AW: Eure aktuellen Charaktere
Here we go again... so langsam macht mir die Sterblichkeitsrate meiner RPG-Chars ein bisschen Angst...
Anyways:
„Und so kommt es, dass das Wasser in den Meeren salzig ist“*
Es waren Nächte wie diese, in denen Immanuel Tresker daran zweifelte, ob seine Talente ihm wirklich soviel einbrachten, wie sein Erzeuger das immer behauptet hatte. Nicht dass es nicht unheimlich praktisch gewesen wäre, das Gedächtnis anderer Leute verändern zu können, aber das hier war doch Verschwendung.
Das Treppenhaus war dunkel, der Lichtschalter funktionierte nicht. Immanuel fluchte und tastete sich an der Wand entlang nach oben. Der Putz bröckelte unter seiner Hand. In dem schwachen Licht der Straßenlaternen, das gerade noch durch die dreckverkrusteten Fenster fiel, sah er Schmutz und Müll in den Ecken. Himmel, was für ein Absteige. Wenigstens blieb ihm der Geruch dieser Bruchbude erspart. Auf dem obersten Treppenabsatz fiel gelbes Licht durch die Scheibe in der Tür. Immanuel klopfte, zweimal kurz hintereinander, Pause, und ein drittes Mal. Oskar Sievert, der Stellvertreter des Sheriffs, öffnete, Abscheu und Verachtung auf seinem kantigen Gesicht.
„Na toll.“ murmelte Immanuel. „Das kann ja heiter werden.“
„Sie haben heute Arbeit vor sich, Herr Tresker.“ sagte Sievert und deutet auf eine der Türen, die von dem schmalen Flur abgingen. Als Immanuel das Zimmer betrat, sah er als erstes Maximilian Hassenpflug, den langhaarigen Gangrel, der sie gerufen hatte. Er grüßte, und der andere wandte sich um und nickte in Erwiderung. Die Bewegung gab den Blick frei auf den Delinquenten des Abends. Das Küken, ein junger Mann, hockte auf dem Boden, mit dem Rücken zur Wand, die Arme um die angezogenen Beine geschlungen. Sein Gesicht und sein Hemd waren voller Blut. Mit starrem Blick wiegte er sich leicht vor und zurück.
„Jesus, Josef und Maria. Der ist ja völlig weggetreten.“
Hassenpflug schnaubte angewidert. „Wen wunderts. War schließlich sein erster Mord.“ Er knurrte, ein tiefes grollendes Geräusch tief aus dem Brustkorb heraus, und sah so aus, als hätte er nicht übel Lust, seinem frischgebackenen Kind den Hals umzudrehen. „Dämlicher Welpe!“
Selbiger war bei dem Wort Mord zusammengezuckt. Hören konnte er also noch.
„Wenn das Opfer tot ist, was soll ich dann hier?“
Wie aufs Stichwort begann in einem anderen Zimmer ein Kind zu heulen. Aus dem Schluchzen konnte man immer wieder „Papa“ heraushören. Der junge Mann wimmerte und hielt sich die Ohren zu. Tresker hockte sich vor ihn hin und zog seine Hände nach unten.
„Ist das dein Kind?“ fragte er ruhig. Der andere nickte und versuchte sich erneut die Ohren zuzuhalten. Immanuel ließ es nicht zu.
„Wie heißt es?“
Statt einer Antwort bekam er ein Kopfschütteln und ein erneutes Winseln.
„Wie dein Kind heißt, hab ich gefragt.“ wiederholte er mit Nachdruck.
Dann, heiser, leise: „T-Tristan.“
Immanuel richtete sich auf und ging über den Flur ins Kinderzimmer. Blau gestrichene Wände mit Segelbooten und Fischen, eine Piratenflagge. Im Bett zusamengekauert saß ein Junge, der garantiert noch nicht alt genug für die Schule war, und heulte Rotz und Wasser.
Tresker hockte sich vors Bett. „Hallo, Tristan.“
Lasse hatte das Gefühl, jemand habe die Welt auf die Seite gekippt. Es ist ein Traum, es ist ein Traum, flüsterte eine leise Stimme in seinem Kopf. Es ist nicht wahr. Aber die Stimme war dünn, zu dünn. Wahrheit. Pff. Die Wahrheit klebte an seine Händen, auf Zähnen und Zunge, warm, rot und metallisch.
Merle lag auf dem Bett, verdreht und zerissen. Still. Kalt.
Ich hab sie umgebracht. Diese Stimme war deutlich und laut, laut genug um den Nachklang von Tristans Heulen in seinen Ohren zu übertönen. Der Junge war ins Zimmer gekommen, noch schlaftrunken, vielleicht geweckt von ihrem lautlosen Kampf, vielleicht auch von einem Albtraum. Und hatte sich in einem anderen Albtraum wiedergefunden, seine Mutter blutig und leblos, sein Vater ebenso blutig und mit wildem Flackern in den Augen. Hatte fragend geschaut, noch immer nicht ganz wach. Da hatte Lasse ihn gepackt, grob unter den Arm geklemmt und ihn in sein Zimmer zurückverfrachtet, ihn praktisch aufs Bett geworfen und die Tür zugeschlagen. Bevor er ihm auch etwas antat.
Danach war er ins Wohnzimmer gegangen, und saß nun wie betäubt auf dem Boden. Er versuchte zu verstehen, was gerade passiert war, was er jetzt tun sollte, versuchte Tristans Weinen zu ignorieren, obwohl es ihm ins Herz schnitt.
Die Polizei. Er musste die Polizei rufen. Aber was um Himmels willen sollte er denen erzählen?
Ich hab meiner Verlobten das Blut ausgesaugt. Ich bin nämlich ein Vampir, müssen Sie wissen. Da würde er wohl in der Klapse landen. Gab vielleicht mildernde Umstände.
Dann erinnerte er sich an Maximilians Stimme. Wie er ihm die Gebote aufgezählt und erklärt hatte. Nein, die Traditionen. Du sollst niemandem dein wahres Wesen enthüllen. Welche Rolle spielte das jetzt noch? Wen interessierte es noch, ob er die Regeln brach, oder was die Strafe dafür war? Aber auch wenn sein Verstand so argumentierte, war da ein Teil von ihm, der dagegen hielt. Er war einer von ihnen, ob er wollte oder nicht.
Am Ende tat er das, was er eigentlich am wenigstens wollte. Aber wen sollte er sonst um Hilfe bitten als den, der das alles über ihn gebracht hatte? Dessen Anweisungen er nicht gefolgt war, was Merle mit ihrem Leben bezahlt hatte. Seine Kehle schnürte sich zu, aber es kamen keine Tränen. Kann ich überhaupt noch weinen? Nach einigen weiteren Minuten wählte er mit zitternden Fingern die Nummer, die Maximilian ihm gegeben hatte.
„Hassenpflug.“
„Hier ist Lasse... Ich... ich brauche Hilfe.“
Tresker hatte den Jungen beruhigt, ihm das Gesicht abgewischt und ihn angezogen. Mit dem Kind auf der Hüfte ging er zurück ins Wohnzimmer, wo Sievert und Hassenpflug immer noch über das Küken wachten.
„Gibt es andere Zeugen?“ fragte er.
Sievert fuhr sich angespannt mit der Hand übers Gesicht und durch die Haare. „Das versuchen wir noch herauszufinden. Vorbeigekommen ist jedenfalls noch keiner, und Anrufe bei der Polizei gabs auch nicht. Aber ich hab die Leiche gesehen, das muss jemand gehört haben.“
„Lasse, hat sie geschrien?“ fragte der Gangrel. Der Angeprochene reagierte nicht, und Hassenpflug schlug ihm mit der flachen Hand kräftig ins Gesicht. „Antworte gefälligst, wenn du was gefragt wirst! Hat sie laut geschrien?“
Lasse sah seinem Erzeuger verwirrt ins Gesicht. „Wieso geschrien?“
Die drei anderen Männer wechselten einen Blick: Hatte der Junge sie noch alle?
„Wieso? Du hast sie ziemlich zugerichtet, als du von ihr getrunken hast, sie wird doch wohl geschrien haben?“
„Kann sie doch gar nicht...“ erwiderte der junge Mann. Als wieder in Schweigen verfiel, hob Maximilian abermals die Hand. Sein Kind duckte sich gegen die Wand und hob abwehrend die Hände: „Sie kann nicht schreien. Sie kann auch nicht reden. Merle ist stumm.“ Er schloß die Augen und schluckte schwer. „War.“
„Ein Problem weniger.“ stellte Immanuel fest. „Oskar, nehmen Sie den Jungen mit oder soll ich das machen?“
„Ich mach das. Ich habe bereits Bescheid gegeben, er kommt noch heute nacht weg.“ Sievert übernahm den Jungen, der das alles seelenruhig mit sich geschehen ließ, und machte sich daran, die Wohnung zu verlassen. Lasse stemmte sich vom Boden hoch. „He, was soll denn das? Wo willst du mit ihm hin?“
Die rechte Hand des Sheriffs warf Maximilian einen genervten Blick zu. „Kümmer dich drum.“ Er ging. Lasse wollte ihm folgen, aber sein Erzeuger packte ihn grob ihm Nacken. „Du bleibst hier. Du hast heute nacht genug verbockt.“ Der Junge versuchte sich zu wehren, aber Maximilian rang ihn mühelos zu Boden und hockte sich auf seine Brust. Als er mit kalter Stimme begann, sein Kind nach Strich und Faden zusammenzustauchen, verabschiedete sich Immanuel. Er hatte keine Lust mitanhören zu müssen, wie dem Kleinen jetzt erklärt wurde, dass er seine Sohn nicht wieder sehen würde, oder was die kleine Vertuschungsaktion seinen Erzeuger – und damit aller Wahrscheinlichkeit nach ihn selbst - kosten würde.
Seine Arbeit war getan.
Was für eine Verschwendung.
Lasse lag zusammengerollt auf dem Boden vor Maximilians Bett und versuchte ebenso verzweifelt wie unerfolgreich, nicht an Tristan zu denken. Es funktionierte nicht. Da waren genügend andere Dinge, die ihn beschäftigten, aber sie alle führten zurück zu seinem Sohn. Die Schmerzen überall im Körper von der letzten Tracht Prügel, die Maximilian ihm verabreicht hatte. Die Erniedrigung, auf Schritt und Tritt von ihm überwacht zu werden, und hier wie ein Hund auf dem Boden schlafen zu müssen. Der Mahlstrom an Gefühlen bezüglich Merles Tod: Reue, Schuld, Abscheu, Verzweiflung.
Lasse überlegte, ob es besser wäre, wenn sein Erzeuger nicht länger schlafen würde als er selbst.
Zugegeben, so hatte er wenigstens eine Viertelstunde pro Nacht für sich allein, eine Viertelstunde, in der Maximilian ihn nicht für seinen Fehltritt büßen ließ. Eine Viertelstunde Pause von seinen Disziplinarmaßnahmen. Andererseits führte es dazu, dass er hier lag und sich den Kopf zerbrach. Nicht zum ersten Mal überlegte er, ob er nicht doch den Schlafzimmerschlüssel aus der Hosentasche seines Erzeugers angeln sollte, wo dieser ihn jeden Morgen verstaute, nach dem er sie beide eingeschlossen hatte. Besser nicht. Das gäbe auch bloß wieder Senge. Und wozu auch? Wo sollte er schon hin? Die Eckpunkte seines Lebens, seine Familie, sein Job, seine Wohnung, all das gab es nicht mehr, alles war verschwunden oder ihm weggenommen worden, und Maximilian war - traurig, aber wahr - alles was Lasse jetzt noch hatte.
Perverserweise hatte er das Bedürfnis, Wiedergutmachung zu leisten. Seinem Erzeuger zu gehorchen, ihm ein gutes Kind zu sein, um seinen Fehltritt wieder wettzumachen. Warum war das so wichtig? Dieser Mann hatte ihm doch sein Leben erst gestohlen. Hatte ihn umgebracht, ihn zum Vampir gemacht, und ihm damit letztenendes auch seine Familie weggenommen. Aber all diese Überlegungen halfen nichts. Er wollte trotzdem Maximilians Anerkennung.
Lasse rollte sich noch enger zusammen und wartete darauf, dass sein Erzeuger erwachte. Vielleicht stellte er sich heute Nacht besser an.
Vielleicht würde es heute Nacht genug sein.
*Zeile aus dem Rammstein-Song Haifisch