Natürlich ging bereits die Verteilung der Ämter gehörig schief. Lena hatte wirklich gehofft, das Enio ihr Angebot annehmen und Geißel werden würde. Alle in der Stadt wären zufrieden gewesen. Der Brujah genoss großen Respekt unter den Kainiten und hatte sich in seiner Zeit als Sheriff und General ein weitgefächtertes Netz an Vertrauten geschaffen. Sowohl Lurker als auch die Färber hatten für ihn gearbeitet und waren an seiner Seite zur Höchstform aufgeflaufen. Rein pragmatisch betrachtet, war Enio die einzig richtige Wahl für den Frieden dieser Stadt. Hätte er das Angebot angenommen, hätten ausnahmslos alle Primogene zugestimmt. Einigkeit hätte geherrscht und leise wäre an vielen Stellen Kumbaja gesungen worden.
Aber er musste natürlich ablehnen!
Was nicht hieß, dass er sich nicht trotzdem in alles einmischen würde. Lena warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Nicht aus falsch verstandenem Stolz oder aus einem Gefühl der Herschsucht heraus, sondern weil er ganz genau wusste dass seine Entscheidung der Stadt nachhaltig schaden würde. Schon jetzt spalteten sich die Primogene in mehrere Lager auf, schlugen die Abschaffung des Amtes oder gar eine tatsächliche Bestätigung der jungen Clanlosen vor. Als ob das jemandem helfen würde. Dabei ging es nicht einmal um Färbers Befähigung, auch Lena sah in der Caitiff einen brauchbaren Kandidaten. Es ging viel mehr, und da war sie vollkommen Caitlins Meinung, um die Außenwirkung dieser Entscheidung. Schon jetzt fluteten clanlose Streuner in die Stadt und besahen die Mächtigen aus dem Umland Finstertal mit immer kritischeren Augen.
Melody klammerte Lena vollkommen aus und würde dieses Thema auch nicht ansprechen. Sie gehörte zwar offiziell dem Clan Ventrue an aber sie war nichts desto trotz von Sabbatblut. Sollte sie Geißel werden, wäre ein Krieg mit den Nachbarstädten nur noch eine Frage von Stunden.
Aber Lena wäre eine schlechte Toreador und ein noch schlechterer Prinz, wenn sie nicht noch mindestens ein Ass im Ärmel stecken hätte.
Sie wandte sich an Enio.
"Ich bedaure deine Entscheidung zutiefst, werde sie aber respektieren!" -Vorerst!- "Den Vorschlag, Frau Färber in dieses Amt einzusetzen nehme ich entgegen und werde ihn später zur Abstimmung freigeben. Zuförderst aber möchte ich einen weiteren Kandidaten ins Spiel bringen."
Es folgte eine dramaturgische Pause, die Lena sichtlich genoss.
"Uns allen sind die noch immer in Finstertal vorherrschenden Probleme bewusst. Sowohl die Bibliothek des geschätzten Herrn Justify, die noch immer verfluchten Ruinen der alten Nervenheilanstalt oder das Treiben dieses vollkommen durchgedrehten Geistes namens Mina. Ich könnte noch mehr Brennpunkte nennen, gehe aber davon aus das jedem hier bereits die Brisanz dieses Themas bewusst ist. Eigentlich hatte ich diesen Punkt erst für einen späteren Zeitpunkt vorgesehen, aber in Anbetracht der Umstände greife ich ihn bereits jetzt auf."
Wieder eine kurze Pause. Diesmal jedoch um den Primogenen die Möglichkeit zu geben weiter zur Ruhe zu kommen und ihre Gemüter zu kühlen.
"Um dem Herr zu werden, habe ich in Paris um fachmännische Hilfe gebeten, die mir auch gewährt wurde. Man sandte Herrn Mortimer Lych zu uns. Einen Samedi mit ausgezeichneten Fähigkeiten in der Bekämpfung von solcherlei Problemen. Herr Lych wäre aber auch ein guter Kandidat für das Amt der Geißel. Er kommt von außerhalb und ist damit Immun gegen persönliche Verstrickungen, Ränkespiele oder andere intrigante Vorhaben. Er ist kein offizielles Mitglied der Camarilla und besitzt damit eine grundlegende Neutralität und er ist außerdem Samedi, was ihn dazu befähigt auch mit dem, ich nutze hier mal Frau Färbers Wortwahl, Bodensatz der Stadt außeinanderzusetzen. Einzig seine Unerfahrenheit der Stadt selbst gegenüber, müsste Rechnung getragen werden. Aber dies ist ein Mangel, der schnell behoben werden dürfte. Vielleicht unterstellen wir Frau Färber ja seinen Händen? Sie könnte von ihm lernen, sich bewähren und anschließend bei seiner Abreise die Aufgaben komplett übernehmen. So sie sich, aber davon bin ich persönlich überzeugt, dieser Aufgabe gewachsen zeigt."