AW: Charakterkonzepte und die lieben Level
Da hier in dieser Forenrubrik ja nicht nur D&D 3.x sondern auch AD&D (genauer AD&D 1st Ed., was wir EWIG gespielt haben) zuhause ist:
Braucht ihr eine Mindeststufe um ein Charakterkonzept zu verwirklichen?
Nein. Denn wenn die Gruppe bei Stufe 1 startet, dann sind die Charaktere so entworfen, daß sie BEREIT sind die typische "vom Ameisenzertreter zum Drachentöter"-Erfolgs-und-Aufstiegsgeschichte zu erleben.
Bereit bedeutet, daß man mit ihnen in einer typischen AD&D-Gruppenstruktur erfolgreich mitspielen kann.
Niemand hatte es bei AD&D für nötig befunden den gesamten Erfahrungsweg seines Charakters bis Level 15 oder 20 vorzuzeichnen. Man konnte doch nie wissen, ob nicht Umstände eintraten, die solch eine vorgezeichnete "Malen-nach-Zahlen"-Charaktergeschichte unvorhergesehen beeinflussen könnten.
Außerdem gab es bei AD&D gab es eh nicht solch eine Fülle an auswählbaren Charakterklassen und Multi-Classing war nicht so leicht wie bei D&D 3.x möglich.
Und trotz der Tatsache, daß sich die Gruppen, welche bei uns von 4 bis 13 Spielern groß waren, praktisch ausschließlich aus den Grundklassen Fighter, Magic-User, Thief und Cleric zusammengesetzt hatten, waren IMMER unterschiedliche Charaktere entstanden mit unterschiedlichen Zielsetzungen, Verhaltensweisen und - bei AD&D bzw. bei D&D sehr wichtig - unterschiedlicher Ausrüstung (da ja bei D&D der Charakter zu einem nicht geringen Teil über das, was er HAT, statt nur über das, was er IST oder KANN, definiert wird).
Wenn ein Regelsystem wie AD&D 1st Ed. KEINE Skills kennt, dann kann man damit trotzdem einen Fighter vom Schlage eines rauhbeinigen Seeräubers oder eines Gedichte schreibenden Musketiers oder eines verschlagenen Gladiators spielen. Das alte AD&D hatte zwar keine expliziten Regeln dafür, hatte aber jedweden Freiraum für eine entsprechende Ausgestaltung des Charakters gelassen.
Und für eine entsprechende WEITERENTWICKLUNG!
Wenn ein Fighter 1. Level als "gestrandeter Seefahrer" die Kampagne begonnen hat, dann später zu einem harten Monsterkiller durch die ersten Dungeons gekrochen ist, danach längere Zeit als Sklave des Imperiums als Gladiator hat kämpfen müssen, und dann nach erfolgreichem Sklavenaufstand im Stile von Spartacus sich zurück in seine Heimat gekämpft hat, wo er nach Erreichen des "Name-Levels" sich ein Stück Land mit seinen getreuen Kumpanen genommen hat, es von Monstern befreit hat und so den Grundstein seines Strongholds gelegt hat, bis zu dem denkwürdigen Tag, wo er sich aus eigener Hand die Krone über sein wachsendes Reich aufgesetzt hat, dann war das eine nicht einmal so untypische AD&D-Geschichte.
Und die Entscheidungen wie die Versklavung durch ein "Evil Empire (tm)" KONNTE der Charakter NIE IM VORAUS PLANEN! (Genauer war das das Ergebnis eines verlorenen(!) Abenteuers, wo die Gruppe jämmerlich versagt hatte.)
Wenn jemand im voraus seinen Charakter in seiner Entwicklung aus spielwertebezogener Sicht schon festlegt, wo bleibt da dann die Überraschung? Wo ist da das Neue, das Faszinierende? - Und was hat der Spielleiter dann noch an Funktion außer die Respawn-Punkte für die Monster festzulegen?
In AD&D KONNTE man seine Charaktere nicht in dieses "Vorbestimmtheits-Korsett" zwängen, weil solche Festlegungen für die Zukunft der Charaktere sich nicht spielwertemäßig niedergeschlagen haben. (Level 5 Fighter (Monster-Jäger), Level 6 Fighter (Gladiator) - das war ein ganz NORMALER Level-Anstieg als Fighter. Nichts besonderes daran, außer den äußeren Umständen, daß der Charakter in der Spielwelt nun in einer harten Gladiatoren-Umgebung festgehalten wurde und sich durchschlagen mußte.)
Aber ist es unmöglich ein Charakterkonzept vor Level 15 verwirklicht zu sehen?
Natürlich nicht. In den allermeisten Fällen sind wir nicht bis Level 15 vorgedrungen. Vor allem, da bei AD&D die Level-Anstiege ja wahnsinnig hoch von den nötigen XP her wurden (insbesondere bei Magic-Usern, 15. Level Thief gab es schon ab und an mal).
Und was heißt "verwirklicht"?
Ich sehe ein Charakterkonzept nur dann "verwirklicht", wenn ich es aus der Rückschau besehen. Also nach Ende der Kampagne.
Vorher konzipiere ich einen Charakter.
Und WÄHREND die Kampagne läuft, da VERWIRKLICHE ICH ES SELBST! Und zwar in jedem Augenblick, in welchem ich den Charakter so spiele, wie ich es mir gedacht habe, daß er agieren sollte.
Verwirklicht ist es erst, wenn der Charakter tot ist.
In diesem Sinne ist es von der ersten Minute aktiver Spielzeit möglich sein Charakterkonzept zu verwirklichen.
Wenn ich Ariadne's Post lese, dann ist für sie offensichtlich eine Prestigeklasse bzw. eine Prestigeklassenkombination ein Charkterkonzept.
Da kann sich Ariadne aber freuen, daß hier die "Gnade der späten Geburt" greift. Denn zu AD&D-Zeiten gab es keine Prestige-Klassen. Und die hatte auch niemand nötig. Die Ober-Munchkin-Klasse war der "klassische Barde", aber den hatte eh kaum jemand gespielt, da man sich dazu seinen Charakter allzusehr verbiegen mußte.
Für mich ist ein Charakterkonzept eigentlich ziemlich simpel das Konzept des Charakters.
Eben. Das ist die Grundidee dessen, was der Charakter darstellen soll. Ein Charakterkonzept braucht somit nicht mehr als zwei oder drei Sätze und kommt nur unwesentlich wortreicher als ein ausgefüllter Risus-Charakterbogen daher.
Noch etwas zu den Prestige-Klassen. Die Prestige-Klassen sind, anders als die Basis-Klassen, welche ja relativ settingunabhängige, gängige Klischees darstellen, eben eher settingspezifisch gestaltet. Eine Prestige-Klasse bringt Elemente des Settings ins Spiel in einer Weise, wie es eine "generischere" Basisklasse nicht so leicht könnte. Damit stellt sich aber für eine Planung hinsichtlich des Zugangs zu einer Prestigeklasse auch immer die Frage: Welche Voraussetzungen aus dem Setting heraus (im Unterschied zu den Spielwerte-Voraussetzungen) benötigt man, um diese Prestige-Klasse für seinen Charakter zu nehmen?
Mir scheint, daß bei Ariadne die Wahrnehmung des Settings völlig sekundär ist, vor der Ausrichtung auf die reinen Spielwerte. Das liegt - so meine Vermutung - daran, daß D&D 3.x mit (zu)viel Wertejongliererei daherkommt, die sich rein volumenmäßig sehr in den Vordergrund schiebt.
Wenn etwas in Hülle und Fülle angeboten wird, dann steht das ja da, DAMIT man es verwendet, DAMIT man damit herumoptimiert.
Wo es regelsystemseitig nichts zu Optimieren gibt, weil es spielwertemäßig nur sehr geringe Unterschiede zwischen dem einen Level 10 Fighter und dem anderen Level 10 Fighter gibt, da besteht keinerlei Anreiz zu Optimieren.
Ich finde die innere Konsistenz der Regeln bei D&D 3.x gegenüber AD&D durchaus gelungen. Was mir nur ganz wesentlich mißfällt, ist die Inflation der Prestige-Klassen, die ein - wie ich finde - ungeeigneter Ansatz sind, den Setting-Fluff mit den Regelmechanismen zu verheiraten.
Man kann ja D&D 3.x Kampagnen auch mit True 20 oder Castles&Crusades spielen. Und in beiden ist der Drang zum reinen Werteoptimieren nicht so vordergründig, weil beide nicht so viele Möglichkeiten bieten.
Und beim alten D&D (Basic Set), da gab es eh solche Fragestellungen nicht. - Wie gesagt: die "Gnade der späten Geburt", daß es heute ein D&D gibt, welches einem Herumoptimieren bis zum Abwinken erlaubt.