Wunsch und Wirklichkeit
Dass man nicht immer auf Anhieb und ohne spätere Anpassung den Charakter findet, den man genau so wie geplant in einer Runde spielt, ist in meinen Augen mehr oder minder normal.
Selbst wenn man sich vorab grob abspricht, werden viele Details erst in der konkreten Situation am Spieltisch sichtbar.
Ich selbst versuche es aus diesem Grund vor Spielbeginn meist mit einem recht offenem Ansatz.
Will heißen einem defensiven Charakterentwurf, bei dem ich nicht alle Aspekte bis auf den letzten Millimeter genau festzurre.
Stattdessen lasse ich durchaus bewusst ein wenig Spielraum und passe letzte Parameter erst on-the-fly an, wenn ich mir am Spieltisch ein deutlichers Bild davon gemacht habe, wie der Rest der Runde zusammengesetzt ist.
Spielen können ...
Sicher gibt es eine handvoll Dinge, die man können muss, um einen bestimmten Charakter zu spielen.
Schlagfertigkeit im Gesprächen zum Beispiel zaubert man vermutlich nicht allzu flink hervor, wenn einem das so gar nicht liegt.
Allerdings sind Stolpersteine wie diese in meinen Augen eher rar gesät.
Schwierigkeiten bei der Umsetzung eines Charakterentwurfs resultieren meiner Einschätzung nach sehr viel häufiger aus ganz anderen Gründen.
... und Spielen lassen
Bleiben wir bei dem eingangs vorgestellten Beispiel, so können wir einen der üblichen Verdächtigen, die ich für die typischsten halte, direkt auf frischer Tat ertappen.
Schwierig wird es nämlich vor allem an den Stellen, an denen sich die Charakterkonzepte unterschiedlicher Spieler beißen.
absolut vs. relativ
Selbst bei einem scheinbar harmlosen Konzept mit stürmischem Charakter, kann die Sache haarig werden, wenn mehrere Spieler der Runde die selbe Idee umsetzen wollen.
Immerhin zeichnet sich ein besonders stürmischer Charakter vor allem in der Geschwindigkeit aus, mit der er im Vergleich zu anderen Charakteren agiert.
Sprich seine Besonderheit misst sich weniger an einem absoluten Maßstab, sondern vor allem relativ an den anderen Charakteren der Runde.
Heftigkeit und Impulsivität eines ungestümen Charakters werden nur dann stark fühlbar, wenn sie sich von den anderen Charakteren der Runde abheben.
Das gleiche gilt für den besonders arroganten, besonders optimistischen, etc. Charakter.
Hier kann es die Zusammensetzung der Gruppe sehr einfach oder extrem schwer machen, den gewünschten Effekt zu erzielen.
Dieses Ziel wird umso schwieriger erreichbar, je mehr andere Spieler sich bei ihrem Charakter auf den selben Aspekt konzentriert haben.
Sicher kann man das auch mit zwei Charakteren noch ganz gut hin bekommen.
Anstrengender wird es in Sachen Darstellung des Charakters in diesem Fall aber für beide.
Ehre, wem Ehre gebührt
Statt meinem Mitspieler das Leben unnötig schwer zu machen, räume auch ich in Fällen wie diesem, lieber das Feld und baue mein Charakterkonzept entsprechend um.
Spiele statt des irren Draufgängers, den ich im Auge hatte, zum Beispiel lieber die besonders langsam und bedacht agierende Schnarchnase, und unterstütze somit meinen Mitspieler bei der Darstellung seines Charakters, indem ich dessen Impulsivität besonders untermale.
Auf diese Weise vorzugehen generiert eine echte win-win Situation.
Zögerlichkeit und Bedächtigkeit des Vorgehens meines Charakters unterstreichen das ungestüme Draufgängertum meines Gegenparts genauso, wie sie sein voreiliges Handeln die besonnen abwartende Wirkung meines Charakters verstärkt.
Im Gegensatz zum Nullsummenspiel "Beharren auf dem ursprünglichen Konzept", ergibt sich hier ein echter Gewinn für beide Seiten, dem ich liebend gerne jeden noch so schönen Charakterentwurf opfere.
Natürlich muss der Umbau dabei nicht immer so gravierend sein. Vielleicht genügt es schon beide Konzepte vom allseits bewunderten Kämpferass zum Sportsmann zu machen, der sich a la Gimli vs. Legolas in seiner Domäne gern mit seinem Teamkollegen misst.
Spielt man sich auf diese Weise am Spieltisch gegenseitig Bälle zu und versucht nicht auf Biegen und Brechen sein ursprüngliches Konzept durchzusetzen, fällt es allen Beteiligten leichter den eigenen Charakter unverkrampft und entspannt zu spielen und sich auf die erzählte Geschichte zu konzentrieren.
Kurzum: Ja - schon x-Mal habe ich ein Charakterkonzept am Spieltisch wieder über den Haufen geworfen oder komplett auf den Kopf gestellt.
Sehe das ganze aber nicht als Schwäche, sondern vielmehr als besondere Stärke.
Immer einmal mehr wie Du
Den Höhepunkt erreicht der beschriebene Konflikt, wenn das Charakterkonzept nicht nur darauf basiert, dass der Charakter ein besonders stürmischer ist, sonder der stürmischSTE der Runde.
Ganz offensichtlich lässt sich ein solcher Exklusivitätsanspruch nur für einen einzigen Charakter der Runde umsetzen.
Spätestens an dieser Stelle ist ein Punkt erreicht, an dem das Problem unauflösbar geworden ist, da die Zielsetzungen hier echt inkompatibel zu einander geworden sind.
Klar sollte jeder der Charaktere der Runde seine besonderen Stärken haben, ein wenig Vorsicht bei Formulierungen der Form "mein Charakter ist DER / DIE stürmischSTE, arrogantESTE, optimistischSTE, etc." ist dennoch ist ratsam um spätere Konflikte zu vermeiden.
Spielerische Umsetzung
Was die spielerische Umsetzung von Charakterkonzepten betrifft, so verfolge ich bei meinen Charakterentwürfen in der Regel eine Vermeidungsstrategie, die Schwierigkeiten in dieser Angelegenheit von Anfang an ausschließt und damit komplett aushebelt.
Abstrakte Konzepte wie Impulsivität, Eitelkeit, etc. wähle ich dabei durchaus als Ausgangspunkt für meine Überlegungen, konzentriere mich danach aber vor allem auf die Dinge, in denen sich das Wesen des Charakters ganz konkret in der Außenwelt bemerkbar macht.
Das abstrakte Konzept "Nervosität" zum Beispiel nutzt reichlich wenig, wenn es um die praktische Umsetzung am Spieltisch geht.
Vielmehr ist die "Nervosität" des Charakters vor allem eine Eigenschaft, die ihm durch die Beobachtung seiner Handlungen von der Außenwelt zugeschrieben wird.
Genau an diesem Punkt setze ich also an und überlege mir, welche Beobachtung der Mitmenschen des Charakters sie wohl dazu veranlassen könnten, ihm diese Eigenschaft zuzuschreiben.
Konzepte vs. Indikatoren
Klatscht man nach Festlegung des Konzepts "Nervosität" nicht im Sinne "Fertig! Abgehakt! Nächster Punkt." begeistert in die Hände, sondern arbeitet mit der Erkenntnis, dass dies möglicherweise nur die eigene persönliche Einschätzung des Charakters ist, weiter und überlegt aus welchen Gründen man selbst ihm diese Eigenschaft überhaupt zuschreiben würde, so entsteht in diesem Fall eine konkrete Anleitung zur spielerischen Umsetzung ganz automatisch.
Statt am Spieltisch mit der Information "xxx ist nervös" da zu sitzen und darüber grübeln zu müssen, wie genau zum Teufel ich das denn nun umsetzen soll, habe ich in diesem Fall gleich ein ganzes Arsenal an Rezepten wie "Schiebt seine Brille zurecht", "Reibt sich den Nasenrücken", etc. zur Hand, mit dem ich ohne langes Überlegen ein buntes Feuerwerk zünden kann.
Resultate
Bei einer solchen Vorgehensweise kann es durchaus vorkommen, dass die Mitspieler die Eigenschaften des Charakters mit einer anderen abstrakten Idee charakterisieren, als mit der, die ich als Ausgangspunkt gewählt hatte.
Schlecht umgesetzt? Oder sind Kategorisierungen anhand abstrakter Konzepte einfach eine Spur zu subjektiv?
*schulterzuck* Keine Ahnung. In jedem Falle habe ich meinen Charakter so gespielt, wie eine Person, der ich persönlich die konkrete Eigenschaft zuschreiben würde.
Sprich: Genau den Charakter, den ich auch spielen wollte.
Dass es bei der Bewertung dieser nicht immer zu 100%iger Übereinstimmung kommt, sehe ich dabei nicht als besonderen Makel, sondern ganz im Gegenteil als besonders spannenden Aspekt der beschriebenen Vorgehensweise.
Vermutlich ist 100%ige Übereinstimmung auch gar nicht möglich.
Ist der Brille zurecht rückende, etc. Charakter aus obigem Beispiel nun als nervös, oder doch eher als unsicher zu bezeichnen? Oder ist er gar wegen seiner Unsicherheit nevös?
Selbst wenn der Charakter ganz explizit "nervös am Tischtuch zupft" oder "seine Augen unsicher umher wandern" ist der Interpretationsspielraum in beiden Fällen groß genug, um dem Charakter in beiden Situationen wahlfrei vor allem unter einer der beiden genannten Optionen wahrzunehmen.
Konzeptlos
Gerade wegen des Beschriebenen Mangels an Eindeutigkeit bei der Zuordnung bestimmter Verhaltensweisen zu abstrakten Charaktereigenschaften, gehe ich nich selten sogar in umgekehrter Richtung vor.
Überlege mir bei einem Charakter also zunächst eine handvoll besonders typischer Szenen aus seinem Alltag und lasse ihn gedanklich darin agieren.
Inszeniere gedanklich zugleich auch eine Reihe für ihn besonders untypischer Szenen und sehe nach, wie er in diesen vorgeht.
Auch an für die Spielwelt typischen Orten, und im Kontakt mit verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, die in der Spielwelt anzutreffen sind, probiere ich den Charakter aus.
Abstrakte Konzepte, wie die genannten, finden sich bei der Konsistenzprüfung zumeist automatisch. Spätestens zumindest an dem Punkt, an dem ich mir selbst Gedanken darüber mache, mit welchen besonderen Eigenschaften ich einen so handelnden Charakter wohl beschreiben würde.