AW: [28.04.2008] Einladung in die Suite der Rothschilds
„Mit ein paar flapsigen Sprüchen werde ich schon noch umgehen können“, lachte Evelina.
„Aber manche Kainskinder machen mir Angst. So wie dieser Fabian Mahler. Mir war sehr unwohl in seiner Nähe. Dieses Grinsen. Da dachte ich, er findet mich lächerlich. Und wenn so jemand dann auch noch anfangen würde mich zu triezen und zu beleidigen oder sich über mich lustig zu machen…“
„Deswegen war ich zunächst so kühl als ich in das Büro kam, denn ich hatte sogleich gemerkt, Evelina fühlte sich unwohl, und ich hatte schnell im Gespür, dass es an dem Brujah lag.
Nun, da bin ich beruhigt, dann wird Evelina sicher keine Angst vor Terry haben.“
Was Julians Erzeuger betraf, so sah Ferdinand bestürzt Julians Reaktion und wünschte sich er hätte diese Frage nicht gestellt.
„Es tut mir leid, Julian, ich hätte dich das nicht gefragt, wenn ich geahnt hätte – ich will doch keine alten Wunden aufreißen bei dir. Und keine Sorge, ich werde da nicht nachhaken.
Ich kann mich glücklich schätzen ein gutes Verhältnis zu meinem Erzeuger zu haben. Er ist zwar recht distanziert, aber in keiner Weise grausam. Wir haben mittlerweile relativ selten Kontakt miteinander, aber wir verstehen uns nach wie vor gut.
Mein Erzeuger ist gleichzeitig mein Urgroßonkel, Nathan von Rothschild, auch er ein Bankier, so wie auch ich, nun, wir sind eben eine Bankiersfamilie, da hat das Tradition.
Ich wurde im Jahre 1884 in Wien geboren, ich hatte einen Bruder und zwei Schwestern, Franz, Dorothea und Louise. Ich war der Älteste und Tonangebende von uns vier Geschwistern, und natürlich erwarteten meine Eltern, dass ich stets der Vernünftigste von uns Kindern war und den anderen drei ein gutes Vorbild. Ich habe meine Geschwister miterzogen sozusagen.
Als ich 15 Jahre alt war zogen meine Eltern mit uns nach Berlin um dort ein neues Bankhaus zu eröffnen.
Ich interessierte mich schon damals sehr für Okkultismus, und schließlich wurde ich auch Teil einer Loge, heimlich, denn meine Familie hielt nichts von solchen Sachen. Ich respektierte meine Familie sehr und hätte nicht offen gegen sie rebelliert, wollte aber auch nicht mein Interesse aufgeben, also habe ich es heimlich verfolgt.
Man wollte auch nicht, dass ich Künstler werde, obwohl ich das viel lieber gewesen wäre als Bankier zu sein. Als Trost habe ich mir dann eine große Kunstsammlung zugelegt.
Wir hatten eine recht enge Verbindung zum englischen Zweig unserer Familie. Wilhelm von Rothschild, ein Bruder meiner Mutter, hatte eine englische Rothschild geheiratet. Bei den Rothschilds ist es üblich, dass Cousins und Cousinen heiraten, was für Außenstehende wahrscheinlich etwas befremdlich ist.
Ich studierte drei Jahre lang Geschichte und Politik, in Oxford, dort wohnte ich bei meinem Onkel Wilhelm. Er hatte mehrere reizende Töchter, und ich verliebte mich in Evelyn.
Wir mussten noch bis zum Ende meines Studiums warten bis wir heiraten konnten, da war ich 21 Jahre alt, die Hochzeit fand in Oxford statt, Evelyn und ich sind danach zusammen nach Berlin zurückgekehrt.
Dort war ich dann als Bankier tätig. Unser erstes Kind war leider eine Totgeburt. Umso mehr hatten wir uns über unsere zweite Tochter gefreut. Evelina. Ein weiteres Kind hatten wir nicht. Schon damals war ich stets sehr besorgt um sie, umso mehr nachdem Evelyn bei einem Autounfall ums Leben gekommen war.“
Ferdinand wirkte nun sehr traurig.
„Ich bin nie wirklich über den Tod meiner Frau hinweggekommen, ich könnte niemals eine langfristige Liebesbeziehung mit einer anderen Frau eingehen.
Und ich mag zwar alte Autos, aber Autofahren mag ich nicht, eben wegen jenes Unfalls, den ich nicht verhindern konnte. Evelina war damals erst drei Jahre alt, da musste sie also leider ohne Mutter aufwachsen.“
Evelina merkte, dass Ferdinand nun in eine tiefe Melancholie zu rutschen drohte und bemühte sich das zu verhindern.
„Du warst immer ein wunderbarer Vater, einen besseren hätte ich mir nicht wünschen können, du warst immer für mich da.“
Ferdinand sah seine Tochter liebevoll an und lächelte.
„Was könnte ein Vater Schöneres zu hören bekommen? Ach Evelina, ohne dich wäre ich innerlich vielleicht schon völlig verhärtet, wie so viele andere Kainskinder meines Alters. Du hältst mich lebendig und sensibel.“
Evelina war erleichtert, dass ihr Vater wieder lächelte statt noch tiefer in Wehmut zu versinken.
„Ich wurde 1910 geboren. In zwei Jahren werde ich also schon 100 Jahre alt. Ich habe mich doch gut gehalten, oder?“
Sie grinste Julian schelmisch an.
Dann wandte sie sich wieder an ihren Vater: „Und dein Erzeuger hat in Berlin eine Loge gegründet, nicht? Was für ein Zufall, dass du dort dann Mitglied wurdest.“
„Ob es wirklich Zufall war? Aber sicher ist, ansonsten hätte er mich nicht auserwählt. Ich wusste zunächst nur, auch er war ein Wiener, ein vornehmer Herr, scheinbar um die 50 Jahre alt, und nach einigen Jahren hat er mir schließlich seine wahre Identität offenbart, und ich durfte wählen ob ich auch ein Mondkind werden möchte. Ich habe mich dafür entschieden, zumal ich einen Herzfehler hatte und die Ärzte mir nicht viele Hoffnungen gemacht haben, dass ich noch allzu viele Jahre leben würde. Und ich wollte doch für Evelina da sein, sie aufwachsen sehen. Sie war 10 Jahre alt, als ich erschaffen wurde.“
Fast hätte Ferdinand jetzt gefragt ob Julian denn die Wahl gehabt hatte, aber nein, jetzt keine weitere Frage zum Erzeuger.
Vielleicht war es Leichtsinn, dass Ferdinand so viel von sich preisgab, aber er konnte nicht anders als dies zu riskieren.
Was nun folgte verlangte ihm jedoch umso mehr Mut ab, gerade weil ein Nein als Antwort sehr schmerzhaft wäre. Er sah Julian an und sprach mit ruhiger, sanfter Stimme.
„Vielleicht ist es ein wenig früh dich das zu fragen, und ich bin selbst ein wenig erstaunt. Für gewöhnlich dauert es recht lange bevor ich mich überhaupt mit jemandem duze, aber bei dir, da ist vieles anders.
Wir sind natürlich bereits verwandt, durch das Blut Malkavs, aber vielleicht würde es dir gefallen, zu unserer kleinen Familie zu gehören, zu der außer mir Evelina und Henry gehören? Dies habe ich in meinem ganzen Unleben bisher nur eine einzige Person gefragt.“
Und das auch nur, weil Evelina sich das gewünscht hatte. Von selbst wäre Ferdinand nicht darauf gekommen, den Spanier zu erwählen. Aber das konnte er jetzt natürlich nicht sagen, wo Evelina daneben saß.
Nun, immerhin gab es bei Julian keinen Erzeuger, der sich nun mit einem solchen Angebot auf die Füße getreten fühlen könnte.
Und Evelina war doch sicher einverstanden, sie mochte Julian doch auch.
„Das würde mir auch sehr gefallen“, entfuhr es Evelina da, und sie sah Julian erwartungsvoll an.
Ferdinand würde keinerlei Bedingungen daran knüpfen, nein, nicht bei Julian.
„Du hättest dadurch keinerlei Verpflichtungen. Ich glaube nicht, dass ich diesen Schritt bereuen müsste, und ich würde mein Möglichstes dafür tun, damit auch du es nicht bereuen musst.
Ich akzeptiere natürlich, dass für dich in jedem Falle dein Bruder weiterhin an erster Stelle steht. Für mich wiederum steht Evelina an erster Stelle, und daran wird sich auch nie etwas ändern. Und Henry, ihn liebe ich auch. Er ist der älteste Sohn des ältesten Bruders meiner geliebten Frau Evelyn.
Ich hoffe ich überfalle dich jetzt nicht allzu sehr damit. Du brauchst dich nicht sofort zu entscheiden, du kannst mich aber gern schon duzen.“
Er wartete nun ein wenig bang auf Julians Reaktion, versuchte aber sich das möglichst nicht anmerken zu lassen.