Nick-Nack schrieb:
Das ist zum Beispiel eine schöne Lösung: Wenn die Regeln Möglichkeiten vorsehen, die Charaktere zu retten, dann kann man die Charaktere auch so retten.
Nicht "man", sondern die Spieler müssen das schon selbst hinbekommen. Ich tendiere bei Systemen mit eingebauten SC-Abgangs-"Airbags" dazu deutlich strikter mit den Regeln und den von mir als Spielleiter erwürfelten Ergebnissen umzugehen, eben WEIL die Spieler die Chance haben, ihren Charakter notfalls aus dem Dreck zu ziehen. Aber es ist immer nur eine CHANCE! Das heißt: nichts ist sicher!
Es ist für mich schon ein Unterschied, ob ich in einem nicht-heroischen, nicht-cinematischen System die besagte Beispiel-Reiten-Probe wegen eines plötzlich das Pferd erschreckenden Ereignisses machen muß, oder es sich um ein eher heldenorientiertes Setting handelt, welches diesen Anspruch auch vom System her unterstützt.
Wenn mir als Spieler allein schon beim Ankündigen des Spielleiters, daß er eine Reiten-Probe haben möchte, klar ersichtlich ist, daß mein SC mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit durch solch ein eigentlich von der bisherigen Zielrichtung der Kampagne abweichend unwichtiges Ereignis draufgehen kann, dann bricht für mich die Wahrnehmung meines SCs als Helden zusammen und er ist nur ein Extra, ein Normalo, ein 08/15-Man-at-Arms. Das kann tatsächlich in dem einen oder anderen Setting völlig normal sein. Das weiß man als Spieler dann auch vorher. Wenn ich Cthulhu 1000 AD spiele, dann RECHNE ich mit dieser erhöhten Sterblichkeit (erhöht, weil das Cthulhu-System sogar explizit GEGEN den Charakter ausgelegt ist - die SCs bei Cthulhu sind verletzlicher und zerbrechlicher, als es einem wie auch immer an medizinischen Erkenntnissen orientierten "Realismus" entspräche, weil durch das "rohe Ei"-Gefühl die notwendige Verletzlichkeitsempfindung für ein Erzeugen von Horror im Rollenspiel gefördert wird).
Ich habe aber den Eindruck, daß manche Rollenspielregelsysteme die Ansprüche der Spielwelt und der (Kauf-)Szenarien nicht unterstützen. Wenn ich in DSA von "Helden" lese, dann verbinde ich meine eigenen Assoziationen und Erfahrungen vom Begriff "Held" damit. Zu diesen gehören Siegfried, Conan, Elric, Prinz Eisenherz, Lanzelot, Parsival, Beowulf, Dietrich von Bern, etc. Ich denke, ich kann mich nicht entsinnen, daß diese Helden an einem entzündeten eingerissenen Fingernagel verreckt sind, daß sie vom Pferd fielen und sich das Genick brachen, daß sie an einer Fischgräte erstickten. Wenn ich ein Regelsystem sehe, dessen interner Begriff "Held" weniger mit dem üblichen Verständnis von Helden zu tun hat, sondern eigentlich nur "normale Durchschnittsperson in der Spielwelt" meint, dann hat für mich das Regelsystem Erwartungen geweckt, die nicht gehalten werden.
Ein System, welches von herausragenden Persönlichkeiten - nämlich den SCs in einer jeweiligen Spielwelt - ausgehend die Welt regelmechanisch um diese Grundannahme herum regelt und die Ausrichtung des Regelwerks auf "Helden" vornimmt, das ist für mich allein aus dem Grund der gewahrten Stimmigkeit ein "gutes" System.
Würde ich versuchen die hochmagische Action von HeroQuest/HeroWars mit dem Cthulhu 1000 AD Regelwerk abzubilden, dann müßte ich scheitern. Nicht wegen der Magie-Regeln an sich, sondern wegen der in Cthulhu eingebauten Sterblichkeit und generell höheren Wahrscheinlichkeit bei einer Handlung zu Scheitern, als es die Welt Glorantha bei HeroQuest/HeroWars erwartet. Daher war z.B. das RuneQuest-Regelwerk, welches auch ein BRP-Regelwerk ist, längst nicht so lethal, wie das korrespondierende Call of Cthulhu.
Für mich gehören zu einem Rollenspiel-Produkt immer Setting UND Regeln. Wo das eine fehlt, wird es im Normalfalle von den Spielern inferiert (wie ich sehr schön gerade bei Evernight erlebe - das funktioniert bestens). Wenn aber ein elaboriertes Regelwerk vorhanden ist, vom Setting her aber eine Erwartungshaltung bei den Spielern erweckt wird, die nicht gehalten wird, dann ist Frust vorprogrammiert. Um diesen Frust zu vermeiden oder einzugrenzen greift dann der Spielleiter zumeist zu Beugen der Regeln (u.a. weil das Beugen des Settings einen schwereren Eingriff in die Glaubwürdigkeit der Welt darstellt, als mal einen Wurf nicht ganz so katastrophal ausgehen zu lassen).
Nick-Nack schrieb:
Dementsprechend wird aber auch unter den Spielern eine Stimmung vorherrschen, die nicht von Angst um die Charaktere geprägt ist - und damit werden heroische Taten auch weniger heroisch: Selbst der schwächste Bauer wird sich dem OGer stellen, wenn er weiß, dass er mit seinen "Helden"-Chips ziemlich sicher überlebt.
Deine Vorstellung von "heroisch" kann ich nicht einmal nachvollziehen, geschweige denn teilen. Muß denn ein "Held" immer gleich Angst haben um etwas trotzdem zu tun, um heroisch zu sein?
Warum sollen denn die SPIELER Angst um ihre SCs haben müssen? Wenn ich einen Charakter habe, der in eine Spielwelt integriert ist und dort seine Ziele, Wünsche, Beziehungen, Freunde, Verwandte, Liebschaften, Feinde etc. hat, dann ist doch nicht jeder Konflikt gleich ein Konflikt um die Existenz des Charakters. Wenn ich nur dadurch Spannung erzeugen könnte, dann würde ich immer noch Basic-D&D spielen - und zwar so, wie in den erste drei, vier Wochen nach dem ersten Kennenlernen, daß es überhaupt Rollenspiele gibt.
Was macht einen Helden zum Helden? Meine Antwort: Ein Held ist IN DER SPIELWELT EIN HELD! Nur das ist das Maß für den Helden.
Und jetzt gleich die nächste Frage: Wie definiert die Spielwelt nun intern einen "Helden"?
Z.B. Im Wilden Westen ist das einer der Räuber zur Strecke bringt, entführte weiße Frauen vor den schmutzigen Rothäuten rettet und Viehdiebe stellt, bevor er, wie jeden Sonntag, brav in die Kirche geht (ich rede hier NICHT von Deadlands
).
In Evernight ist es ein Mensch, der für andere, schwächere - die Normalos! - die Verantwortung übernimmt, sie gegen Bedrohungen verteidigt und seine von den Göttern gegebenen überdurchschnittlichen Fähigkeiten zum Wohle seines Königs und seines Landes einsetzt.
Glorantha hat dabei das Konzept des Helden für mich am Ansprechendsten "eingebaut" in die Grundfesten dieser Welt: Ein Held kommt immer aus einer Kultur, ist in dieser Kultur akzeptiert und erfreut sich der Unterstützung seiner Gefolgsleute/Clansleute/Stammesbrüder/etc. Dieser Held erlangt durch die uneingeschränkt Unterstützung seines Volkes und seiner Kultur erst die Freiheit sich richtig über die Masse der "Normalen" herauszuheben. Diese Freiheit bekommt er für einen Preis: die Erwartungen seiner Unterstützer an ihn und an sein Gebaren. Ein Held muß sich wie ein Held verhalten, sonst ist die Unterstützung bald nicht mehr da. Ein solcher Held ist ein Fokus für die geballte Macht eines Volkes und seiner Begierden und Erwartungen. Diese Art Held ist aber in einem engen Geflecht an Verpflichtungen stark gefangen. Und jetzt kommt es! Der WAHRE HELD (tm) ist derjenige, der seine Kultur und seine Herkunft akzeptiert und sie transzendiert. Er wächst über das Abhängigkeitsgeflecht seiner eigenen Kultur hinaus und erlangt eine übergeordnete Ebene an Freiheitsgraden, die ihn - entfesselt - aus den alten, bewährten Wegen ausbrechen lassen kann. So findet er neue Wege. So erschafft(!) er Neues. So ändert der wahre Held seine Welt, ohne zu verleugnen, woher er kam. Das ist es, was einen Charakter groß macht.
Ich kann Deine Bedenken nicht nachvollziehen, daß die Spieler in Systemen mit Rückfallmöglichkeiten für kritische Ereignisse, die ihren SC betreffen, keine Angst mehr um ihren SC haben werden. Zum einen ist man mit seinem SC genauso intensiv verbunden, wie in Systemen, die keine solchen Mechanismen haben. Zum anderen ist meine Erfahrung, daß man sogar noch MEHR in seinen Charakter investiert, da er nicht bei jedem insignifikanten Zufallsergebnis über den Jordan geht. Wenn ich dazu meine Jugendjahre und unseren Charakterverschleiß bei D&D betrachte, dann kann ich nur sagen, daß man beim dritten neuerschaffenen Charakter an ein und demselben Spielabend NICHTS mehr in Persönlichkeit, Vorlieben etc. investiert, sondern nur noch "mauert". Die unangreifbaren Kampfmonster-Charaktere, für die D&D damals (und heute) berüchtigt ist, rührten für mich aus der Tatsache her, daß es die Spieler irgendwann einmal leid waren ständig ihre SCs verrecken zu sehen. Da powert man seinen Charakter auf, was das Zeug hergibt, damit er eben nicht bei jedem rostigen Nagel, an dem er sich ritzt, abkackt.
In dieser Hinsicht gibt D&D immer noch - zumindest bei mittleren Leveln aufwärts - genug Unverwundbarkeit her, daß man sich ab dieser Ebene mal etwas vor lauter Charakterverlust-Paranoia zurücklehnen kann und mit ein wenig mehr Persönlichkeitsinvestment in den SC liebäugeln kann.
Ich WILL meine Charaktere mit charakterlicher Tiefe versehen können UND Action-Sequenzen spielen können, ohne mir gleich den nachfolgenden Charakter überlegen zu müssen, bloß weil das Regelsystem mit meinen Wünschen nicht klar kommt.
In Deadlands ist mit der Poker-Chip-Methode ein Charakter potentiell(!) etwas sicherer. Wer blöd ist, kratzt ab. Das ist ein Naturgesetz, welches auch im Weirdwest gilt (sonst hätte ich nicht letztens in meiner Hauptkampagne einen bösen Abgang gehabt). Der Chips-Einsatz liegt in der Verantwortung und Entscheidung des Spielers. Wenn er seine Chips nicht einsetzt, dann lebt er (und sein SC) mit den Konsequenzen, aber wenigstens hatte er die Chance. Und der Spieler WEISS das ja schließlich auch.
Nick-Nack schrieb:
Es geht mir darum, dass es wichtig ist, dass sich ein Spieler auf die Regeln verlassen kann, damit er seine Chancen abschätzen und so die volle Verantwortung für seine Taten übernehmen kann.
Da ich diese Formulierung noch nicht einmal im wirklichen Leben nachvollziehen kann (Wer kann denn schon die VOLLE Verantwortung auch nur für sein Frühstück übernehmen?), mal etwas zum Abschätzen von Chancen.
Innerhalb einer Spielwelt gelten gewisse Gesetze (Natur-, Magie-, sonstige). Auf deren Wirken sollte sich ein SC verlassen können. Nur müssen sie deswegen dem SC wirklich offenbar sein?
Man nehme UA: dort werden bei Verwundungen die Wunden vom Spielleiter verwaltet und der Spieler absichtlich im Unklaren gelassen.
Man nehme Engel: dort gibt es im Arkana-System KEINE Regeln, außer der, daß der Spieler die gezogene Karte bitteschön interpretieren möge (das ist übrigens ein echtes Problem des Arkana-Systems, da es nämlich wegen der dort auch fehlenden Quantifizierungen von Fähigkeiten der Charaktere keine Vergleichsmöglichkeiten existieren in der Art: Mein Gabrielit ist aber stärker als dieses Meerschweinchen. - Nein, ist er nicht! - Ist er doch! - Nein, das Meerschweinchen beißt Dir mit einem überraschenden Sturmangriff den rechten Flügel ab! - Aber es ist doch viel zu klein, das frißt doch bestenfalls ein wenig Federn! - Nein, tut es nicht, du verblutest!).
Man nehme praktisch jedes Rollenspiel, welches geheim, also vor den Spielern verborgen ausgeführte Würfe des Spielleiters kennt: Ging der Suchen, Spot Hidden, Wahrnehmungs-Wurf in die Hose, dann kann der SCs nichts von der Bärenfalle im hohen Gras wissen. Wenn er jetzt einen Schritt nach vorne macht, dann ist der Fuß ab. Wo ist da die Abschätzung der Chancen? Soll der Spieler oder schlimmer noch der Charakter wirklich wissen, daß er jetzt gerade eine 99% Chance hat in eine Bärenfalle zu latschen (1% Fehlfunktionswahrscheinlichkeit
)?
Wenn ich meine - glücklicherweise in letzter Zeit selteneren - Fahrradstürze mal rückblickend vor Augen führe, dann hätte ich bei fast allen gedacht, daß es sich nicht um problematische Fahrkunststücke, sondern einfache Fahrmanöver gehandelt hat (z.B. Geradeausfahren auf eine ansonsten unbefahrenen Straße - mit der Birne voll Amaretto, Bier und Wein
).
Man KANN nicht immer wissen, wie schwierig etwas ist. Das haben die meisten Rollenspielsysteme ebenfalls als Mechanismus bzw. Verfahrensweise eingebaut.
Wozu sollte es also gut sein, beim besagten Beispiel-Ritt durch das Dorf zu wissen, daß jeder Charakter nun mit einer Chance von 0,4% tödlich stürzen wird?
Für mich ist es wichtiger, daß einem Handlungswunsch eines SC das Spielsystem zum einen nicht in die Quere kommt und zum anderen keine unplausiblen Ergebnisse erzeugt werden, die dem Setting widersprechen würden.
Wer also in Shadowrun, Cthulhu, SLA Industries etc. eine höhere Sterblichkeit wahrnimmt, der nimmt ja nichts Settingatypisches wahr. Man ERWARTET ja im Cyberpunk-Umfeld, daß die Charaktere nach dem "live fast, die young"-Motto schnell verbraucht sind.
Wer aber in Castle Falkenstein, Arthur Pendragon, HeroQuest, etc. mit derselben Sterblichkeit konfrontiert würde, der bekäme damit nicht das, was das Setting verspricht und ihn somit legitim erwarten läßt.