Brainstorming Rollenspiele jenseits des 'Normalgebrauchs'

Zornhau

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In der Diskussion "Tod der Spielercharaktere" kamen interessante Punkte auf, die nicht direkt mit dem Thema der Diskussion zu tun hatten bzw. einen darüber hinaus interessanten Aspekt beleuchtet hatten.

Ich habe diesen Aspekt hier einmal mit dem Titel "Rollenspiele jenseits des 'Normalgebrauchs'" benannt.

Der normale Rollenspielgebrauch ist ja der in geselliger Runde in gemeinsam imaginierten Welten interessante Geschichten mit fiktiven Charakteren zu erleben, um unterhalten zu werden. Hier herrscht soweit, glaube ich, Konsens.

Nun kamen in der obigen Diskussion auch Äußerungen (insbesondere von blut_und_glas), die einen anderen als den reinen Unterhaltungseinsatz von Rollenspielen vorgestellt haben.

Ich finde es so wichtig, einmal über Rollenspiele jenseits des üblichen Rahmens einer reinen Unterhaltungsmöglichkeit nachzudenken, daß ich hier durchaus einen eigenen Thread für die Diskussion sinnvoll finde.

Zum Einstieg kopiere ich hier einmal den dies motivierenden Beitrag von blut_und_glas, der im Original hier zu finden ist.

blut_und_glas schrieb:
Es handelt sich zwar nicht um eine Anekdote, und ist in Bezug auf das angegebene Thread-Thema auch deutlich off-topic, aber da ich mich durch Ausführungen in diesem Thread hier – vor allem durch einiges das Zornhau sagte – dazu veranlasst sehe, diesen Beitrag zu verfassen, habe ich mich dazu entschlossen ihn hier unterzubringen. Ich habe das Gefühl, dass er in einem eigens eröffneten Thread zu sehr aus dem Zusammenhang der ihn hervorgebracht hat herausgerissen wäre.

Die Frage was Rollenspiel eigentlich darf ist beliebt, aber ich möchte sie so hier gar nicht stellen, noch weniger beantworten. Einiges hierzu ist bereits in vorangehenden Beiträgen gesagt worden, vor allem in Bezug auf mögliche Motivationen des Rollenspiels und Dinge, zu denen Rollenspiel geeignet oder ungeeignet ist. Manche Dinge sind also ungeeignet, sie stören und lenken, vielleicht sogar auf unangenehme Art und Weise, von dem ab, was man sich vom Rollenspiel erhofft. "Würde so etwas einem Spieler gefallen?" ist gefragt worden, in Bezug auf Situationen die dem beschrieben Ziel der gemeinsamen Aktivität zuwiderlaufen. Natürlich nicht. Begriffe wie "Rücksichtnahme" oder "Gruppenvertrag" sind gefallen, um zu erklären, dass das Problem hier in der Überschreitung von, manchmal nur angenommenen, nie ausgesprochenen, Absprachen liegt.
Zornhau war es, der sich darüber gewundert hat, wo meine Motivation liegen könnte, da ich abstritt nur durch en Wunsch nach Unterhaltung getrieben zu sein. Diese Verwunderung wird umso verständlicher, wenn man bedenkt, dass er hier auch die These vertrat, Rollenspiel sei, ausserhalb eines professionellen therapeutischen Umfeldes, prinzipiell für nichts anderes als eben Unterhaltung geeignet.
Diese beiden Punkte habe ich noch einmal herausgestellt, da ich sie für die folgenden Betrachtungen frisch im Gedächtnis der Leser wissen möchte.

Innerhalb einer Runde, deren Gruppenvertrag, dem von Zornhau erwähnten "Normalgebrauch" entspricht, ist die Zielsetzung klassisch Unterhaltung. In einer solchen Runde, beispielsweise auf einer Convention, wo der Gruppenvertrag darüber hinaus nur als eine Annahme existiert, und ob der Tatsache, dass sich die einzelnen Spieler mehr oder minder unbekannt sind, auch gar nicht als etwas anderes existieren kann, in einer solchen Runde also, würde ich vermutlich niemals auf die Idee kommen meine Krebsprobleme ins Rollenspiel einzuflechten.
- Dennoch tue ich genau dies in anderen Runden.
Wenn ich mit den Leuten spiele, mit denen ich auch ansonsten über diese Dinge sprechen würde, mit denen ich tatsächlich über solches spreche, dann tauchen die gleichen Themen auch im Rollenspiel auf. Warum auch nicht? Was sollte sie so plötzlich tabu machen? Was ausser einem gemeinsamen Verständnis, dass einen auch in anderen Situationen, nicht nur am Spieltisch, dazu bringt manche Themen, auch wenn man ansonsten frei über sie spricht, manchmal nicht anzuschneiden?

Kennt jemand hier Captain Chemo? Vermutlich nicht. Folgt man dem Ansatz, dass Spiel, dass Triviales, dass "Unterhaltung" eben nur der Unterhaltung, und nichts anderem dienen kann und darf, dann darf es Captain Chemo nicht geben. Captain Chemo, das sind billige Comicfiguren und billigere Flash-Games. Captain Chemo ist simple, stumpfe Unterhaltung. – Simple Unterhaltung, die über Krebs informiert. Stumpfe Unterhaltung, die krebskranken Kindern über ihr Leiden hinweghelfen soll. Billige Unterhaltung, die von Betroffenen entwickelt wurde.
Nichts als Unterhaltung? – Dann darf es Captain Chemo nicht geben, weil solche Themen für Unterhaltung ungeeignet sind.
Mehr als Unterhaltung? – Dann darf es Captain Chemo nicht geben, weil Unterhaltungsspiele eben nur unterhalten dürfen.
...ich bin dankbar dafür, dass es Captain Chemo gibt, ob es ihn nun geben darf oder nicht...

mfG4
jdw

PS: Wenn sich jemand angegriffen fühlen sollte durch diesen Beitrag – Zornhau, besonders einen Teil deiner Beiträge habe ich hier ja (wieder) (in?)direkt angegangen – dann möchte ich mich schon hier dafür entschuldigen. Dieser ganze Themenkomplex, was Rollenspiel darf, warum es das darf, und warum man selbst es betreibt, bewegt mich schon immer sehr - und in dem obigen Spezialfall nur noch mehr als sonst.

Ich finde es interessant, wie hier Rollenspiel-Mechanismen und Rollenspiel als Medium eingesetzt wird. Über diese Art mit Rollenspielen umzugehen, hatte ich bisher noch nie nachgedacht.

Mir ist bisher das Rollenspiel in psychotherapeutischem Einsatz präsent gewesen und - aus eigener Erfahrung - im Einsatz als Unterrichtsmethode bei Berater- und Projektleiter-Ausbildungen in der Industrie.

Ich würde mir wünschen, wir könnten hier über Rollenspiele jenseits der reinen Unterhaltung eine so interessante Diskussion führen, wie über den "Tod der Spielercharaktere".

[edit]Nach mehreren Tagen ohne jegliche Meinung dazu scheint dieses Thema wohl doch nicht interessant genug zu sein. Soll ich es wieder löschen?[/edit]
 
Nö, finde diese Aspekte interssant. Aber ich glaube, man muss sich das was da steht erst mal durch den Kopf gehen lassen!
 
Nun... Ich kann meine Gedanken leider nicht so begabt in Worte fassen, wie so manch anderer es tut, aber ich werde mich bemühen.

Man kann Rollenspiel zur Flucht vor der Realität verwenden. Nicht als Spiel, sondern als Flucht: vor dem wirklichen Leben, vor echten Problemen. Es ist ein Weg, sich Gedanken machen zu können, ohne dafür reale Hintergründe zu haben.

Eine Möglichkeit ist das Verdrängen von aktuellen Problemen: man will sich keine Gedanken machen, die Sorgen vergessen und überlegt halt, welche Pläne der Charakter entwickeln könnte.
Eine andere Form wäre, in Zeiten von Langeweile den Geist zu beschäftigen. Rollenspiel ist so viel interessanter und reicher an überraschenden Wendungen und faszinierenden Personen als das richtige Leben, dass es manchmal mehr Spaß machen kann, einen Abend lang zu spielen als eine Woche lang normal zu leben, weil in kurzer Zeit viel mehr passiert.

Weiters kann ich mir noch vorstellen, dass man beim Spielen ein Verhalten an den Tag legen kann, das im richtigen Leben nicht gebilligt werden würde, oder zumindest seltsam angesehen. So kann zum Beispiel die (überspitzt formuliert) geschraubte Sprechweise eines Prinzen in der Alten Welt viel Spaß machen, ist für das richtige Leben aber nur sehr beschränkt bis gar nicht sinnvoll.

Dies soll als Anregung zum Weiterdiskutieren gesehen werden, ich erhebe nicht den geringsten Anspruch auf Vollständigkeit.
Da mein Internetzugang in Kürze beendet wird, muss ich hier abbrechen. Für weitere Ergüsse stehe ich natürlich gerne zur Verfügung.
 
Für mich ist die Verwendung des Rollenspiels, die blut_und_glas in seinem Beitrag aufgezeigt hat, recht überraschend gewesen. Das zeigt mir, daß ich auch nach langer Zeit im Rollenspiel-Hobby noch etwas dazulernen kann.

Ich möchte hier mal meine Sicht von Rollenspiel (roleplaying) und Rollenspiel-Spielen (roleplaying-games) kurz darlegen.

Rollenspiel hat für mich den Charakter einer Methode, einer Technik, einer Art etwas zu tun. Die Art ist in diesem Falle eine Rolle mit bestimmten Eigenschaften anzunehmen und zu verkörpern - ähnlich wie Schauspielerei, nur - in den meisten Fällen - ohne festgelegten Text. Dieses "in andere Rollen schlüpfen" ist in der Regel ein recht intensives Erleben aus der Perspektive der Rolle. Je nach den äußeren Umständen, der Atmosphäre in der man in die Rolle schlüpft, kann man sehr stark in seiner Rolle aufgehen, was es einem auch für eine gewisse Zeit erlauben mag, zum Teil seine im Alltag zur Schau getragenen Züge seiner öffentlichen Persönlichkeit zurückzunehmen und andere, aber m.E. immer doch irgendwie eigene Charakterzüge hervorzuheben.

Ich möchte hier garnicht so tief in "theoretisches" Geblubber, was Rollenspiel wirklich ist , einsteigen, da ich nicht so viel davon halte, jeden Begriff für alle und jeden bis ins Kleinste zu zer-definieren. Ich denke, wir haben es hier im Forum mit Lesern zu tun, von denen jede(r) einzelne eine ganz gute Vorstellung davon hat, was Rollenspiel für ihn oder sie ist. Daher möchte ich hier nun von der Methode eine Rolle zu verkörpern zu Anwendungen dieser Methode kommen.

Anwendungen von Rollenspiel (roleplaying) als Methode:

Therapeutisches Rollenspiel
Was einem da sofort als eine - noch nicht wirklich nachgewiesene - historische Quelle des Rollenspiels einfallen könnte, ist das therapeutische Rollenspiel, welches zur Behandlung von psychischen Problemen von Patienten durch deren geschulte Therapeuten eingesetzt wird. Ich bin kein Psychologe und möchte hier auch nicht mit einem Hobby-Psychologie-Jargon daherkommen, den ich selbst nicht wirklich verstehe. Daher möchte ich es bei dieser Anwendung soweit belassen, daß es für einen engen Kreis (Patienten) gedachte Rollenspiel-Therapien (roleplaying therapy) gibt, die von einem speziell dafür ausgebildten Kreis (den Therapeuten) angewandt werden.

Unterrichtendes Rollenspiel
Insbesondere im Sales-Umfeld (Vertrieb, Verkauf von Leistungen an Kunden) wird die Methode des Rollenspiels als Unterrichtsmethode eingesetzt. Eine ganze Gruppe an Vertriebsleuten wird auf einer Schulung in zwei Grüppchen geteilt - die eine spielen Kunden, die andere Verkäufer, die den Kunden irgendetwas verkaufen sollen und dabei insbesondere Verkaufsgespräche führen sollen. In der Regel werden solche Rollenspiel-Trainingsszenen beobachtet, evtl. per Video aufgezeichnet, bewertet und nachbesprochen. Man legt hier Wert auf hohen Realismus (Stichwort: Realismus im Rollenspiel - hier ist extremer Realismus beabsichtigt ;)). Das geht in der Regel so weit, daß die Spielszene eher LARP-Charakter hat. D.h. das gesamte Auftreten in der "Kundensituation", die Körpersprache, das gesagte Wort und das nichtgesagte, das Spiegeln der Körpersprache des Gegenübers, das Schaffen von Vertrauen, das zielgerichtete sprachliche Manövrieren auf einen Abschluß hin, sind alles Charakteristika dieser Art von Rollenspielen. Und dann die Bewertung: es gibt hier keine Erfahrungspunkte für "gutes Rollenspiel", wohl aber - zumindest bei den seriöseren Trainings (falls es solche für Vertriebler überhaupt geben kann ;)) - Kriterienkataloge, nach denen man bewertet wird. Die Bewertung wird aber in der Regel im offenen Feedback-Gespräch dargeboten und danach bei Bedarf noch die Verbesserungsmöglichkeiten für den Betreffenden "Spieler" aufgezeigt. Man kann diese Art des Rollenspiels als eine sehr realitätsnahe Simulation auffassen. Es wird keine Geschichte erzählt, sondern "richtiges" Verhalten trainiert. Die gespielten Kunden werden in einzelnen Szenen auch mit unterschiedlichen Verhaltensweisen auf den "Helden" reagieren - mit brüsken Bemerkungen, mit Interesse, mit Zweifeln, desinteressiert, Bezug auf bessere Angebote der Konkurrenz nehmend, etc. So sollen im "Trockentraining" kritische Situationen und die Reaktion darauf eingeübt werden. Hier ist das Rollenspiel reines Mittel zum Zweck.

Einschub:
Nicht nur im Vertrieb, sondern auch im Projektmanagement und im Consulting werden solche Trainingsmethoden eingesetzt. Diese können sogar noch umfassendere Formen annehmen. Ich hatte selbst das zweifelhafte Vergnügen an einem eine Woche lang laufenden Simulationstraining teilzunehmen, bei dem tatsächlich in einem Bürohochhaus eine ganze Etage gemietet wurde und vom Hausmeister über Empfangsdamen bis hin zur Geschäftsführung eine fiktive Firma LIVE(!) simuliert wurde. Ich dachte die ganze Zeit vor dieser Simulation daran, daß das wohl ein Business-LARP sein würde. Aber da es so nah an der Realität war und die gespielten Kunden/Auftraggeber durchaus sehr glaubwürdig auch ihre persönlichen Eigenheiten ausgespielt hatten, wurde man von Tag 1 an richtig hineingesogen.

Man konnte sich dem Gruppendruck der Kollegen und dem Konkurrenzdruck, das beste Team zu sein, kaum entziehen. Das sage ich hier ganz offen, da ich im normalen Alltag eine recht kritische Haltung zu den üblichen Praktiken in den Chefetagen habe. Und doch wurde man in dieser Simulation sogar in die im Consulting übliche Selbstausbeutung gebracht: ich habe über 4 Nächte insgesamt kaum 12 Stunden Schlaf bekommen. Unser Team - und alle anderen - haben gerödelt wie blöde. Man konnte sich da wirklich nicht entziehen, weil man so richtig DRIN ist.

Außerdem wurden wir alle indoktriniert. Es stellte sich als einzige von den NSCs akzeptierte Lösung der gestellten Aufgaben eine m.E. recht bedenkliche Geschäftspraxis dar, die in Zukunft von unserem Unternehmen viel stärker verkauft werden soll. Das fand ich ziemlich übel, da man kaum Spiel für echte Kreativität beim Problemlösen hat (das ist nämlich eigentlich meine Hauptmotivation im Job), sondern ein von oben reingedrücktes Lösungsmuster verkaufen sollte. Jedes Team hat das verstanden und brav den NSC-Kunden präsentiert und somit die Aufgabe gelöst. Man hatte also in bestimmter Richtung stark positives Feedback erhalten und alle anderen Richtungen mit geringem oder negativem Feedback belegt. Die ganze Simulation kam den "professionellen Anzugträgern" und aufstrebenden Sternen am Unternehmenshimmel sehr gelegen, während ich als technisch-motivierter Mensch zwar mitgezogen wurde, aber mich nach der Simulation irgendwie unwohl gefühlt hatte. So ein wenig gehirngewaschen - nur weiß man nie, was davon wirklich hängengeblieben ist.

Mir zeigt das, wie mächtig ein Rollenspiel als Simulation der Realität sein kann und wie gefährlich diese Methode des Rollenspiels sein kann, wenn man sie als reines Mittel zum Zweck auf in der Regel nicht vorbereitete Leute anwendet. Das ist den Machern dieses Trainings m.E. sicherlich bewußt gewesen, was ich schon fast skrupellos finde. Die einfache Schulung, wo die Teilnehmer abwechseln für nur eine Szene oder ein paar in eine Rolle schlüpfen ist m.E. nicht so schlimm und kann tatsächlichen Lerneffekt bringen. Aber die 1:1-Simulation einer Firma ist bedenklich. Und ich habe mich trotz Vorkenntnissen aus LARP, aus Pen&Paper und einer kritischen Einstellung zu Management-Mißverhalten TROTZDEM voll hineinziehen lassen. Ich glaube, wenn ich mich nicht vor diesen starken Effekten schützen konnte, dann andere, die keine Rollenspielerfahrungen haben, noch weniger. - Uff, das mußte mal raus.


Noch ein Einschub:
Rollenspiel als Lehrmethode ist m.E. besonders wichtig für alle, die ernsthaft Selbstverteidigung trainieren müssen. Ich sage hier explizit "Selbstverteidigung" im Unterschied zu Kampfsport, Kampfkunst, LARP oder anderen kämpferisch orientierten Aktivitäten. Selbstverteidigung geht von bestimmten - in der Regel nachteiligen - Vorbedingungen für den Verteidiger aus: z.B. überraschender Angriff, schlechte Lichtverhältnisse, kein Fluchtweg, mehrere Angreifer etc. Diese Bedingungen findet man NIE im Wettkampfsport, wo sportliche Fairness selbst bei den härtesten Vollkontaktkampfsportarten noch eine Rolle spielt. Der Angreifer in Selbstverteidigungssituationen ist nicht nur niemals fair, sondern hat noch mehrere psychologische Vorteile: er hat sich schon entschlossen dem anderen Weh zu tun, er hat ein positives Verhältnis zum Einsatz von Gewalt und er bestimmt die Reaktion des anderen, er dominiert. Gegen alle diese Vorteile muß sich der Verteidiger durchsetzen können. Hinzu kommt in realen Situationen meist noch verbale und/oder körperliche Beleidigung, Herumschubsen, Ablenken, Begrapschen, etc. Genau solche Situationen müssen in einer ernstzunehmenden Selbstverteidigung so oft trainiert werden, daß man seine Coolness bewahren kann, auch wenn so ein Arschloch einen beschimpft, anspuckt und einem dem Weg verstellt. Das trainiert man auch mit Rollenspielszenen, die aber nicht nur die verbale und körpersprachliche Seite beinhalten, sondern auch echte Kampftechniken, die im Eskalationsfalle anzuwenden sind. Gute Selbstverteidigungslehrer unterrichten auf diese Art insbesondere Frauenselbstverteidigung (wo auch explizit Vergewaltigungsszenarien behandelt werden). Auch hier ist Vorsicht geboten. Wo Kampfsport noch eine kämpferische, aber vor allem sportliche Sache ist, gehen einem echte Selbstverteidigungsszenarien wirklich an die Nieren. Man wird hier bewußt in simulierte körperliche Bedrohung gebracht, aus der man sich dann mit Reden, Weglaufen oder durch vorher bereits in sicherem Rahmen trainierte Kampftechniken befreien muß. Das ist hart. Und die meisten Anbieter von Selbstverteidigung bieten einen verkappten Kampfsport an, ohne dieses auch psychologisch wirksame Training. Das ist m.E. die große Gefahr an den Schnellkursen in Frauenselbstverteidigung oder den KampfSPORTarten, die behaupten sie würden AUCH Selbstverteidigung unterrichten. So etwas ist gefährlicher als man denkt, da es falsches Selbstvertrauen bei mangelnden Kampffähigkeiten vermittelt. Hier ist auch im Rahmen von Kampftraining das Rollenspiel als Unterrichtsmethode nicht verzichtbar.


Unterhaltendes Rollenspiel
Das kennt ja wohl jeder hier im Forum. Die sich aus den Tabletop- und Konfliktsimulationsspielen entwickelnden frühen Rollenspiel-Spiele (roleplaying games) hatten noch recht starken Simulations-Charakter. Mit der Zeit haben sich andere Formen des unterhaltenden Rollenspiels entwickelt. Erzählerisches Rollenspiel, LARP, Computer-Rollenspiel, ... sind nur einige der Entwicklungen, die kaum noch etwas mit den Wurzeln der Rollenspiels zu tun hatten. Es gibt ja einige "Theoretiker" der Rollenspiel-Spiele, die Klassifizierungen unterschiedlicher Spielertypen etc. vorgenommen haben. Mir liegt das nicht so. Wer sich in "Club der toten Dichter" an die Szene erinnert, wo die Schüler aus einem Lehrbuch die "objektiven Kriterien für die Qualität von Poesie" lernen sollten und dann aufgefordert wurden, diese Seiten aus den Büchern herauszureißen, kann das vielleicht nachempfinden. Man kann alles zu Tode systematisieren - und verliert dabei die Essenz dessen, was man gerade systematisiert, aus den Augen: Rollenspiel-Spiele sollen unterhalten, Spaß machen, gesellige Freizeitvergnügung darstellen. Egal, ob einige Rollenspieler das anders sehen und eine gewisse "Tiefe" für ihre Art das Spiel zu spielen in Anspruch nehmen, die Verlage, die Rollenspiele herstellen und verkaufen, kennen nur eine Art des "Normalgebrauchs" für Rollenspiele - nämlich den der Unterhaltung.

Was noch?
Was kann man nun mit der Methode "Rollenspiel" sonst noch machen außer zur Unterhaltung mit Freunden spielen, zu Unterrichtszwecken zum Üben des Gelernten, zu therapeutischen Zwecken unter psychologischer Betreuung?

blut_und_glas hat eine interessante weitere Anwendung der Methode Rollenspiel aufgeführt, die mir jedoch noch nicht so ganz klar ist, mich aber doch schon recht bewegt hat (z.B. diesen Thread zu eröffnen).

@blut_und_glas: Könntest Du noch ein wenig mehr über "Captain Chemo" erzählen? Ich wäre auf jeden Fall interessiert und andere bestimmt auch.
 
Ich denke auch, dass es durchaus möglcih ist mit Rollenspiel nach mehr als Unterhaltung zu streben. Das sieht man schon allein daran, dass es ganze Systeme sind, die diesem Zweck dienen.

Nehme man zum Beispiel SLA Industries: Es ist ein so kritisches und depressives Setting, dass anspruchsvoll eine düstere Prognose der Zukunft der Erde erstellt, bzw. heutige Misststände kritisiert(deshalb ist wohl auch das Tech-Level so niedrig: Von den Lebensumständen könnte es auch auf der ERde des Jahre 2030 :nixwissen spielen), dass ich es mir nicht vorstellen kann, dass auch nur irgendjemand es allein wegen des Unterhaltungswertes spielt(das ist meine Meinung). Natürlich kann man auch mit SLA Action-Sci-Fi spielen und wird es auch sicherlich meist oder oft tun, doch trotzdem gibt es einen deutlichen Unterschied zu z.B. Star Wars.
Und das ist auch gut so und macht das Setting so einzigartig und faszinierend.

Deshalb meine Meinung: Ein Rollenspiel kann wirklich etwas über Unterhaltung hinaus aussagen und oft ist dies auch ein großes Qualitativum, aber dieser Teil darf nicht überwiegen(selbst die anspruchvollste Runde mach keinen Spaß, wenn sie eben keinen Spaß macht) und muss auch nicht unbedingt vorhanden sein.

Darüber Themen in ein Rollenspiel zu integrieren, die einen selbst beschäftigen, weiß ich jetzt nichts, das habe ich noch nie erlebt.

Edit: Also Zornhaus Beitrag stand dort noch nicht. Da kann ich noch so viel von Qualitativum labern, er hat mich einfach in Grund und Boden geredet. ;)
Das mit der Firma-Simulation hört sich wirklich ... nun ja... seltsam an. Wie dem auch sei.
 
Nun ich denke Rollenspiel kann auch Lehrreich sein! Also nicht nur zu Unterrrichtszwecken benutzt sonderm im Spiel und durch die entwicklung eines Charakters. Der verschiedene Fähigkeiten hat. Denke das zum Beispiel an Druiden. Mann kann wenn man sich tiefer in den Charakter versetzt auch viel lernen über Pflanzen usw. Das einfach nur mal als Beispiel. Ich denke da steckt noch viel mehr drin aber das hier aus zu führen geht dann doch zu weit.

Schon Kinder lernen über Rollenpiele, die nicht zwingend gelenkt werden müssen durch andere Personen. Will damit sagen das zumindest in der pädagogik dem Rollenspiel eigentlich eine wichtige Komponente des Lernens zugeschrieben wird. (Will das nicht weiter ausführen, weil ich selbst Erzieherin bin und Euch damit sicherlich langweile, mit gefachsimpel)

Allein aber auch die Fantasie die man aufbringen muss um Rollenspiele zu betreiben hat nicht jeder doch genau das aber hält unseren Geist rege. Und man ist einfach offener neuem gegenüber und berieter neues zu lernen oder auch an zu wenden.
 
aus dem thread 'shadowrun als mögliche zukunft' oder so:
geschrieben von silence
In all den Jahren die wir alle SR spielen traf ich bisher drei Leute die glauben an diese "Entwicklung". Es sind sonst klasse Leute, aber mit ihnen SR zu spielen oder darüber zu diskutieren ist echt grausam!
Eine hält sich wirklich für eine Wicca und ein anderer folgt dem Schöpfer und der dritte glaubt einfach nur.

da ist mir nämlich der gedanke gekommen ob es da nicht welche etwas zu ernst genommen haben.... könnte es sein, dass das bei anderen auch der fall ist? ich halte das für bedenklich...
 
Zornhau schrieb:
Rollenspiel hat für mich den Charakter einer Methode, einer Technik, einer Art etwas zu tun. Die Art ist in diesem Falle eine Rolle mit bestimmten Eigenschaften anzunehmen und zu verkörpern - ähnlich wie Schauspielerei, nur - in den meisten Fällen - ohne festgelegten Text.

Damit sagst du eigentlich bereits schon viel von dem worauf ich hinaus will. Rollenspiel ist ähnlich wie Schauspielerei. Rollenspiel ist ein Medium. Und als solches kann es für eine gewaltige Bandbreite an Aufgaben, Zielen, eingesetzt werden. Anderen Medien gesteht man dies (mittlerweile?) meist relativ kommentarlos zu. Das Medium Film beispielsweise bringt von simplen Komödien bis zum trockenen Dokumentarfilm alles und mehr hervor.
Natürlich weisst Rollenspiel immernoch massive Unterschiede zum Film auf, beide sind schließlich mit nichten das gleiche. Aber die Frage sollte doch lauten, ob diese Unterschiede tatsächlich dergestalt sind, dass Rollenspiel nicht zu der Flexibilität und Wandlungsfähigkeit (anderer) Medien in der Lage sein sollte.
Kann man Rollenspiel also als eine eigene Ausdrucksform akzeptieren?
Wenn ja, dann ergibt sich daraus in meinen Augen zwangsläufig, dass es zu mehr als Unterhaltung in der Lage ist. Dabei ist es wichtig zu beachten, dass dieses "mehr" Unterhaltung nicht ausschließen muss. So kann beispielsweise, um - für dieses Posting zumindest - die Analogie Film noch ein letztes Mal zu bemühen, ein Film unterhalten, jedoch auch gleichzeitig zum Nachdenken anregen.

@blut_und_glas: Könntest Du noch ein wenig mehr über "Captain Chemo" erzählen? Ich wäre auf jeden Fall interessiert und andere bestimmt auch.

Ich denke ich sollte hier vielleicht erst noch einmal etwas richtig stellen, denn ich bin mir nicht gänzlich sicher ob ich mich in bezug auf Captain Chemo ausreichend klar ausgedrückt habe.
Captain Chemo ist kein Rollenspiel.
Captain Chemo ist ein Comic(held) und der Star einer Reihe sehr einfach gehaltener Computerspiele. Die Figur wurde von einem an Krebs erkrankten Jugendlichen entwickelt, während er sich in Therapie befand. Nach fünf Jahren intensiver Behandlung erlag er mit 18 der tückischen Krankheit.
Ich habe Captain Chemo hier angeführt, da er für mich eines sehr klar zeigt. Nur weil etwas (dem Namen nach?) ein Spiel ist, muss es sich nicht auf Unterhaltung beschränken.
Captain Chemo ist vielleicht kein Rollenspiel, aber er könnte es sein.

mfG
jdw
 
blut_und_glas schrieb:
[...]Rollenspiel ist ein Medium. Und als solches kann es für eine gewaltige Bandbreite an Aufgaben, Zielen, eingesetzt werden.[...]
Beim Begriff "Medium" sträubt sich in mir etwas. Ich bin kein Medientheoretiker, nicht mal hobbymäßig. Ein Medium ist etwas, das geeignet ist, Inhalte zu vermitteln (sic medium). Nach modernem Verständnis des Begriffs "Medium" muß sich dieses etwas in eine Reihe mit Film, Funk, Fernsehen, Presse, Theater, Literatur, Internet etc. einordnen lassen.

Nur reicht mir nicht aus zu sagen, ein Kandidat für den "Titel" Medium muß nur nachweislich Inhalte vermitteln können. Für mich ist essentiell, daß ein potentielles Medium bewußt als Träger zur Vermittlung von Inhalten eingesetzt wird. Wenn also ein Dokumentarfilmer das Medium Film verwendet, so mit der Absicht den Gegenstand seiner Dokumentation darzustellen. Wenn ein nicht ausschließlich auf seichte Unterhaltung ausgelegter Film bewußt neben der Unterhaltung auch eine "Botschaft" vermitteln soll, zum Nachdenken anregen soll, betroffen machen soll, so ist dies die bewußte Entscheidung des Produzenten, Regisseurs und Drehbuchautors. Das gilt m.E. für alle bisher als Medien anerkannten "Transportmittel" von Inhalten.

Hier liegt der Punkt, der mich in Bezug auf Rollenspiel nicht als Medium denken läßt: die Autoren und Verlage von Rollenspielen wollen nach meiner durchaus nicht ganz kurzen Kenntnis von Rollenspiel-Produkten unterschiedlicher Genres nicht bewußt andere Inhalte als gesellige Unterhaltung im Spiel vermitteln.

Ja. Es gibt Spieler und Spielleiter, die in das Material, welches sie als Grundlage zum Rollenspielen hernehmen, mehr hineininterpretieren als es die Autoren je gedacht hatten (siehe das Zitat im Beitrag von FalscherHeiland zu SR-Fans). Manche Spielwelten haben Hintergründe, die etwas in manchen Spielern ansprechen und sie zum Weiterspinnen der dort präsentierten Alternativ-Historien, Alternativ-Kulturen, Alternativ-Wertesysteme etc. anregen. Manche regen eventuell sogar den einen oder anderen an SELBST zu denken (oje, das versteht bestimmt irgendwer falsch - ich mußte das jetzt aber so schreiben). Das alles mag man so positiv bewerten, wie man will, doch bleibt es eine unbeabsichtigte Reaktion auf Produkte einer Unterhaltungsindustrie, die auf Umsatzzahlen angewiesen ist.

Vergleichen wir Rollenspiele mal weniger mit Filmen, die m.E. wirklich überwiegend reine Geldverdienmöglichkeiten für die Filmindustrie sind. Vergleichen wir Rollenspiele mal mit Literatur. Der Großteil der Literatur, die derzeit neu entsteht ist reine Gebrauchsliteratur. Fach-, Lehr- und Sachbücher im "ernsten" Teil gegenüber immensen Mengen von Roman-Dutzendware, die zumeist nur recht mäßige Unterhaltungsansprüche nur knapp befriedigen kann (sowohl im Taschenbuch, im "Groschenroman" als auch in Hardcover). Manche Autoren verdienen daran gut genug, daß sie auch ab und an einmal ein paar ernstzunehmende Romane mit Reibungspunkten, die nachdenklich machen können, schreiben. Die meisten schreiben aber, um etwas zu ihrem Lebensunterhalt zu verdienen.

Dazu einen kleinen Exkurs: Wer kennt die Biographie des (u.a. Science Fiction-)Autors Philipp K. Dick? Wem diese vertraut ist, der kann eventuell den Punkt nachvollziehen, für die anderen hier in Kürze: er schrieb um etwas zu essen kaufen zu können und seine Miete zu zahlen Romane, die zwar manchmal den einen oder anderen seltsamen Gedankengang hatten, dann aber aus reiner Verkaufbarkeitsüberlegung oftmals konventionell enden mußten, damit er sie einem Verlag verkaufen konnte (bei so hochklassigen Romanen wie "Der unteleportierte Mann" hatte er sogar das eigentliche Ende "in der Schublade" und schrieb ein "marktgerechtes" nur um es überhaupt veröffentlichen zu können - die ursprüngliche Ausgabe wurde erst kurz vor seinem Tode vollständig rekonstruiert veröffentlicht). Erst als er als Autor trotzdem(!) einen sehr guten Namen hatte, konnte er es sich leisten solche verstörenden Visionen zu Papier zu bringen wie "Do Androids dream of electric sheep?" - der Vorlage zum Film "Bladerunner" - in dem es im Kern darum geht, was nun wirklich menschliche Identität ausmacht, und wie man feststellen kann, ob jemand wirklich ein Mensch ist - vor allem, ob man selbst einer ist.

Das Problem der Verkaufbarkeit ist in allen Medien (auch - inzwischen - dem Internet) gegeben. - Aber. - Es gibt auch, in der Regel kleine, Verlage, die sich trauen kritische oder sonst irgendwie außergewöhnliche Werke zu publizieren. Das ist nicht selbstverständlich. Es ist stets ein finanzielles Risiko für den Verlag. Oftmals existiert aber eine finanziell gut situierte Schicht an Abnehmern für solche Produkte bzw. an Sponsoren, die mit ihrem Geld aus Prinzip die Plattformen für nicht marktgängige Werke schaffen.

Wieder zurück zum Rollenspiel: Kein einziger Verlag für Rollenspielprodukte ist mir bekannt, der in auch nur grob ähnlicher Art seine Rollenspiele publiziert, wie es solche Nischen-Verlage für Literatur tun. Es gibt einfach keine Unterstützung für Autoren von Rollenspielprodukten, die mehr vermitteln wollen , als reine Unterhaltung und trotzdem publiziert werden wollen. Die von manchen Spielern als nachdenkenswert empfundenen Spielwelten sind so ähnlich wie die "verkaufbar" gemachten Romane von Philipp K. Dick. Es sind Ideen enthalten, die einen zum Selberdenken anregen könnten, die aber nicht die bewußte Absicht der Veröffentlichung waren. Und daher meine ich, daß man bei Rollenspielen nicht von einem Medium sprechen kann.

Noch nicht.

Aber die Methode über das Verkörpern von Rollen auch Inhalte erfahrbar und erlebbar zu machen hat m.E. das Potential eventuell einmal ein Medium werden zu können.

Bis dahin braucht es aber noch ganz andere Verlage, einen wesentlich größeren Rollenspielemarkt, der auch solche Nischen überleben läßt, und eine dafür aufgeschlossene Kundschaft. Wie man aber an der Literatur schon sieht: für reinen Nutzgebrauch (Unterricht, Therapie) gibt es eigene Märkte, die meist nicht mit Rollenspiel-Produkten, sondern mit Rollenspiel-Betreuung als Dienstleistung bedient werden. Die Produktangebote im Rollenspiel liegen meiner Kenntnis nach ausschließlich im Unterhaltungssektor (wie ja auch die Unterhaltungs-Literatur den stärksten Marktanteil hat).


blut_und_glas schrieb:
Kann man Rollenspiel also als eine eigene Ausdrucksform akzeptieren?
Wenn ja, dann ergibt sich daraus in meinen Augen zwangsläufig, dass es zu mehr als Unterhaltung in der Lage ist.
Das sehe ich auch so. Das Potential ist da, doch existiert noch kein bewußtes Nutzen dieses Potentials.

Mir ist hier im Forum aufgefallen, daß einige Teilnehmer der Meinung sind, bestimmte Rollenspielsettings wie SR, SLA Industries oder WoD wären besonders geeignet bestimmte über die reine Unterhaltung hinausgehende Inhalte zu vermitteln. - Das sehe ich überhaupt nicht so. - Auch diese Produkte sind mit Gewinnmaximierung durch Abverkauf im Hintersinn produziert worden. Dabei bedienten sich die Verlage bestimmter Versatzstücke für die Settings, die männlichen Erwachsenen in bestimmter Altersgruppe ideal angepaßt sind - denn das ist die Hauptzielgruppe zum Verkauf von Rollenspielen.

Ich glaube zu verstehen, daß manche meinen, mit einer "harten" Gesellschaft als Spielhintergrund, eine "realistische" Extrapolation unserer aktuellen Realität vor sich zu haben. Das ist grundsätzlich problematisch, da jeder Realismus zwingend im Rollenspiel unmöglich sein muß und ferner jede Extrapolation eben nur das ist, eine Extrapolation, und mit Gewißheit nicht das reale "Ding". Die Diskussion über "Realismus im Rollenspiel" möchte ich hier nicht aufwärmen, da es sowieso vergeblich ist gegen Glaubensfragen anzudiskutieren - und meine Erfahrungen mit solchen Realismus-Diskussionen sind genau dies: manche glauben einfach weiter, auch wenn sie zwingend danebenliegen.

Es erstaunt mich, daß es doch ein paar Rollenspieler gibt, die augenscheinlich ernstlich der Überzeugung sind, daß sie sich, indem sie in tödlicheren, blutigeren und mit mehr Vergewaltigungen und sonstigen Verhaltensproblemen ausgestatten Spielhintergründe spielen, gleichzeitig auch "kritisch" mit den Problemen oder Entwicklungen unserer heutigen Zeit auseinandersetzen. Das ist so widersinnig, daß mir beinahe die Worte fehlen - nur beinahe.

Man setzt sich nämlich mit Problemen auseinander, indem man sich damit auseinander setzt.

Das klingt vielleicht einfach, vielleicht sogar dämlich. Es ist aber so. Durch Spielen setzt man sich mit NICHTS auseinander. Spiele haben bestenfalls ungewollte und unbewußte Seiteneffekte. Die können als Zubrot durchaus interessant sein, doch kann man damit keine wirkliche Auseinandersetzung mit egal was ersetzen. Nur durch eine klare, bewußte, kritische Beschäftigung in einem Umfeld, in dem nicht die Hauptmotivation Unterhaltung ist, läßt sich so etwas bewerkstelligen. Wer sich z.B. mit den schlimmen Entwicklungen des modernen Kapitalismus befassen will, von dem erwarte ich einfach, daß er verantwortungsbewußt - und intelligent - genug ist, und sich politisch bildet, bei Globalisierungsdemos mitmacht, etc. - nicht daß er Rollenspiel-Spiele spielt mit dem guten Gefühl sich damit gleichzeitig ja auch so toll "kritisch" mit irgendwas Politischem oder Ethischem befaßt zu haben, während er seine Würfel über den Tisch gekullert hat. Diese Rechnung geht nicht auf.

Was mir besonders aufgefallen ist, betrifft die Genre-Ausrichtung der "kritschen Auseinandersetzer"-Rollenspiele. Es handelt sich ausnahmslos um Jetztzeit- oder Near-Future-Settings, um Settings mit schrankenlosem Kapitalismus, schrankenloser Gewalt, ohne gesellschaftlich einflußreiche Organisationen oder Gruppierungen, die andere Werte oder Normen jenseits des diese Settings bestimmenden Egoismus propagieren würden, sowie ohne politische Organe, die handlungsfähig wären und effektiv steuernd eingriffen.

Mir sagt das was -aus dem Bauch heraus - über das Empfinden der Fans solcher Systeme bezüglich unserer jetzigen Zeit: sie empfinden die Politik ohnmächtig, die Konzerne übermächtig, sie fühlen den Hang der Gesellschaft weg vom Individualismus hin zum puren Egoismus, sie spüren das Fehlen von allgemein akzeptierten und gelebten(!) Werten (wie sie früher die christlichen Kirchen vertreten hatten). Diese Gefühle kann ich sogar verstehen, da sie m.E. einen gewissen aktuellen Trend unserer realen Gesellschaft betreffen. Daher bringen diese Negativ-Settings m.E. in manchen Spielern etwas zur Resonanz, so daß sie sich in diesen Settings zuhause fühlen. Ich meine aber, diese Spieler arrangieren sich mit dem Übel des Settings (bewußt oder unbewußt), und werden Teil dessen, was sie eigentlich nicht gut heißen, und doch erleben sie so ihre Momente persönlicher Flucht aus unserem Alltag, gegen dessen Probleme sie sonst ohnmächtig anrennen müßten. Das ist mein Eindruck.

Komischerweise ist aber immer noch die Mehrzahl der verkauften Rollenspiele nach Genres gesehen im klassischen High-Fantasy-Genre angesiedelt. Woran das wohl liegen mag? Wieder mal meine Meinung: Das liegt daran, das man in einem klassischen Fantasy-Setting eine noch intakte Natur hat. Eine Welt mit überschaubarer (und beherrschbarer!) Technologie. Eine Welt, in der der Mut des Einzelnen (des Helden) tatsächlich etwas bewegen kann, statt einfach in den Mühlen eines anonymen Systems unterzugehen. In High-Fantasy-Welten gibt es auch noch funktionierende Wertesysteme (ob die Gesinnungen in D&D oder die Kulte in Glorantha/HeroWars). Das sind Punkte, nach denen sich viele sehnen (ich auch!).

Manche Genres sind hier in der Grauzone. Da kommt dann der "Gruppenvertrag" ins Spiel. Wie wollen wir miteinander spielen? Was ist für alle in der Spielgruppe an expliziter Darstellung von Gewalt, Sex, etc. akzeptabel? Solche Gruppenverträge werden in der Regel nicht offen geschlossen, sondern sind eher implizit. Man merkt aber sofort, wenn man sich "vergriffen" hat und die Grenzen des Vertrags überschritten hat.

Persönlicher Exkurs: Ich möchte mal schildern, wie ich spielen mag. Ich möchte als Spieler wie auch als Spielleiter, daß die Spielercharaktere den Unterschied machen können. Egal ob in Low-Power-Settings wie Babylon 5, Midgard, Cthulhu oder Traveller, oder in High-Power-Settings wie Glorantha/HeroWars, Castle Falkenstein, Deadlands. In den Geschichten, die ich mit meinen Spielern durchspiele, sind die Spielercharakter stets etwas Besonderes. Selbst diejenigen, die regeltechnisch gesehen schwache Charaktere spielen bekommen mehr "Screen-Time" als NSCs. Sie sind etwas Besonderes. Ich lege es im Kampagnen-Spiel stets darauf an, den Charakteren mit der Zeit die Gelegenheit zu geben an wirklich bedeutsamen Ereignissen eingreifen zu können (dabei ist mir die "offizielle" Hintergrund-Entwicklung mancher Spieleverlage egal). Mir ist es wichtig die Spieler(!) und nicht nur die Charaktere an den Herausforderungen wachsen zu sehen. Ich lasse mich auch gerne von neuen Ideen überraschen und bin stets bereit mit einer interessanten Idee "mitzugehen" und meinen Plot entsprechend anzupassen - einfach, weil es so interessanter ist. Das heißt nicht, daß SCs nicht auch danebenlangen können. Die Option zu Scheitern ist natürlich immer da, aber es kommt mir darauf an, auch die Option für herausragenden Erfolg vorzusehen. Dabei kann je nach Power-Level des Settings ein Erfolg sehr unterschiedlich sein: bei Cthulhu ist es ein Erfolg, wenn die schlimme Beschwörung verhindert werden konnte obwohl dabei zwei Drittel der SCs umkamen oder in die Anstalt mußten - trotzdem ist es für die Welt gesehen ein echter Erfolg. Bei Engel ist es ein Erfolg, wenn man die Mission nicht nach den kalten Werten der Kirche, sondern nach dem Wertekonsens der Schar absolviert hat - was man dann der Kirche erzählt, steht auf einem anderen Blatt. Es gibt bei mir eigentlich immer Kräfte, die sich auf die Handlungsfreiheit und - noch schlimmer - Entscheidungsfreiheit der SCs auswirken. Wie man unter solchen Bedingungen noch das Beste daraus machen kann, ist der Stoff für Heldengeschichten. Für mich ist das Spiel "in" einer Kultur, durch den Filter dieser Kultur sehr wichtig. Helden sind die Charaktere, die ihre Kultur anfangs bejahen, dann die Welt kennenlernen und daraufhin ihre eigenen bisherigen Werte hinterfragen, neue Werte erfahren und integrieren und letztlich die Schranken ihrer Kultur hintersich lassen. Das ist bei weltbewegenden Ereignissen manchmal auch der einzige Ausweg, da nachher nicht mehr die gleichen Kräfte wirken wie vorher. Hoffnung, persönliche Opferbereitschaft, die sich "lohnt", Werte - persönliche, eigene oder äußere, die man für seinen Charakter bewußt übernommen hat - und konsequentes Handeln danach. Das sind für mich die Treiber meiner Charaktere und meiner Kampagnen. Daher mag ich rein depressive Settings nicht.

blut_und_glas schrieb:
[...]Captain Chemo ist vielleicht kein Rollenspiel, aber er könnte es sein.
Das sehe ich nicht nur auch so, sondern ich fände es sogar eine interessante Idee zur Integration von Kranken oder Behinderten mittels Rollenspiels. Damit meine ich keine kritische Auseinandersetzung, sondern eigentlich eher eine "normale" Spielrunde. In der Spielrunde können, nein sollen, Kranke, Gesunde, Behinderte, Nichtbehinderte, Alte, Junge gemeinsam mitspielen. Ich empfinde die integrative Wirkung von Rollenspielen enorm stark. Wir spielen im Verein in Runden mit Schülern, Studenten, Arbeitern, Angestellten, Arbeitslosen, Selbstständigen etc. Am Spieltisch sind aber alle gleichberechtigt, da sie ja über ihren Charakter in der Spielwelt repräsentiert sind. Ich schätze das wirklich am Rollenspiel. Ohne Ansicht von sonstigen, im Normalfalle gesellschaftlich trennend wirkenden Eigenschaften können Rollenspieler mit ihren SC auf einer Ebene interagieren, die tatsächlich unsere gesellschaftlichen Grenzen überwinden kann. Man kann so zeigen, was in einem steckt, auch wenn das reale Alltagsumfeld wesentlich nachteiliger ist und man im Leben wesentlich schlechtere Chancen hat, als im Spiel. Das ist zumindest meine Erfahrung durch Spielen in einem Verein mit heterogener Mitgliederstruktur.

Ich bin ja kein Psychologe und maße mir da auch gar keine Kenntnisse an. Ich möchte hier aber noch ein paar Gedanken äußern, die mir beim Beschäftigen mit dem "Captain Chemo"-Thema gekommen sind. Kindern und Jugendlichen, die von Krebs betroffen sind, ist möglicherweise deutlicher bewußt, daß ihre Lebenserwartung kürzer ist, als die andere Leute. Ähnliches - meist ohne Krankheit - wird in Rollenspielen mit manchen Nachteil-Systemen bei Spielercharakteren simuliert. Nur kann man als Spieler mit einem gehandicapten Charakter nicht nur trotzdem spielen, sondern je nach Setting auch zeigen, daß der Charakter genauso wichtig ist, wie alle anderen SCs, die vielleicht nicht behindert oder nicht krank sind. Ganz extrem ist die Einschränkung der Lebenserwartung eines SCs ja bei dem "Engel"-Setting, wo die SCs ja ohnehin nur kurze Zeit auf Erden wandeln dürfen. Bei "Engel" bin ich mir aber relativ sicher, daß so etwas zu spielen für einen Spielerkreis mit krebskranken Jugendlichen eine schlimmere psychische Belastungen darstellen kann, als z.B. in "50 Fathoms" einen Piraten mit Holzbein oder in "Deadlands" einen lungenkranken, glücksspielenden Ex-Zahnarzt beim Shoot-Out in Tombstone zu spielen. Vielleicht dazu noch folgender - wie ich finde - außerordentlich interessanter australischer Artikel (ja, in Englisch, oder was man davon in Oz spricht) über Fantasy-Rollenspiele im Allgemeinen und über eine Spielerin, die das Cthulhu-Rollenspiel als Teil ihrer (Selbst-)Therapie eingesetzt hat:
http://home.iprimus.com.au/pipnjim/questlines/therapy.html

Ich bin mit mir aber in diesem gesamten Thread noch nicht so recht eins und würde andere Meinungen gerne dazu hören/lesen, um eventuell meine bisherigen Einschätzungen mal überdenken zu können (das war im Thread zu "Tod der Spielercharaktere" ein interessanter Effekt, der hoffentlich nicht einmalig bleibt).

[edit]Formatierungen und Rechtschreibung[/edit]
 
Ich greife mir (vorerst?) nur einen einzigen Punkt aus dem letzten, sehr umfangreichen, Posting von Zornhau heraus. Einen Punkt, der gleich zu Beginn dieses Postings angeführt wird, und auf dem meinem Verständnis nach auch grosse Teile der folgenden Ausführungen basieren. Auch deshalb möchte ich jetzt erst einmal nur meine Gedanken zu diesem einen Punkt zur Diskussion stellen.

Zornhau schrieb:
Hier liegt der Punkt, der mich in Bezug auf Rollenspiel nicht als Medium denken läßt: die Autoren und Verlage von Rollenspielen wollen nach meiner durchaus nicht ganz kurzen Kenntnis von Rollenspiel-Produkten unterschiedlicher Genres nicht bewußt andere Inhalte als gesellige Unterhaltung im Spiel vermitteln.

Das ich der Aussage selbst schon nicht hundertprozentig zustimmen möchte ist hier eigentlich vollkommen nebensächlich. Ich möchte es einfach bloss eingehend kurz erwähnt haben. ;)

Der eigentlich Punkt ist folgender: Wie erwähnt unterscheidet sich Rollenspiel von (anderen) Ausdrucksformen, und einer dieser Unterschiede wird hier meiner Meinung nach ignoriert. Rollenspiel verfügt über eine zusätzliche Ebene des Schaffens. Nicht nur die Autoren und Verlage von denen Zornhau spricht sind schöpferisch tätig, nein, es sind auch die Mitspieler und Spielgruppen. Rollenspiel entsteht erst durch die vorhergesehene, und erhoffte im Endeffekt aber dann eben meist unwissentliche Kooperation dieser Parteien. Selbst wenn man also einem Teil dieses "Kreativ-Teams" das Bemühen um "Nicht-Unterhaltung" (;)) aberkennt, dann kann man es beim zweiten Part so rund heraus meines Erachtens nach unter keinen Umständen tun.

mfG
jdw
 
blut_und_glas schrieb:
Nicht nur die Autoren und Verlage von denen Zornhau spricht sind schöpferisch tätig, nein, es sind auch die Mitspieler und Spielgruppen. Rollenspiel entsteht erst durch die vorhergesehene, und erhoffte im Endeffekt aber dann eben meist unwissentliche Kooperation dieser Parteien.
Guter Punkt! Den habe ich tatsächlich übersehen, da bei mir unter "Medium" eigentlich ein eher zum Konsumieren gedachtes Transportmittel für Informationen als erstes in den Sinn kommt. Daher die Fokussierung auf Autoren und Verlage. Du hast völlig recht, ich hatte die Spieler selbst aus der Medien-Sicht nur als Konsumenten gesehen, nicht auch als Inhaltelieferanten. Somit folgt für mich der Schluß, daß bei Rollenspielen liegt der Vergleich mit dem Film (Kopfkino) zwar recht nahe liegt, dieser Vergleich aber, wie ich jetzt durchaus erkennen mußte, schlecht ist.

Mal einen anderen Vergleich: Rollenspiele haben viel mit Musik - und zwar mit aktivem Musizieren - gemein, als mit einem reinen Ein-Weg-Kommunikations-Medium wie z.B. dem Film. Wo für das Musizieren die Instrumentenbauer, der Musikinstrumentenhandel, die Verlage für Notenmaterialien und andere (z.B. Musikschulen, Vereine, etc.) die Infrastruktur zum Musizieren schaffen, so sind es doch die Musiker selbst, die alles zum Klingen bringen und auf die es letztendlich ankommt.

Beim Vergleich mit dem Rollenspiel kann man daher analog die Sicht haben, daß die Spiele-Autoren und die Verlage den Komponisten bzw. den Musikverlagen entsprechen, die Spieleläden und das sonstige Spielmaterial (Würfel, Figuren, Battlemats, ...) den Musikinstrumentenläden bzw. den Instrumenten selbst. Und was letztlich dabei heraus kommt, wenn man die gesamte Rollenspielinfrastruktur nutzt, das ist das jeweils in einer Spielrunde tatsächlich gespielte Szenario. Das ist ebenso vergänglich wie eine gute Theateraufführung oder ein Konzert - und ebenso erinnert man sich an bestimmte Szenen oder Musikstücke gerne wieder zurück.

Alle Vergleiche hinken natürlich zu einem gewissen Grade immer. Mir kommt es jedoch gerade so vor, als ob man Rollenspiel wirklich mehr mit Theater (gerade Improvisationstheater) oder anderen darstellenden Kunstformen vergleichen sollte, als mit den üblichen konsumorientierten Medien wie Film, Fernsehen, Presse. Auch im Theater lassen sich als Nebeneffekt oder bewußt herausgearbeitet bestimmte Fragestellungen für den Zuschauer herausarbeiten um diesen zum Selberdenken anzuregen. Beim Rollenspiel kommt nun noch dazu, daß Zuschauer und Darsteller sich in einer Person, dem Rollenspieler vereinigen. Das ist ja eigentlich das besondere am Rollenspiel. Und ich glaube, daß darin tatsächlich einiges an Potential liegt, aber auch - siehe mein Beispiel mit der Firmen-Simulation - z.T. ungeahnte Gefahren. Die Gefahrensdiskussion ist ja ebenfalls schon an mehreren Orten mehrfach geführt worden.

Die mögliche Erlebnistiefe im Rollenspiel kann durchaus viel bewegen. Daher ist es ja auch als Therapieform im Einsatz. Wenn man aber bestimmte die Spieler (nicht etwa nur die Charaktere!) psychisch belastende Situationen im Spiel hervorruft, so kann keiner der Hobbyrollenspieler bzw. -spielleiter mit Ernst die Verantwortung für das übernehmen, was den Spielern damit psyschisch widerfährt.

Das ist auch mein Hauptkritikpunkt an dem Firmen-Simulations-Rollenspiel, da dort - ich sags jetzt mal so - Psychologie-Laien extreme Job-Streß-Situationen aufbauen, und sie NIE vorher wissen können, ob nicht jemand in solch einer Situation zusammenbricht. (So etwas ist bei einer echten(!) Besprechung mit härtesten Killerphrasen seitens der Diskussionspartner in unserem Unternehmen tatsächlich vorgekommen. Was macht man da, wenn einer einen echten psychischen Zusammenbruch in einer Hektik-Streß-Besprechung erleidet? Was macht man, wenn dies im Firmensimulations-Rollenspiel passiert? Das arme Schwein war danach weg vom Fenster, ein paar Monate in der Klinik und danach Frührentner.).

Das ist ein Punkt, aus dem ich der Meinung bin, daß derjenige, der ständig versucht die Grenzen dessen, womit sich Rollenspiele befassen, auszudehnen und dadurch auch in psychologisch nicht mehr verantwortbare Regionen vordringt, unverantwortlich handelt. Man KANN NICHT als Spielleiter die Verantwortung für seine Spieler übernehmen, da man diese zwar gut kennen mag, aber nicht ihre psychischen Empfindlichkeiten kennen wird. Und die Spieler KÖNNEN übrigens AUCH NICHT bewußt die Verantwortung über ihre unterbewußten Reaktionen übernehmen, sonst wären sie ihnen ja bewußt.

Das ist so, als würde man mit Psychopharmaka "experimentieren", statt mit M&Ms. In den Händen eines ausgebildeten Therapeuten können bestimmte Rollenspiel-Arten heilsam wirken. In den Händen von der Verantwortung nicht gewachsenen Laien haben sie m.E. nichts verloren und man sollte stets vorsichtig sein, was man wie mit wem spielt.

Hier ist wieder der Gruppenvertrag enorm wichtig, damit keiner zu Schaden kommt.

Hinterher sind natürlich alle schlauer, aber das Opfer eines Zusammenbruchs wird von der Gruppe allein schon aus Gründen der Hilflosigkeit der anderen Spieler allein gelassen und eventuell sogar ausgegrenzt. Mir ist beim AD&D-Spielen ein Spieler, der - allen unbekannterweise - an Schizophrenie leidet, psychisch "abgedreht". Mir fällt kein besseres Wort ein das zu beschreiben. Das kam aus heiterem Himmel als sein Diebes-Charakter bei einem Taschendiebstahl in einer typischen Fantasy-Stadt erwischt wurde und von den Stadtwache verhaftet wurde. Da gab es keine explizite Folter- oder Gewalt-Darstellung oder so etwas. Trotzdem hatte das wohl eine Art "Schalter" umgelegt und er ist "abgedreht". Wir saßen alle da und waren total hilflos. Keiner hat gewußt, wie man damit umgehen soll.

So etwas lauert mit größerer Wahrscheinlichkeit genau dort, wohin sich manche m.E. recht naiv mit Lust auf immer intensivere Erfahrungen und Erlebnisse begeben. Das ist gefährlich. (Eine interessante Diskussion mit Input u.a. auch von psychologisch ausgebildeten Leuten gibt es zu diesem Thema übrigens im DROSI-Forum - einfach nach dem "Kleine Ängste"-Thema suchen. Vorsicht! Die Diskussion dort ist hart, zeitweilig sehr erbittert geführt worden. Wer sich leicht durch Worte anderer angegriffen fühlt und den sehr langen Diskussions-Thread dort nicht bis zum Ende lesen will, der erhält leicht ein falsches Bild der Beteiligten. Das ist ein ernstgemeinter Hinweis.).

Rollenspiele haben ein riesiges Potential für intensives Erleben und dadurch auch, d.h. unter anderem, zum Erleben von vermittelten Werten in der Spielwelt oder anderer Aspekte, die im jeweiligen Szenario-Hintergrund eine prominente Rolle spielen sollen.

Aber solch ein Potential ist wie ein sehr scharfes Messer - es will mit Überlegung und Verantwortung gehandhabt werden. Fahrlässigkeit oder Mutwilligkeit oder gar Gedankenlosigkeit sind hier höchst bedenklich. Das betrifft nicht nur die "Normalgebrauchs"-Rollenspiel-Spiele, sondern auf jeden Fall auch die "Business"-Rollenspiele - dies vielleicht sogar noch mehr, da letztere nicht in einer solch aktiven und kontroversen Community eine Diskussion erfahren, wie dies bei den "normalen" Rollenspielen der Fall ist (was man ja an der hiesigen Diskussion auch sieht - die "Rollenspielszene" stellt sich diesen Fragen wenigstens ab und an selbst).
 
Ich möchte noch anmerken, wozu Rollenspielen noch gut sein kann... auch wenn das eine ganz spezielle Situation darstellt und mit den vorigen Posts nicht viel zu tun hat...

Jemand ist mit seinem Leben – oder sagen wir, mit der Art, wie er es lebt – unzufrieden. Er fühlt sich in gewisse Rollen gezwängt, man erwartet schon seit Jahren immer das gleiche Verhalten von ihm – schließlich hat er Angst, sich selbst zu vergessen und irgendwann nurmehr aus leeren Masken zu bestehen. Masken aus alten Verhaltensweisen, passende Masken für jede Situation.
Irgendwann stellt dieser Jemand dann fest, dass sein Verhalten nicht zu seinem Empfinden passt, dass diese Masken abgelegt werden müssen. Doch seine Rolle ist geschrieben, seine Freunde könnten enttäuscht reagieren, wenn er sich anders verhält, als von ihm erwartet wird. Ein Zwiespalt: Er will sich verändern, aber seine Freunde nicht erschrecken mit dem neuen Selbst, das unbemerkt in ihm gereift ist.

Eine Lösung bietet hier das Rollenspiel. Er spielt sich selbst – seinen eigenen Charakter. Seine Freunde spielen, was immer sie wollen, und lernen ihn so ganz nebenbei aus einer anderen Perspektive kennen. Er kann austesten, was passiert, wenn er mehr auf sein Gefühl vertraut, als den Erwartungshaltungen anderer zu entsprechen. Die Freunde können sich darauf einstellen, dass er nicht immer das tut, was von ihm erwartet wird. Eine Annäherung findet statt – der Person fällt es leichter, sich wirklich zu verändern (sprich: an sich selbst anzupassen), den anderen wird es leichter fallen, das zu akzeptieren.
 
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