Stumm sieht Meyye ihrer verletzten Freundin beim Einschlafen zu. Bleib wie du bist. Und das, nachdem sie auch schon die schlechten Seiten der Bluttrinkerin kennengelernt hat. Meyye sieht sich eigentlich als Realistin; sie glaubt nicht, dass es irgendwann nochmal besser wird. Aber sie weiß, dass es besser sein könnte. Dass es was besseres gibt als sie und ihre finstere, der Nacht angepaßte Seele (wenn wir mal davon ausgehen, dass sie noch eine Seele hat). Ja, gutes Beispiel, da liegt so eine, die besser ist. Sie schläft und hält Meyyes Hand.
Lange sitzt sie so da, eine Stunde vielleicht oder länger, bevor sie ihre Hand sacht der Tatjanas entzieht und aufsteht. Sie zieht den silbernen Dorn aus ihrer Hosentasche und betrachtet ihn nachdenklich. Dann geht sie zu einem kleinen Schränkchen etwas abseits vom Bett und zieht die unterste Schublade heraus. Im hinteren Teil, verdeckt durch ein grobes Tuch, das sie zurückschlägt, finden sich ein Messer und einige angespitzte Holzpflöcke. Sie legt den Silberdorn dazu und verstaut wieder alles so wie es zuvor war.
Den Rest der Nacht bleibt sie in der Wohnung und tut etwas sehr Ungewöhnliches: Sie liest eines ihrer wenigen Bücher. Normalerweise würde es sie hier nicht lange halten; sie müße in den Wald gehen oder einfach irgendwoanders hin, wenn sie hier nicht auf und ab laufen wollte wie ein gereiztes Tier. Oder zumindest müßte sie die Anlage anschalten, oder den Fernseher, mit der richtigen Lautstärke natürlich. Das sind jetzt alles keine Optionen. Sie muß hierbleiben, und sie muß leise sein. Merkwürdigerweise verspürt sie den Drang, davonzulaufen, nur schwach. Also liest sie ein Buch, bis die bleierne Müdigkeit des herandämmernden Tages es ganz von alleine zuklappt und sie auf das Sofa zurücksinkt. Wenn sie erwacht, so darf sie hoffen, geht es Tatjana schon viel besser... das ist ihr Gedanke, bevor sie die Augen schließt und sich fallen läßt...