AW: Unantastbare NSC
Machtverhältnisse zwischen Menschen sind immer ein Resultat von Zuweisungen von Macht. Das ist sogar bei Diktatoren stillschweigend so, und noch viel ersichtlicher bei unseren gewählten Volksvertretern. Niemand würde hier leugnen, dass diese Personen tatsächliche Macht besitzen; und deshalb sehe ich nicht ein, das Wort zu scheuen, wenn es um die Beschreibung der Position geht, die der Spielleiter gegenüber den Spielern hat.
Inwieweit er diese Macht ausreizen kann, ist dann die Sache der gesamten Gruppe. Es mag Spieler geben, die auf jede Art von Nasführung durch den Spielleiter derartig heftig reagieren, dass sie das Spiel boykottieren. Im Fall der unantastbaren NPCs fallen mir jedoch viele Gründe ein, warum ein Spielleiter, der sich ihrer bedient, sich gerade nicht am heiligen Altar des Sandboxings versündigt, sondern dass er, wenn er die Methode anwendet, gewisse NPCs zeitweise oder dauerhaft des direkten Zugriffs von Seiten der Spielercharaktere zu entziehen, narrativ durchaus etwas Positives leisten kann.
Es mag sinnvoll sein, zum Beispiel, einen Bösewicht einige Zeit vorher einzuführen, bevor er vom Spielleiter freigegeben wird, ihn zu vernichten. Die Spielercharaktere werden dabei Zeuge der besonderen Verruchtheit, der besonderen Bösartigkeit dieses Widersachers, können aber dessen Taten nicht vereiteln. Vielleicht werden sie Opfer einer Intrige, vielleicht werden sie aus der Ferne attackiert, jedenfalls baut die mittelbare Unfähigkeit der Spieler, des Übeltäters habhaft zu werden, eine solche Wut und eine solch verzweifelte Rachlust auf, dass die letzte Konfrontation, in der der Antagonist jeglichen narrativen Schutzes entkleidet wurde, als eine außerordentliche Katharsis der Genugtuung erfahren werden kann.
HJ's Beispiel von einem völlig unantastbaren Charakter, "Q", finde ich deshalb besonders gelungen, weil es zeigt, dass eine solche Deus-ex-machina-Figur sehr gut in einer narrativen Umgebung funktionieren kann, die solche Charaktere eigentlich nicht duldet.
Der Grund, warum "Q" so gute Folgen zeitigte, ist der, dass er die normalen Mechanismen der Serie suspendiert: Es ist sinnlos, gegen "Q" Schilde hochfahren zu wollen, Phaserschüsse bewirken nichts, die Tricorder spucken keine sinnvollen Daten aus. Sobald "Q" erscheint, ist klar, dass die Serie nun nach einem anderen Muster funktioniert: sie wird zum Theaterstück. Das einzige, was jetzt zählt, sind Dialoge; Wortgefechte ersetzen Weltraumschlachten; dramatische Argumentation schlägt die wissenschaftliche Deduktion. Dementsprechend ist "Q" als Theaterfigur konzipiert. Er stellt die faustischen Fragen an die ganze Menschheit, indem er als Herrgott und Mephisto in Personalunion erscheint, wechselt von Szene zu Szene die Kostüme seiner ganzen Umgebung und muss letztlich durch den Furor der rechtschaffenden Rede geschlagen werden. Er ist sozusagen der persönliche Mr. Mxyzptlk Picards.
"Q" demonstriert innerhalb von Star Trek, dass die Reihe, die oft so kühl daherkommt, Fiktion ist und keine ausgesponnene Wissenschaft. Er verhindert, dass die Serie als Ganzes zu ernst und nüchtern nimmt, und lockert die wiederkehrenden Strukturen auf, die in "Nicht-'Q'-Folgen" den Verlauf der Handlungen bestimmen. Es ist an dieser Stelle bemerkenswert, dass die erste Folge der Next Generation eine "Q"-Folge war, also die Mittel, über die die Crew der Enterprise verfügt, zuerst im Scheitern vorgestellt werden, bevor sie in späteren Folgen als zuverlässige Methoden etabliert werden.
Figuren wie "Q" erzwingen von den handelnden Charakteren ein Umdenken ihrer gewohnten Muster. Diese Wirkung können sie auch innerhalb eines Rollenspieles, wie ich finde, gewinnbringend fürs Spiel entfalten.
Rollenspiel hört meiner Meinung nach nicht da auf, Rollenspiel zu sein, wo der Spielleiter narrative Techniken ein- ja sogar durchsetzt, um die Handlung spannender zu machen oder aufzulockern. Natürlich stört es, wenn ein Lord British nur deshalb unsterblich sein soll, weil es verdammt noch Mal Lord British ist - aber gegen ein Paar Figuren, die aufgrund ihrer Wichtigkeit innerhalb des Plots vor dem Zugriff der Spieler geschützt werden, ist in meinen Augen nichts einzuwenden, solange die eigentlichen Akteure des Abenteuers nicht das Gefühl haben, an einem Nasenring durch die Geschichte geschleift zu werden.