AW: Alles Mörder?!
Rollenspielcharaktere sind Mörder.
Das ist natürlich FALSCH. - Mörder, also Leute, die mit Heimtücke und Vorsatz jemand anderen töten, sind auch bei Spielercharakteren in der Minderzahl.
Es gibt jedoch sehr viele Genres, in denen der gewaltätige Konflikt, das Überleben gegen Gegner, die den Tod der Spielercharaktere wollen, das KERNTHEMA ist. - Dazu gehören die meisten Fantasy-Ausprägungen und alles, was irgendwie mit "viel Action" daher kommt.
Wie im Film oder Comic, wo "viel Action" gleichbedeutend mit existenzbedrohlichen, lebensgefährlichen Situationen, in denen andere (NSCs) versuchen die Hauptfiguren (SCs) zu töten, ist auch deren Rollenspiel-Umsetzung entsprechend oft voller gewalttätiger Konflikte mit Todesfolge.
Wenn ich - glücklicherweise nur durch unvorsichtiges Herumzappen - in Alarm für Cobra 11 sehe(n muß), wie sich ein "Polizist" mit einem Verbrecher "duelliert", nach so tollen Dialogen wie "Das muß nicht so enden." - "Doch!" - *bäng*, dann bilden Rollenspiele einfach nur die Medien ab, die ihre Vorlagen darstellen.
Aktuell lese ich gerade (mal wieder) Robert E. Howards Sword&Sorcery-Klassiker (Conan, Bran Mak Morn, Kull). Wie ausgesprochen SCHNELL da ein Leben ausgelöscht wird - für mangelnden "Respekt", wegen zivilisierter "Umständlichkeit", usw. - ist für dieses Genre sogar BESTIMMENDER Faktor. - Will man also Sword&Sorcery im Rollenspiel spielen, so wird man sich auf diese hohe Bereitschaft zur Anwendung tödlicher Gewalt einstellen dürfen, wollte man nicht krass von den Genre-Konventionen abweichen.
Andere Genres, die den SCs direkt Aufträge erteilen andere Leute zu töten (von "Findet das Ungeheuer von Loch Schreck" bis zu "Tötet den Präsidentschaftskandidaten Osama"), haben ebenfalls im Kern die Tötung als Thema (beim Präsidentschaftskandidaten sogar den Mord).
Nun kommt aber ein stilistischer Punkt ins Spiel: Waren bei den alten Film- und Buchvorlagen die solchermaßen gedungenen Mörder-Hauptfiguren noch mit einem sie irgendwie "sympathisch" machenden "Ehrenkodex" ausgestattet, der sich wirklich nur die beauftragten "Ziele" ausschalten ließ und sonst niemanden, wird aktuell in Buch, Comic und - vor allem - Film ein Auftragskiller praktisch immer als PSYCHOPATHISCHE KILLERBESTIE dargestellt, der ausnahmslos jeden zu töten gewillt ist, nicht lange fackelt, keine Skrupel kennt, und sich SCHEISSDÄMLICH verhalten darf, UND DAMIT DURCHKOMMT!
Letzteres ist für mich die eigentliche HAUPTURSACHE dafür, daß man den Eindruck gewinnen kann, daß SCs ständig als menschenvernichtende Psycho-Killler unterwegs sind. - Dazu weiter unten mehr.
Das idiotische, unintelligente "Killing Spree"-Verhalten von Medien-"Helden" ist nicht erst seit Rambo II, wo die "Kills per Minute"-Zählerei anfing, aktuell gängiges Versatzstück um "Cool-Krasse Typen (tm)" zu charakterisieren. - Wenn das im Film cool ist, wenn es im Computerspiel cool ist, warum soll das dann im Rollenspiel weniger cool sein? Also: Bringt mehr und unmotivierter Leute um, wenn Euer Charakter so cool sein soll, wie die Charaktere im Kino oder Computerspiel!
Man spielt so, wie die PRÄGENDEN Vorlagen, die man kennt.
Meiner Erfahrung nach wird im Rollenspiel schneller und häufiger (um nicht zu sagen "sofort und immer") zu tödlicher Gewalt gegriffen als in anderen Medien.
Weder "sofort", noch "immer".
Jedenfalls nicht in meinen Runden. - Woran das liegt? Weiter unten mehr dazu.
Schwert und Pistole sitzen lockerer. Die Fäuste werden eher zu Hause gelassen.
Das ist IMMER eine Frage des Settings. - Bei Castle Falkenstein ist es nicht "gentlemen-like", wenn die zivilisierten SCs sich GEGEN ihre Rolle gewalttätig verhalten. Sogar die Oberschurken werden nicht getötet, sondern "für immer" weggesperrt (damit man in ein paar Wochen von deren überraschendem und unvorstellbarem Ausbruch erfährt und somit die Idee für das nächste Abenteuer wieder klar ist).
Ohne eine Genre-Differenzierung zu machen, ist der Pauschalvorwurf "Alles Mörder" sinnlos und FALSCH.
Der erste liegt in den Regeln. Viele Systeme ... tun sich schwer damit non-lethale Gewalt abzubilden. Entweder fehlen die Regeln dafür gänzlich, oder sie erschweren/verlangsamen die Abwicklung gegenüber "einfacher" tödlicher Gewaltanwendung, oder sie sorgen dafür das non-lethale Mittel weniger zuverlässig, weniger stark oder anderweitig gegenüber lethalen Mitteln benachteiligt sind.
So wird es auf der Ebene der Regeln unattraktiv etwas anderes zu versuchen, als seinen Gegner umzubringen.
Nicht die Regeln sind es, die SPIELER(!) dazu bringen mit ihren Charakteren eine Darstellung des "Psycho-Killers" zu geben, sondern die SPIELGEWOHNHEIT der jeweiligen Spielrunde.
Es ist EGAL, ob ein Rollenspiel elaborierte Regeln im Kampfsystem und überhaupt keine einzige für verbale Auseinandersetzungen, NSC-Reaktion, Beziehungen etc. aufweist. Es sind IMMER DIE SPIELER, die (auch bei Castle Falkenstein!) anfangen idiotisch gegen Recht und Gesetz und alle grundlegenden soziale Gemeinschaften erst erlaubenden Regeln zu verstoßen.
Bei manchen SPIELERN habe ich den Eindruck, daß sie - wenn schon nicht tatsächlich psychisch gestört - sozial verkrüppelte Menschen sind, die sich nicht einmal VORSTELLEN können, was es denn bedeutet, wenn sie auf offener Straße einen nicht auskunftsfreudigen Fremden einfach erschießen. Und wenn man ihnen dann mit Polizei, Gerichtsverhandlung usw. den Charakter verurteilt und in den Knast sperrt, dann sind sie maulig.
Warum sind sie dann maulig?
Weil IHRE VORBILDER aus Kino, Fernsehen, Comics, Computerspielen AUCH IMMER DAMIT DURCHKOMMEN! - Deshalb!
Spielt man ein Genre, ein Setting, in welchem man diese Vorlage von Filmen wie "Shoot'em Up" oder Comics wie "Sin City" umsetzen will, dann ist das ja auch ZU ERWARTEN, daß jegliche ultrabrutale Gewaltorgie ein normales Versatzstück dieses Genres ist.
Spielt man ein Genre, welches weniger an diesen Gewaltexzess-Vorlagen orientiert, sondern mehr auf gewitzte Dialoge, gelegentlich wohlplazierte Fausthiebe oder die Einschüchterungskraft einer Schußwaffe setzt (z.B. 40er-Jahre Detektiv-Geschichten), dann passen hier Gewaltexzesse der Hauptfiguren nicht. - Spielleiter, die ihren Spielern aber nicht gleich UNTERSAGEN oder VERBIETEN wollen mittels ihres SC auch mal loszuballern, haben ein Problem, welches KEIN REGELWERK wirklich abzudecken vermag: Die Reaktion der Spielwelt als Ganzes auf die Taten der Spieler.
Daher sehe ich die Regelwerke als völlig sekundär für die bisweilen feststellbare, überzogene, außerordentlich hohe Gewaltbereitschaft der SPIELER an.
Der Spielleiter stellt in normalen Rollenspielen immer noch "den Rest der Welt" dar und dessen Reaktionen auf das Handeln der Spielercharaktere:
Beispiel 1: Im "Shoot'em Up"-Rollenspiel töten die SCs am laufenden Band Leute gleich dutzendweise und es EXISTIERT in diesem Setting KEINE Polizei, KEIN RECHT außer das des Stärkeren oder schneller Feuernden. Der Spielleiter könnte die Freunde, Verwandten oder sonst irgendwie Interessierten NSCs reagieren lassen, indem sie eine Belohnung für den Kopf des SC aussetzen, Auftragskiller anheuern oder den Wagen der SCs mit einer Bombe präparieren. Geht diese Bombe dann hoch, wenn der SC sich nur kurz ein paar Burger holen fahren will, dann ist das ein "Antiklimax". Der Charakter stirbt genauso unmotiviert und unspannend, wie er den Tod hunderten anderer gebracht hatte. - Das wäre der Fall, wenn der Spielleiter KONSEQUENZEN, die zur Spielwelt passen, auch tatsächlich anwendt.
Beispiel 2: In Deadlands tötet ein SC in einer Stadt einen Bürger dieser Stadt. Dort ist zu ERWARTEN, dass sich der lokale Marshal oder Sherriff darum kümmern wird. Und läßt sich der Täter nicht festnehmen, dann wird er zur Fahndung ausgeschrieben, werden Steckbriefe für Kopfgeldjäger ausgehängt, werden die Federal Marshals oder die Texas Ranger nach ihm suchen. Und er bekommt dann auch den regeltechnisch immer noch sehr weichen Nachteil "Wanted" verpaßt, darf sich im betreffenden County, im Bundesstaat oder gar in den USA oder der CSA nicht mehr blicken lassen. Diese KONSEQUENZEN sind hier zu ERWARTEN. Der Spieler weiß (oder müßte wissen), worauf er sich mit der Gewalttat eingelassen hat. - Auch hier ist das der Fall, wenn der Spielleiter KONSEQUENZEN, die zur Spielwelt passen, auch tatsächlich anwendet.
Die Reaktion der Spielwelt besteht NICHT NUR darin, daß die getöteten NSCs tot sind, sondern daß die Tötung als solche in den allermeisten Spielwelten FOLGEN haben wird.
Der zweite Grund hat etwas mit Belohnung und Erfolgserlebnissen zu tun. Tote Gegner sind permanent aus dem Spiel entfernt. Sie machen einem Spieler keine Probleme mehr, sie sind dauerhaft überwunden.
Die "Erfolgserlebnisse" durch das Töten eines Gegners sind hier überschätzt dargestelllt. - Wenn das Töten von Gegner so NORMAL geworden ist, wie das im Eingangsbeitrag dargestellt wird, dann ist ein weiterer Tod auf dem "Konto" nämlich KEIN Erfolgserlebnis!
Meine Erfahrung: Das BESIEGEN (nicht etwa "Töten"!) von Gegnern, ja das BESIEGEN und sie für seine Seite als VERBÜNDETE zu gewinnen, DAS sind die Erfolgserlebnisse, von denen meine Spieler auch noch nach Jahren erzählen. - Von dem x-ten getöteten Ork/Storm-Trooper/Stadtgardisten spricht NIEMAND. - Natürlich wird auch von SCHWEREN, damit auch von SPANNENDEN Kämpfen noch nach Jahren gesprochen. Warum? Weil hier die Gegner BISS hatten, weil man sich ANSTRENGEN mußte sie zu besiegen.
Einen Normalbürger einer Spielwelt zu töten sollte in den meisten Settings KEINE besonders anstrengend oder spannende Tat sein. Meist halten diese Normalos nicht viel aus und machen somit auch nicht viel Eindruck auf die SPIELER(!), die sie mittels ihrer Charaktere töten.
Andere Personen, die NICHT-Normalbürger sind, verfügen ja über unterschiedliche Stärken und Schwächen und sind manchmal mit Gewalt, manchmal mit anderen Mitteln besser zu überwinden oder zu manipulieren.
Zum Manipulieren: Hier gibt es sicherlich Rollenspielregeln, die aus der Regelsicht der PLAUSIBILITÄT in der Spielwelt "ins Knie schießen". - So kann man in manchen Regelsystemen einen Charakter nicht ERNSTHAFT bedrohen, indem man ihn mit vorgehaltener Armbrust auffordert seinen Geldschrank zu öffnen, weil eine Armbrust so wenig Schaden macht, daß er davon fünf Treffer "wegstecken" kann, bevor er sich erst ernstlich Sorgen um seine Gesundheit machen muß. - Mir ist das in einer Con-Runde so gegangen (das war eine DSA-Runde vor vielen Jahren), daß ich mich durch ausgespielte heimliche Vorgehensweise an einen NSC herangearbeitet hatte, diesem meinen Dolch an den Hals setzte und ihn so zur Herausgabe eines Schlüsselbundes bewegen wollte. Der Spielleiter sagte mir daraufhin, daß ein Dolch so wenig Schaden machen würde, daß der dergestalt Bedrohte KEINE ANGST hat und gleich die Wachen rufen würde. - Was für ein Arschloch an Spielleiter!).
Letztlich MUSS der Spielleiter hier Plausibilitätsabwägungen vornehmen, wenn ihm das Regelwerk UNSINNIGE Ergebnisse liefert bzw. UNSINNIGE regeltechnische "Immunitäten" für NSCs aufweist, die der "Setting-Realität" widersprechen. - Ein Setting, in welchem die NORMALE Reaktion eines NSCs auf eine Bedrohung mit einer Waffe wäre, eingeschüchtert zu sein, dessen Kampfsystem aber diese Waffe lächerlich ungefährlich macht, BRAUCHT vom Spielleiter diesen "Spielwelts-Realitäts-Check".
Spielleiter, die selbst nur in Regeltechnikzusammenhängen denken und denen die Plausibilität der Spielwelt egal ist, die NÖTIGEN die Spieler geradezu dazu sich NUR entlang der hart verregelten Bahnen zu bewegen. - Dann kann man gleich ein Computerspiel spielen, denn das kann auch nicht außerhalb der Menge des Geregelten Entscheidungen, Verhalten und Konsequenzen bieten.
NATÜRLICH sind solche Spielleiter nachweislich SCHLECHTE Spielleiter. Die können es nicht. Die sollten besser nicht Rollenspiele leiten.
Doch sind solche Spielleiter nicht einmal so selten - zumindest auf Cons anzutreffen.
Diese "erziehen", oder besser: GEWÖHNEN ihre Spieler nämlich an eine Vorgehensweise, die die einzige, von ihnen ZUGELASSENE (wenn auch oft unsinnige und noch öfter unstimmige) ist. Die Spieler dieser Runden haben GELERNT, wie sie erfolgreich Komplikationen behandeln müssen (mit Gewalt, weil der Spielleiter nur das wirklich zuläßt), und was sie mit dieser Vorgehensweise für Konsequenzen befürchten müssen (keine, weil der Spielleiter überfordert ist eine LEBENDIGE, GLAUBWÜRDIGE, PLAUSIBLE Spielwelt darzustellen).
Ein Rollenspieler, der gerade mit dem Hobby anfängt, ist anfangs noch kein Psycho-Killer-Darsteller. - Manche, gerade die von Computerspielen kommenden Einsteiger, versuchen erst einmal alles Diablo-mäßig niederzumachen. Da helfen ein paar Worte, die man mit dem Spieler redet, bis er entdeckt, daß man mit den NSCs auch Spaß mit Gesprächen, mit trickreichem Vorgehen, mit dem Schaffen von Freundschaften und dem Pflegen von Feindschaften hat (Die Reporterin Miss Merritt dürfte vielen meiner Deadlands-Spieler ein Begriff sein. Sie könnte man einfach erschießen - und dafür in den Knast wandern oder gehenkt werden. Es macht aber viel mehr Spaß sie auszutricksen und zu sehen, wie der eigene Plan Erfolg hat.)
Der KERN des im Eingangsbeitrag geschilderten, wenn auch von mir als völlig überzogen ja geradezu verfälschend dargestellten, Problems ist, daß sich die SPIELER für ein Setting UNSTIMMIG verhalten UND daß der SPIELLEITER nicht in der Lage ist die Reaktion des Settings auf dieses Verhalten STIMMIG und PLAUSIBEL zu vermitteln.
Settings, in denen Gewalt - oft ja als SELBSTVERTEIDIGUNG, wie in typischen D&D-like Fantasy-Settings, wo man ständig von irgendwem attackiert wird - an prominenter Stelle vorkommt, kennen AUCH Konsequenzen. - Die Gnade, die man einem Gegner erweist, kann den Spielern irgendwann positiv zugute kommen. Voraussetzung: Der Spielleiter spielt seine NSCs nicht ALLE mit "kämpf bis zum Tode"-Fanatismus, sondern mit einem gesunden Selbsterhaltungstrieb (eventuell gepaart mit Verschlagenheit).
Hier half schon früher bei D&D z.B. das Alignment-System. Wir hatten in AD&D immer einen vom Spielleiter geführten Alignment-Graphen, der die Position des Charakters NACH EINDRUCK DES SPIELLEITERS wiedergab. Und da gab es bei manchen Charakteren böse, genauer: Neutral Böse, Überraschungen. Dann funktionieren bestimmmte magische Gegenstände nicht mehr, dann wird ein SC als "Evil" detektiert, usw. - Das Alignment hat schon früher stark dabei geholfen, daß AD&D eben gerade NICHT zu einer Psycho-Killer-Freak-Show wurde. Aber eben NUR, wenn es vom Spielleiter auch tatsächlich eingesetzt wurde.
Zu den Prinzipien für gutes Spielleiten gehört meiner Erfahrung nach auf alle Fälle, daß man konsequent ist. - Konsequent bedeutet auch, daß man SCs genauso wenig Brutalitäten durchgehen läßt, wie NSCs, die als die Bad Guys daherkommen. Abschlachten von NSCs, "weil, die sind ja Evil", ist - natürlich nach dem WERTEVERSTÄNDNIS des Spielleiters, der ja das Werteverständnis des Pantheons bzw. der Spielwelt darstellt - eben AUCH "Evil" und macht sich bemerkbar.