Rollenspieltheorie Kleiner Zen-Koan über die Kreativität...

Silvermane

Wahnsinniger
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22. Februar 2004
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Und es begab sich, das Meister Yin Mao einen seiner Schüler fragte:

"Was ist der größte Feind der Kreativität?"

Der Schüler antwortete: "Ein Mangel an Grenzen."

Und Meister Yin Mao sprach: "Hier ist einer, der Erleuchtung gefunden hat!"



Tja, ich hatte in den letzten Wochen mal wieder Zeit, ein wenig zu lesen und nachzudenken. Und irgendwie gingen mir beim Studium von Ex Machina diese paar Sätze nicht aus dem Kopf...

Ein gutes System braucht Grenzen. Ankerpunkte, Benchmarks, wie immer man sie auch nennen möchte, ohne Begrenzungen regt ein Setting selten die Fantasie an.

Ich nenne es das "Nobilis-Syndrom".

"Du bist eine Art kleiner Gott."
"Was kann ich sein?"
"Alles."
"Oh..."

Völlig überforderter Spieler. Auf das Charakterkonzept warte ich noch heute. Aber schränk die Spieler etwas ein ("Star Wars, wir sind Rebellen..." "Oh cool, ich möchte einen gescheiterten Jedi mit Bla Bla Bla") und plötzlich geht es.


Ebenso habe ich ein Problem mit offenen Skills. "Je mehr Würfel du hast, desto besser bist du." "Okay, ich habe 6D+2...IST DAS GUT?".

Im Endeffekt weiß keiner, ob er "gut" ist oder einfach nur "besser als". Es fehlt die Skala, an der man sich Absolut messen kann. "Ich habe Schwerter auf 98%...ich denke, das Qualifiziert mich zum Schwertmeister" ist so viel einschätzbarer als "Äh, 5D?"

Wenn man denn schon offene Skalen verwendet, so sollte man doch wenigstens ein paar Benchmarks mitliefern...woher zum Henker soll ich denn wissen, wie stark der Rumpf eines Trägerschiffes im Vergleich zu dem eines Jäger ist, wenn die Skala dann auch noch exponentiell ansteigt? Woher soll ich wissen, wie gut Darth Vader mit dem Lichtsäbel ist, wenn ich keinen Vergleich habe?


Ich denke, ich kann den Anreiz von Stufen und Leveln und Klassenskills ein wenig besser nachvollziehen als vorher. Es gibt einem eine gewisse Orientierungshilfe, macht Dinge vergleichbar...natürlich bevorzuge ich auch weiterhin meine Chars ohne Stützräder, aber ich kann das Bedürfnis danach ein wenig mehr nachvollziehen.

-Silver, absolut.
 
Finde ich eigentlich auch. Ist auch der Grund, warum ich prinzipiell Systeme mit offener Wertskala verabscheue(was jedoch auch daran liegt, dass ich es hasse bei jedem Wurf einen neuen Schwierigkeitsgrad festlegen zu müssen).

In Settings habe ich aber lieber Freiheit bei den Charakteren, dass es dann aber schon dauern kann, brauchbare Konzepte zu kriegen, stimmt auch.
Im Allgemeinen gebe ich meinen Spielern schon eine ungefähre Vorgabe, was das angeht, auch, damit sie zusammenpassen.
 
Silvermane schrieb:
Ein gutes System braucht Grenzen. Ankerpunkte, Benchmarks, wie immer man sie auch nennen möchte, ohne Begrenzungen regt ein Setting selten die Fantasie an.
Das kann man auch das Engel-Arkana-Syndrom nennen, wenn die Relationen zwischen Charakteren und z.B. Gegnern nicht quantifiziert sind. Bei Everway arbeitet man mit den vier Elementen, von denen jedes mit einem Zahlenwert die relative Ausprägung eines Charakters in diesem Aspekt darstellt. Dadurch ist sofort klar, daß jemand mit Feuer 3 unter gleichen Bedingungen jemand anderem mit Feuer 2 im Kampf überlegen ist. Nur wenn es für den mit schlechteren Voraussetzungen startenden Charakter besondere Gründe gibt, besondere Vorteile oder ihm mehrere andere zur Seite stehen, wird er gegen den Besseren eine Chance haben können. Damit ist dem Spieler auch bewußt, daß er sich mit Feuer 2 auf einer recht niedrigen Stufe (der von "normalen" Menschen, nicht von Helden) bewegt und vorsichtiger und listenreicher vorgehen muß.

Bei Engel ist leider keine Quantifizierung im Arkana-System vorhanden (über das d20-System und dessen Umsetzung bei Engel kann ich mich an anderer Stelle ärgern). Daher kommt es insbesondere bei wechselnden Spielleitern zu einer unsichtbaren Verschiebung des Machtgefüges. Bei einem Spielleiter kann ein Gabrielit mit seinem Flammenschwert eine Verderberlibelle mit einem Hieb entzweien. Der nächste sieht diesen Traumsaatdämon viel zäher und wäre mit einer Schilderung des Spielers von "Im Vorbeiflug spalte ich die Verderberlibelle quer durch den Thorax. Ihre beiden Hälften fallen rotierend wie Ahorn-Früchte zu Boden und zerschellen dort." als viel zu übermächtig und er hätte sich eher langsameres Zermürben des Gegners gewünscht.

Ich mag das Arkana-System sehr gerne. Doch kann es nur im Spiel funktionieren, wenn man - z.B. als Spielleiter - seine für die eigene Chronik geltenden Grenzen und Relationen setzt. Tut man das nicht, dann sind die Engel bei zaghafteren Spielern entweder eher schwächlich und zimperliche Nichtskönner (so wie im Engel-d20-System) oder sie ähneln den "Unglaublichen" (No Capes!). Beides will man eigentlich nicht. Das Arkana-System und das Regelwerk (zumindest die alte Auflage) läßt einen als Spielleiter mit dieser Frage nicht nur allein, sondern man wird auch garnicht erst auf das Problem der nicht explizit gesetzten Grenzen hingewiesen. Da können Engel-Runden krass scheitern (auch schon miterlebt).

Ich halte Deinen Beitrag für einen wichtigen Punkt, den man insbesondere bei regelsystem-"leichten" Rollenspielen und Settings, in denen die Charaktere deutlich übermenschliche Fähigkeiten haben sollen, berücksichtigen sollte.
 
Ich denke, es gibt Spieler, die mit Grenzen besser oder schlechter zurechtkommen. Ich kenne Leute aus meinen Runden, die mit "Alles!" ihre helle Freude gehabt hätten. Das eigentliche Problem tritt dann später auf, wenn man als Spielleiter all die wilden Ideen seiner Spieler unter einen Hutbringen und kanalisieren muss ("Ich habe diese gepanzerte Tomate mit Tentakeln und Kussmund. Sie spielt Harfe und fährt gerne Motorrad ...").
Andererseit gibt es die, die schon scheitern, selbst wenn man ihnen einen festen Rahmen vorgibt ("Wähle Deine Vorteile von dieser Liste."). Das kann dann an der Quantität liegen ("Das kann ich nicht alles lesen.") oder einfach an der Persönlichkeit ("Ich kann mich nicht entscheiden ..."). Ich denke daher, dass das Problem nicht systemabhängig ist, sondern spielerabhängig.

Zu Zornhau will ich noch ergänzen: Die "unsichtbare Verschiebung des Machtgefüges bei wechselnden Spielleitern" findet immer statt. Es reicht schon die subjektive Entscheidung des Spielleiters, wann eine "Klettern"-Probe durchgeführt werden muss und wann nicht.
Diese Frage hat fast einmal zum Abbruch eines Abenteuers geführt .... :rolleyes: .. das liegt aber auch schon ein Jahrzehnt zurück. ;)
 
Strand schrieb:
Ich denke, es gibt Spieler, die mit Grenzen besser oder schlechter zurechtkommen.
...
Ich denke daher, dass das Problem nicht systemabhängig ist, sondern spielerabhängig.
Ja, natürlich. Es ist nur so, daß m.E. die wenigsten Spieler ohne jeglichen Rahmen, ohne regeltechnische "Stützräder" dann doch nicht klarkommen.

Man muß sich ja nur überlegen, wozu es eigentlich irgendwelcher Regeln bedarf. Ein wichtiger Grund ist doch der, daß klare Regelungen die Interpretierbarkeit einschränken und somit Streitpotential zwischen den Spielern/Spielleitern reduzieren, da man ja den Konsens hat, nach diesen oder jenen Regeln spielen zu wollen. Man akzeptiert mit einem Regelsystem auch die Grenzen, die es den Spielern und dem Spielleiter auferlegt.

Strand schrieb:
Zu Zornhau will ich noch ergänzen: Die "unsichtbare Verschiebung des Machtgefüges bei wechselnden Spielleitern" findet immer statt. Es reicht schon die subjektive Entscheidung des Spielleiters, wann eine "Klettern"-Probe durchgeführt werden muss und wann nicht.
Genau. Trotz der gemeinsam akzeptierten Grenzen eines bestimmten Regelsystems gibt es im Rollenspiel häufiger als im Brettspiel (aber auch da!) Situationen, die nicht von den Regeln abgedeckt werden. Entweder bewußt nicht, oder als Ausnahmen, an die man kaum gedacht hatte beim Erstellen der Regeln. Da ist der Spielleiter als derjenige, dessen Interpretation für seine Geschichte, die er mit den Spielern erspielen will, natürlich stets der erste (und oftmals auch der letzte), der dann entscheidet, wie die Situation nun zu bewältigen ist. Das sind grundsätzliche Entscheidungen wie, wann ein Fertigkeits- oder Attributs-Wurf notwendig ist, wie schwer dieser Wurf ist, was passiert, wenn er klappt/nicht klappt etc. Solche Entscheidungen trifft ein Spielleiter andauernd. Das ist auch eine der "Leitungs"-Aufgaben des Spielleiters, daß er eben um Streit und Auseinanderinterpretieren zwischen den Spielern zu vermeiden, eine Schlichtungs- oder besser Entscheidungs-Instanz darstellt.

Auch in regelfesten Systemen findet man daher unterschiedliche Interpretationen oder unterschiedlichen Umgang mit demselben Satz an Regeln. Wenn man schon einmal dasselbe Abenteuer in demselben System von unterschiedlichen Spielleitern geleitet erlebt hat (gerade bei Con-Abenteuern kann man da gut mal zuschauen), dann erhält man einen guten Eindruck von der Formbarkeit, die ein Rollenspiel bzw. ein Rollenspielabenteuer zuläßt.

Es ist nur so, daß sehr offene, freie Systeme einfach viel stärker von der persönlichen Interpretation durch den Spielleiter abhängen, um funktionieren zu können. Man kann mit recht engstirnigen Spielleitern in regelfesten Systemen zwar keine herausragende Runde, aber doch eine spielbare erleben. Ein echtes Desaster ist da selten. Bei regelarmen Systemen ist dieses Risiko stets in hohem Maße gegeben. Da ist die "Chemie" zwischen den Leuten in der Gruppe essentiell, weshalb ich inzwischen auf Cons (gebranntes Kind in diesem Falle) vorsichtig bin, solche auf Vertrauen basierenden Spielrunden mitzumachen. Das kann m.E. leichter böse ausgehen, als bei anderen Rollenspielen.

Und dennoch halte ich die freien Systeme mit der richtigen Gruppe an Mitspielern für sehr bereichernd in meiner Spielerfahrung. Die schönsten, emotional und vom Fluß in der Gruppe ansprechendsten Spielerlebnisse habe ich mit freieren Spielen gemacht (unter anderem mit Engel).
 
Silvermane schrieb:
Ich nenne es das "Nobilis-Syndrom".
[...]
Ein gutes System braucht Grenzen. Ankerpunkte, Benchmarks, wie immer man sie auch nennen möchte, ohne Begrenzungen regt ein Setting selten die Fantasie an.
[...]
-Silver, absolut.
Na, ist ja klar, dass ich mich von sowas provozieren lasse. Aber immer der Reihe nach...
Silvermane schrieb:
"Was ist der größte Feind der Kreativität?"

Der Schüler antwortete: "Ein Mangel an Grenzen."
Ist bei mir absolut (haha) entgegengesetzt. Umso mehr Freiheit mir ein System bietet, umso mehr fließen die Ideen. Aber ich fand auch Nobilis brutal fantasieanregend. Und wie Strand schon gesagt hat: Wer Grenzen braucht, na ja, der soll halt DSA spielen. Und selbstverständlich braucht ein System Vergleichswerte. Aber weswegen sollte man ob dieser Erkentniss einen ganzen Thread aufmachen? Vergleichswerte gibt's inzwischen in fast jedem System. Auch in Nobilis (was jedem klar sein sollte, der des Lesens mächtig ist). Manchmal sind die halt genauer, mal nicht. *Schulterzuck*
 
narcosmicoma schrieb:
Und selbstverständlich braucht ein System Vergleichswerte.
...
Vergleichswerte gibt's inzwischen in fast jedem System.
Im Engel-Arkana-System z.B. gibt es sie nicht. Da ist nichts quantifiziert und es sind noch nicht einmal Skalen mit Relationen (d.h. nicht explizit als Zahlenwert vergleichbare Anordnungen) verfügbar.

Daher halte ich den Punkt der Notwendigkeit eines Vergleichs-"Horizonts" schon für relevant.
 
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