierend über das tobende Treiben der tieferliegenden Tanzfläche. Als ob er einer flüchtigen Erinnerung nachhängen würde. Dann greift er seinen schweren schwarzen Duster und geht.




Montag, 5. November 2035


Die Zeit scheint stillzustehen. Für einen Moment. Ihr Blick war über die Stände gewandert, durch die Auslagen, ohne Erwartung, etwas Besonderes zu finden. Ohne etwas zu suchen.


Da lag sie: STEINER. Europäisches Fabrikat. Mechanisch. Solide. Zerkratzt. Mit einer tiefen Einkerbung, vermutlich von einem Streifschuss. So gut wie wertlos. Deshalb hier auf dem Tisch eines zahnlosen Unrathändlers, an einem der miesesten, zugigsten Plätze von Beggar's Mall.


Ein ekles Gefühl durchschießt ihr Rückgrat. Déja-vu. Erinnerung. Paranoia. Furcht. Die sie nicht mehr losgelassen hat. Seit Monaten nicht. Trotz neuem Gesicht, trotz aller anderen Gefahren, die sie zuvor schon erlebt hat. Niemals war sie dem Tod so nahe gewesen wie damals.


Brennender Schmerz. Panik. Zitternde Finger. Ein Absprung von bröckligem Beton. Die stacheldrahtbewehrte Mauer unter ihr. Schwarzes Wasser, das auf sie zuschießt. Das mechanische Rudern ihrer Arme auf Chipbetrieb. Das dumpfe „Whump" einer einschlagenden Kugel, die Marias Leben auslöscht. Deren Körper so ihr eigenes Leben rettet.


Noch ist ein letzter Zweifel. Oder eine Hoffnung? Dass es nur eine Ähnlichkeit ist. Ein Zufall. Nichts Bedeutsames. Dass das Vergangene vergangen ist.


Sie nimmt die Uhr, dreht sie im funzligen Licht der Halle. Wischt etwas Schmutz von der Rückseite. Spürt dabei schon die zerschlissene Gravur, ehe sie die Inschrift liest.

T E M P U S
F U G I T
 
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