AW: Ascension vs. Awakening
Was mir aber damals immer schon aufgestoßen ist, war die Inkompatibilität der Traditionen untereinander. Das einzige, was sie wirklich miteinander verbunden hat, war doch die Abneigung der Technokraten. Nicht einmal die Magie war untereinander kompatibel - wieso sollte man dann gemeinsam forschen, gemeinsam arbeiten oder gar kämpfen, wenn doch - per Definiton - der andere da gar keine Magie wirken kann (weil doch eigentlich alles außer dem eigenen Stil falsch ist)?
Das ist ein Missverständnis. Selbst (oder gerade) der arroganteste Hermetiker kommt mit dieser Einstellung nicht weiter. Wenn Magie
so und nur so für mich funktioniert, bin ich ein statischer Hexer, kein wirklich erwachter Magus. Remember, der ganze Witz an der Sache ist ja,
dass ich über mein eigenes Paradigma hinauswachsen kann - andernfalls wäre ich nicht erwacht.
Die Traditionen sind ja auch keine Dogmatiker-Vereine, bei denen man beim Eintritt jede individuelle Weltanschauung zugunsten einer allgemeinen So-und-nicht-anders-Kollektiverklärung abgibt, sondern Ansammlungen von Individualisten, die sich um eine gemeinsame Schnittmenge herum anordnen - häufig nicht einmal in Bezug darauf,
wie Magie funktioniert, sondern,
was man damit anstellen sollte, wie sie am besten anzuwenden sei. Das gilt auch und sogar für die Technokratie - Mensch-Maschine-Interface-Programmierer der Iteration X dürften eine fundamental andere Auffassung vom menschlichen Geist haben, als sozial-psychologische Agitatoren der NWO, und beide verwenden Gedanken-Magick. Trotzdem finden beide Platz im übergeordneten wissenschaftlich-aufgeklärten Paradigma der Technokratischen Union.
Was die Traditionen betrifft... nun, das Prinzip ist das gleiche, nur sind die Grenzen weit weniger scharf abgesteckt und die Diversität größer. Und es gibt trans-traditionelle Schnittmengen:
Mindestens eine Euthanatos-Sekte, die Lakshimiten, arbeitet mit Chaostheorie, Computern, etc.. Bei den Hermetikern gibt es das Haus Thyg, welches hermetische Philosophie und Magietheorie in und durch Technologie umsetzt und miteinander kombiniert. Haus Fortuna integriert moderne Theorien über Wirtschaft, Gesellschaft und Politik in ein hermetisches Weltbild. Im Himmlischen Chor finden sich in der Alexandria-Gesellschaft tiefgläubige Technomanten. Und die Traumsänger beherbergen eine kleine aber wachsende Gruppe von urbanen Schamanen, welche mit den Geistern von Beton, Glas, Plastik und Elektrizität, von Verkehr und Geld redet.
Speaking of, Magi, die Schamanen sind, müssen nicht zwangsläufig Dreamspeaker sein. Euthanatoi, Verbena und Ekstatiker haben schamanische Wurzeln. Akashi bringen Yogi und Shintoisten hervor, die mit Geistern und Göttern sprechen. Gar nicht mal soo wenige Choristen entstammen "Naturreligionen" und markieren den erstaunlich unerheblichen Übergang zwischen den Singern des Einen und den Traumsängern. Allein ewiggestrige Vorurteile versperren Konservativen aus beiden Lagern die Sicht darauf. Und die Technomanten? Nun, unbestreitbar sind Virtuelle Adepten Reisende in den Anderwelten, nicht wenige davon mit religiöser Inbrunst und geradezu... spiritueller Verbindung mit den Manifestationen des Netzes... Nicht zu vergessen das Individualistenpack der Ätheriten, welches Utopisten hervorbringt, deren Liebe zur Natur manchen Verbena oder Traumsänger überstrahlt.
"The Spirit Ways" gibt einen guten Überblick, wie man Schamanen diesseits und jenseits der Traumsänger spielen kann.
Und Hollower probieren sowieso alles, was ihnen unterkommt. Grenzen? Feste Werte? Pah! Go on and prove me wrong!
Umgekehrte Perspektive: Ein gleicher Ansatzpunkt im Paradigma, Ausprägung in Form von unterschiedlicher Traditionszugehörigkeit. Angenommen, ich erstelle mir einen Charakter, und entschließe mich, dass sein Paradigma z.B. auf dem Hinduismus aufbauen soll. Was geht? Ein Euthanatos Kali/Shiva-Verehrer springt mir gleich geradezu ins Gesicht. Dann ein tantrischer Ekstatiker. Ein Akashi-Asket, der der Illusion der Welt entsagen will? Ein Chorist, der die göttliche Einheit in der göttlichen Vielheit sucht?
Oder auch: Eine Anhängerin der großen Göttin muss keine Verbena sein - wie wäre es mit einer Choristin, die gegen die patriarchalische Tradition des Chores kämpft? Usw.
Konkreter: Nehmen wir an, eine gemischte Kabala nimmt an einem größeren Ritual teil, sagen wir, einem Verbena-Ritual. Die Traumsängerin hat am wenigsten Probleme, wenn die Natur und die Götter mit Tanz und (Opfer-)Gaben angerufen werden, auch wenn sie innerlich die Hexen und Druiden darüber belächelt, wie wichtig sie sich in ihrer Arroganz selbst nehmen und die Natur letztendlich doch auf sich beziehen.
Der Ekstatiker geht, wenn auch in erster Linie für sich selbst, in Tanz, Musik, Sex und Schmerz auf und sieht es als Herausforderung, einerseits mit den ihm in ihrem Glauben unvertrauten Verbenern eins zu werden, aber ihnen andererseits neue Welten und Wege jenseits ihrer konservativen Vorstellungen zu zeigen, die nur eine kreative Rebellion weit entfernt sind.
Die Euthanatoi sind als Erforscher des Zyklus von Leben und Tod natürlich mit den im Ritual verwendeten Prinzipien vertraut, auch wenn ihnen die Symbolik vielleicht fremd sein mag und sie selbst die Schwerpunkte anders setzen würden. Trotzdem, es ist nichts Falsches darin, auch einmal die Kraft des Lebens zu befördern. Nein, nichts Falsches. Es ist vielmehr eine Notwendigkeit.
Der Bruder Akashas schüttelt nur den Kopf angesichts der Disziplinlosigkeit und Weltverhaftetheit, die sich vor seinen Augen abspielt... und erkennt etwas später einen fremdartigen, komplett unorthodoxen, aber in seinen Resultaten gar nicht so unvertrauten Versuch, eine Harmonie zwischen Geist und Körper, Selbst und Welt herzustellen, die den Ritualteilnehmern eine Kontrolle über all diese Teilaspekte gewährt und sie letztendlich darüber hinaushebt. Das Ganze von der anderen Seite heraus angehen... darauf muss man auch erst einmal kommen!
Schließlich gesteht sich die komparative Theologin vom Himmlischen Chor seufzend ein, dass die Heiden wenn schon nicht den Schöpfer, so doch zumindest die Schöpfung ehren und wechselseitig sie durch sich und sich durch sie zu perfektionieren versuchen, was, genaugenommen, ja auch ein Streben nach Einheit und Harmonie und ein Tribut an den/die/das Eine
darstellt. So gesehen kann man ein paar närrische Irrtümer ausnahmsweise ignorieren und die grundsätzlich richtige Richtung aus dem Wust an Aberglauben herauszuarbeiten helfen...
P.S.: Vielleicht noch ein paar Perspektiven aus der Welt mit weniger Dunkelheit und ohne Würfel; auf das allergröbste zusammengefasst:
In den Literaturwissenschaften hat sich die Methode der Hermeneutik als ein Grundpfeiler etabliert. Die Prämissen sind, dass a) ausschließlich der jeweilige Text als letztendliche Arbeitsgrundlage verwendet wird und b) jede Interpretation zulässig ist, die durch den Text gestützt werden kann. Insofern kein Text sich selbst auslegt, ist also immer schon eine Interpretation seitens des Lesers vorhanden, so dass der Text mit jedem Leser und Lesen neu und anders konstruiert wird. Das führt dazu, dass es nicht
die eine Lesart eines Textes gibt, sondern mehrere, und dass nicht eine (und nur eine)
richtig und eine andere (oder gar alle)
falsch ist, sondern dass sich lediglich eine Staffelung nach auf- bzw. absteigender
Plausibilität aufstellen lässt. Man mag die eigene Lesart für plausibler halten, aber solange ein anderer am/im Text Indizien für seine Interpretation vorweisen kann, kann ich diese nicht einfach als inkorrekt abtun.
Sprachphilosophie ist auch sehr ergiebig für Magus. Die genaue Herleitung würde den Rahmen dieses Threads um ein vielfaches sprengen, aber exemplarisch sei hier einfach mal Ludwig Wittgenstein genannt, einer der bedeutendsten und revolutionärsten Philosophen des letzten Jahrhunderts.
Wittgenstein hat, gewissermaßen, die Konversion vom Technokraten zum Traditionsmagus gemacht, indem er zuerst ein System aufstellte, wie
die Welt letztendlich logisch aufgebaut sein
muss ("Tractatus Logico Philosophicus"), um dieses Modell später zu überarbeiten, in Teilen radikal zu verwerfen und die Stoßrichtung gänzlich neu zu bestimmen. Demnach wird Wirklichkeit durch die Sprache bestimmt, die wir sprechen, und je größer der Unterschied zwischen den Sprachen, desto größer die Unterschiede in den dadurch konstituierten Welten. Wittgenstein spricht von "Sprachspielen", die einer "Lebensform" entsprechen und, letztendlich, lediglich gemein haben, dass sie eben gesprochen und betrieben werden. Dadurch, dass sie aber gesprochen werden, existieren sie nicht getrennt voneinander nebeneinander her, sondern können interagieren, können kombiniert werden (Sprachen lernen; Übersetzung) und beeinflussen sich gegenseitig. Welt hängt von Sprache ab, und Sprache ist immer im Wandel.
"Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt." Es gibt keine objektive Messlatte dafür, welches Sprachspiel eher der Welt entspricht, da Welt ja eben erst durch Sprache
konstruiert wird.
Eine gute Möglichkeit, um Spielbegriffe wie "Paradigma" und "Realitätskonsens" jenseits des Regelwerkes zu verstehen.