Nicht ganz zur gleichen Zeit im Obergeschoss
Es war schon eine ganze Menge Zeit verstrichen. Die Sekunden takteten vorbei und noch immer hielt Caitlin nicht das ersehnte Schriftstück in den Händen. Zumindest aber hatte sie eine Idee, wo es sich befinden könnte. Genauer gesagt, sie war sich verdammt sicher. Vielleicht lag es daran, dass der Zeitdruck sie abgelenkt hatte, vielleicht auch nur der überraschende Ausgang ihres Angriffs auf den alten Josef, was auch immer es war, dass sie dazu brachte weiter zu machen, nachdem der Alte tot von Stuhl kippte, sie machte nun einen entscheidenen Fehler. Knack das Siegel ... knack das Siegel,... wisch es weg, schnell jetzt.... schneller.... Warum nur hatte sie die wertvolle Vitae nicht überprüft. Ein kleiner Moment, eine Zungenspitze hätten vermutlich ausgereicht um ihr klar zu machen, dass Josef soeben umsonst gestorben war. Es hat nur in der Theorie funktioniert, ihr toller Plan. Es war eine Möglichkeit gewesen, aber zweifelos die richtige Entscheidung? Nein und sie hatte es versäumt dies zu überprüfen... Und dann?
Nur mühsam erinnerte sie sich an die letzten Sekunden. Das konzentrierte Rauschen des Blutes in ihr lies mit einem Schlag nach, und sie fühlte sich wahnsinnig verloren. Und es tat weh. So unglaublich weh...Die zahllosen gebrochenen Knochen aber noch viel, viel mehr der Schmerz in ihrer Seele. Josef, der alte Mann lag mit gebrochenen Blick auf dem Boden. Wenigstens schaute er nicht sie an, sondern die Wand. Sie bildete sich ein, dass er sie nicht dafür verantwortlich machen würde. Er hat das Ende schließlich nicht kommen gesehen. Im selben Moment wusste Caitlin, dass das nicht stimmte. Sie war natürlich verantwortlich. Zu dem Blut, das aus dem Handtuch auf den Boden tropfte gesellten sich Tränen. Der Verzweiflung, der Schmerzen und plötzlich vielleicht sogar der Angst. Natürlich war auch Selbstmitleid und das Gefühl versagt zu haben in diesem riesigen Knoten enthalten, der sich weigerte Caitlins Hals hinunter zu rutschen. Sie wusste nicht weiter. Hasserfüllt blickte sie auf das vermaledeite braune Dingen, das dort unter dem Bett lag, als wäre nichts vorgefallen. Als wäre Caitlins Zukunft nicht grade den Bach runter gegangen. Als wäre nicht soeben ein Mensch - Diener oder nicht - gestorben. Für was? Für ihre eigennützigen Ziele. Sie sollte jetzt Reue empfinden, doch ihre Angst vor Grimm, vor den Tremeren und vor dem eigenen Spiegelbild war gewaltig. Wie sollte sie damit leben? Sie musste es, durfte das Ganze nicht weiter an sich heran lassen, sonst würde sie zerbrechen. Und sie war doch stark. Das war sie doch, oder? Eine willensstarke Frau. Das war Caitlin. Willensstark und leistungsstark. "Fokussiere, Regentin..."
Mühselig zog sie sich auf die Knie. Knochenbrüche, aufgeplatze Haut, das alles war Peanuts für einen alten Vampir. Sie heilte es mit Josefs Blut rasch weg. Das kleine Häuflein, der zusammengesungene Körper des unfreiwilligen Spenders bekam einen letzten Blick. Aber kein "Verzeihung" - irgendetwas war passiert. Caitlin fühlte sie leer, wie als hätte sie ihre Gefühle ausgeschaltet. Die leere Hülle auf dem Boden bedeutete allerdings Ärger. Sie wischte sich mit einer schnellen Bewegung den Staub der Wand vom Anzug und zückte ihr Handy.
"Maria, ich brauche dich. Lass dich nicht sehen und komm rauf. Bring Handschuhe mit und etwas für ein nettes Feuer. Ich brauche einen großen Brand in Grimms Schlafzimmer. Sieh zu, dass er sich nicht auf die Biblioteken ausweitet. Und Maria, bitte erschrecke nicht. Josef hat den Vorfall nicht überlebt. Wenn Grimm das mitbekommt, bringt er mich um." wies Caitlin ihre Guhlin an, den Dreck hinter ihr weg zu machen. Nichts, was Maria zum ersten Mal machen musste. Oder vielleicht doch, Mord an dem Guhl eines Regenten kam wohl eher selten vor. Doch der erfahrenen Guhlin musste sofort klar sein, was auf dem Spiel stand. Da sie Caitlin zugeordnet war, wäre ihr entgültiger Tod wahrscheinlich auf Marias. Daher waren weitere Worte überflüssig. Anna und Katharina würde sie hoffentlich später noch selbst für ihren einsatz danken können. Ein sinnvolle, ja notwendige Geste.
Caitlin legte auf und warf einen Blick zurück. Nicht zur menschlichen Hülle, sondern zu dem Koffer. Sie würde doch nicht gehen, ohne ihn mitzunehmen. Ohne ihn anzupacken, sie levitierte ihn einfach aus dem Fenster hinaus hinter ein dichtes Gebüsch, bevor sie sich selbst hinunterbrachte. Im Innenhof, eilte sie durch die Hintertür rein in ihr Büro und rettete in windeseile ihr Äußeres. Harte Arbeit und Grimm würde - insofern er im Wagen gewartet hatte, sicher ungeduldig. Oder hatten die Adeptinnen ganze Arbeit geleistet? Sie hoffte es, konnte das aber nicht wissen.
Mit ganzen 7 Minuten Verspätung trudelte sie in der Garage ein. Ein bleiches Gesicht mit einer eleganten Hochsteckfrisur, aus der einige Locken widerspenstig ihren eigen Weg suchten. Das dunkle Jacket gegen ein hellgraues ausgetauscht - immer noch passend zur schwarzen Hose. Und der Blick entschlossen und grimmig. Ja fast schon ungewohnt hart für die Regentin, die sonst eher über Charme ihren Weg in die Herzen der Leute suchte.
"Verzeihung, es hat etwas länger gedauert. Aber ich habe wichtige Neuigkeiten."