Ich finde die 0bige Liste von Abaton23 ja sehr interessant, daher auch mein Senf dazu:
Die Grundaussage ist ja, daß sich das Pen&Paper-Produktangebot und dessen Inhalte verändert haben.
Kommen wir mal zu den Punkten, inwieweit sich das P&P selbst verändert hat. Eventuell mögen da Gründe schlummern, wieso sich Teens immer weniger diesem Spiel zuwenden. Ich zähl mal auf, was mir ins Auge sticht:
- Die Präsentation kam anfangs als kleines Sorglospaket in einer Box, heute wird man von Bücherreihen erschlagen, die ein unbedarfter Neuinteressent nicht werten kann.
=> Auch heute gibt es diese Rundum-Sorglos-Pakete (Dungeon Slayers, Aborea, etc.). Diese "Starter-Boxen" waren NIE weg vom Markt. Auch Midgard hatte mit "Midgard für Einsteiger" eine, wie ich finde, SEHR gelungene Box zu bieten.
Und viele Rollenspiele werden heutzutage einfach als "Ein-Buch-mehr-nicht"-Produkte erstellt wie Barbarians of Lemuria, Funky Colts oder auch die generischen Grundregelwerke, bei denen man nie "gezwungen" ist irgendwas an Settingbänden oder Ergänzungsbänden zu erwerben.
- Die hochillustrierten Bücher haben bei manchen Systemen zu einer krassen Kostenexplosion geführt (siehe DSA, Midgard...)
=> Gerade Midgard in diesem Kontext zu nennen, halte ich für seltsam. Midgard - wie auch die aktuelle Midgard 5 Ausgabe wieder zeigt, ist nämlich SEHR PREISWERT und keineswegs "hochillustriert. Solche reinen Bilderbücher wie Degenesis oder Opus Anima und dergleichen sind ja den Weg aller Bilderbücher-statt-Rollenspiele gegangen: Sie verstauben ungespielt und nur durchgeblättert in den Regalen. Und auch moderne "Bilderbuch-Kickstarter", welche NUR über die "tollen Illustrationen" ihre Kunden (ihre Investoren) gezogen haben, stellen sich als eher mau in Regelsystem und Sprachqualität der Texte heraus.
Daher: Wer BLENDWERK kaufen möchte, der kann das natürlich tun. Aber es gibt auch SEHR VIELE deutlich schlichter gehaltene und trotzdem gut passend illustrierte Rollenspiele wie z.B. Fate Core, Spears of the Dawn oder Barbarians of Lemuria. Was auch wieder zeigt, daß gute und auch zahlreiche Illustrationen nicht unbedingt den Preis des Gesamtprodukts so nach oben schieben, wie es manche Verlage einen glauben machen wollen!
- Der Anspruch auf Simulation ist teilweise sehr gestiegen, die Menge an Regeln auch. Das führte zu enormer Kompexität. So wurde die Einstiegshürde mancher Systeme erheblich angehoben.
=> Dieser "Anspruch an Simulation" war NIE HÖHER als in den ausgehenden Achtzigern! Heutige Produkte, die mit Simulations-Kleinkariertheit aufwarten wie Contact RPG usw., sind eigentlich nur "lebende Fossilien", Kinder einer Zeit, die schon seit 30 Jahren vorüber ist.
Was an "Komplexität" wahrgenommen wird, ist eher eine "Marketing-Masche": Grundregeln - wie das neue Shadowrun 5 - raushauen zum Taschengeldpreis und dann für JEDEN KLEINSCHEISS ein eigenes Ergänzungswerk herausbringen, das "normal" bepreist ist und lauter weitere "Optionen" und "Details" enthält, welche die interessierten Spieler auch "unbedingt haben müssen". - Aber müssen sie das?
Mit den drei D&D 3E Grundbüchern konnte man jahrelang problemlos spielen ohne auch nur ein einziges der endlos vielen D20-Supplements zu erwerben.
Midgard 5 kommt aktuell in zwei Bänden VOLLSTÄNDIG daher, Dresden Files ist in zwei Bänden vollständig, Honor&Intrigue braucht nur einen Band, ebenso Barbarians of Lemuria. Offenbar ist die "Einstiegshürde" für ein KOMPLETTES Rollenspiel, Setting und Regeln und ohne irgendwelche notwendigen oder optionalen Zusatzbände, in nur EINEM Band nicht so hoch, wie hier dargestellt.
Und die Zeit der überkomplexen Simulations-Regel-Monster ist auch - bis auf die erwähnten "Ewig-Gestrigen"-Rollenspiele - vorbei. Heute sind grobe Granularität, einfache, klare Mechaniken, wenig Regelkomplexität (aber immer noch Vielfalt an Auswahlmöglichkeiten) angesagt. Und das wird auch erfüllt. Numenera, Savage Worlds, Dungeon World, Cortex Plus, Fate Core, usw. sind alle auf HEUTIGE Ansprüche ausgerichtete Rollenspiele, die knapp, übersichtlich, regeltechnisch eingängig und alles andere als "komplex" daher kommen.
- Anfangs waren Rollenspiele recht allgemein in Fantasy oder S-F gegliedert. Heute sehe ich viele spezialisierte Systeme, welche sich einem eingrenzenden Thema verschreiben (Vampire, Werewolf, Dark-Heresy....)
=>Ähm, NEIN! - Ich habe mit einem Sci-Fi-Fantasy-Rollenspiel angefangen: Gamma World 1st Edition. Damals waren aber mit Metamorphosis Alpha, RuneQuest, Ringworld, Boot Hill, James Bond 007, diversen Superhelden-Rollenspielen, und jeder Menge "pseudo-generischer" Sci-Fi-Rollenspielregelwerke jede Menge an "Misch-Genre-Rollenspielen" verfügbar. Allein was Traveller alles unter dem Begriff "Sci-Fi" wirklich aufgefahren hat, war - wegen der unterschiedlichen Tech-Level, Law-Level, sozialen Strukturen der einzelnen Welten - für sich genommen schon ein Genre-Mix ohne gleichen. Und dazu dann noch die Spielformen von Creature-Survival (Chamax-Plague) über Tomb-Raider (Twilights Peak) bis hin zu Firefly (The Traveller Adventure) und James Bond (The Argon Gambit) war da alles drin!
Man findet heute wie früher ALLE Genres, die man von Comic, Film, Roman her kennt, auch im Rollenspiel wieder. Manche Rollenspiele gehen dabei den Weg des "One-Trick-Ponys" wie Leverage, das wirklich NUR Heist-Movie-Stories abbilden kann - das aber verdammt gut! Andere sind "pseudo-generisch" wie D&D, das ja von Anfang an eine FÜLLE an Spielwelten bedient hat, von Endzeit (Dark Sun) über psychedelische Phantasiewelten (Planescape) bis Steampunk (Eberron, Iron Kingdoms) und Raumfahrt (Dragonstar, Spelljammer).
Soooo "spezialisiert" sind auch heutige Rollenspiele nicht! Torchbearer, DungeonWorld, Stars without Number, usw. kommen OHNE Setting oder mit der Annahme, daß die Gruppe eh ihr eigenes Setting entwickeln wird und nur bestenfalls ein Beispiel braucht, wie so etwas aussehen könnte. In Spielstil-Ausrichtung und Setting-Gestaltung sind solche Spiele sehr offen.
- Die Vielfalt der verschiedenen Systeme ist kaum überschaubar, der Konkurrenzdruck enorm. Viele dieser Spiele sind Fanwerk und von recht zweifelhafter Qualität. Dies verwirrt Interessenten.
=> Stimmt! Es gibt GLÜCKLICHERWEISE eine enorme Vielfalt an Rollenspielen, und auch ALTE Produkte sind als Nachdruck, als überarbeitete Fassung (teils wie Space 1889 mit neuem Regelsystem) oder als Kauf-PDFs immer noch verfügbar! - Klar ist ein Einsteiger von dieser Fülle erst einmal überwältigt. Aber das ist er auch von der Fülle an Computerspielen oder Brettspielen! - Man fängt halt einfach mal mit etwas an, das einen von Optik und Inhalt her anspricht. Und dann sieht man weiter. Kein Problem, das bekommen auch die heutigen Einsteiger hin!
Und "zweifelhafte Qualität" gab und gibt es auch immer von den großen Verlagen! GERADE "Fan-Arbeiten" zeichnen sich oft durch mehr Sorgfalt und sauberes Lektorat aus, was viele Verlagsprodukte schändlicherweise vermissen lassen.
- Viele Systeme kommen unheimlich düster daher. Splatter, Weltuntergang, Wahnsinn, Genozid, Inquisition und Verzweiflung wird bildhaft thematisiert. (Kult, Degenesis, 40k....)
=> Rollenspiele sind Kinder ihrer Zeit und der jeweiligen Gesellschaft, aus der sie entstammen. Die "Neue Deutsche Endzeit" der 2000er war ja dafür symptomatisch: deprimierend-düster, grau-in-grau, hoffnungslos und spaßbefreit. Splatter war aber SCHON IMMER ein Thema für das Rollenspiel, weil es einfach oft um Kämpfe, um SEHR unrealistisch überzogene Kämpfe geht. In den Achtzigern war in meinen Rollenspielkreisen für besonders blutrünstige Rollenspiele der Begriff "englisch" verbreitet, da damals die aus England kommenden Rollenspiele weit blutiger und brutaler waren als die US-Rollenspiele.
Die starken Themen von damals: Atomarer Weltuntergang, Kalter Krieg, Umweltzerstörung sind heute nicht mehr so stark oder gar "Geschichte". Hingegen sind heute Themen wie Globaler Überwachungsstaat, Konzernlenkung der Politikmarionetten, Soziale Kälte aktueller, als sie es jemals den alten Cyberpunk-Vertretern in ihrer Fiktion vorgeschwebt wären.
Und echte "Tabu-Themen" der Achtziger, wie 2. Weltkriegs-"Helden" zu spielen, sind heute, wo die Erinnerung nur noch dem "Ewigen 2. Weltkrieg" auf den "Doku-Entertainment-Kanälen" mit maximaler Verzerrung überlassen bleibt, einfach wieder statthaft. Die meisten Kriegsteilnehmer, Überlebende, sind heute sehr, sehr alt oder eben tot. Und somit wird der 2. Weltkrieg, der 1980 noch geradezu "greifbar" war, heute wie der 7-jährige Krieg, der 30-jährige Krieg, die Invasion 43 AD, usw. behandelt. Als "vor langer langer Weile" passiert.
Und in Zeiten von Afghanistan-Kriegseinsätzen und moderner Piraterie kommen dann auch die Bedürfnisse nach "überschaubareren" und "gewinnbareren" Settings wieder auf. Daher hat auch - wie eh und je - Fantasy und - das ist noch vergleichsweise frisch - Steampunk eben einen gewissen Boom.
- P&P-Spiele werden in kaufmännische Nischenbereiche gedrängt, wie Fantasyläden, Seltenes bei Ebay od. Amazon. Sie sind kaum mehr im Handel des Gelegenheitskunden wahrnehmbar.
=> Also als ICH mit dem Hobby anfing, gab es KEINEN Laden in auch nur 200km Entfernung von meinem Wohnort! Später gab es vereinzelte Rollenspiel-Läden, manchmal als Anhängsel von Comic-Läden. Aber die mußte man auch mit der Lupe suchen (keine Google-Maps mit Zoom-Funktion!). Und diese kleinen 20 Quadratmeter-"Ladenräume", die bis unter die Decke mit Spielen vollgestopft waren, DAS waren "kaufmännische Nischenbereiche"!
Mit DSA und D&D (und auch Midgard) kamen BOXEN auch in die normalen Spielzeuggeschäfte. Aber da verschwanden sie auch bald wieder.
Als "Gelegenheitskunde" fand man Pen&Paper-Rollenspiele gerade mal in der frühen DSA-Zeit und danach nicht mehr. Ganz anders bei Brett- oder Computerspielen! Die sind PRÄSENT! Da muß man auch in Kaufhäusern nicht lange suchen, bis man die Regale und Auslagen voller Spiele findet. - Zwar völlig unüberschaubar für einen Einsteiger, was das Angebot anbetrifft, aber eben PRÄSENT.
Nur müßten sich Rollenspiele dazu in deutscher Sprache nicht in 1.000er oder 2.000er Auflagen verkaufen (wenn überhaupt so viel gedruckt werden), sondern dazu müßten die Auflagen gleich eine oder zwei GRÖSSENORDNUNGEN höher ausfallen! 10.000er Auflage? Welche deutschen Rollenspielprodukte haben die wirklich? 100.000er Auflage? Irgendwer?
Selbst die narzistischsten verquasten Gedichtbände von minderbegabten Intellektuellendarstellern haben HÖHERE Auflagen als solide Rollenspielgrundregelwerke!
Das ist das Los eines Nischenhobbys. Und daß TROTZDEM die handvoll deutscher Rollenspielverlage so VIELE Produkte und Produktlinien unterstützen, das ist schon fast ein Wunder! Denn arg große Gewinnspannen sind da nicht drin, sondern da ist oft "Zusatzgeschäft" wie Romane usw. notwendig und - würde ich erwarten - sogar weit lukrativer als das Pen&Paper-Geschäft.
Also, was hat sich an den obigen Punkten wirklich geändert?
Nicht sehr viel.
Und das TROTZ neuer Medien, neuer Vertriebswege, Print-on-Demand, ebook-Ausgaben, Online-Pen&Paper-Spielen, usw.!
Meinem Eindruck nach ist dieses Nischenhobby Pen&Paper-Rollenspiele aktuell GESUNDER als noch vor 10 Jahren! Es kommt mehr NEUES heraus und das auch noch in erstaunlich guter Qualität! (Auch wenn natürlich selbst große Produktreihen nicht vor dem Wirken minderbegabter Bonobos geschützt sind, bieten dafür aber viele "Fan-Produkte" richtig gute Sprachqualität, saubere Textorganisation und deutlich sorgfältigeres Lektorat als so manche "professionellen" Produkte.)
Ich finde die aktuelle "Lage der Nation" im Rollenspielhobby aus Kundensicht ziemlich ERFREULICH.
(Düster sieht sie nur für die Rollenspielschaffenden aus, weil immer mehr Verlage allein nur mit der Arbeitsleistung von sich selbst ausbeutenden Fans überhaupt ihr Programm aufrechterhalten können. Und da steckt Arbeit drin, die mit "Stundenvergütungen" entlohnt wird, gegenüber denen sich sogar unterhalb der Mindestlohn-Diskussionen liegende Stundensätze als geradezu "fürstliche Entlohnung" ausnehmen!
Eigentlich müßten, bei Zahlung FAIRER Entlohnung für die oftmals SEHR HARTE Terminarbeit, die in ein solches Rollenspielprodukt gesteckt wird, die Rollenspielbücher DEUTLICH TEURER sein! Deutlich! Will sagen: mal zwei, mal drei, mal vier im Preis! Dann bekämen die Mitwirkenden zumindest "marktüblich vergleichbare" Entlohnungen, statt allein "Naturalien" in Form von Belegexemplaren oder dergleichen.
Aber die Lage der Rollenspielschaffenden wäre nochmal ein ganz anderes Thema.)