AW: [09.05.2008] Rekrutierung
"Niemand ist hier ein Sündenbock ! Wir hatten die Chance jemanden, der zumindest bereit war, uns zuzuhören, für die Sache zu gewinnen, und wir sind gescheitert. Aus welchen Gründen Frau Dragomir hier war, ist ihre Sache. Tatsache ist: Sie war hier, und das beweist, daß sie gewillt war, sich mit uns auseinanderzusetzen. Wenn wir also wollen, daß Außenstehende motiviert sind, hier zu partizipieren, dann sollten wir ihnen vorbehaltlos und respektvoll gegenübertreten. Dieses Projekt kann nur soviel Respekt erwarten, wie es anderen entgegenbringt. Wen interessiert, ob die Ankömmlinge Spione oder Spitzel sind ? Ob der herausragenden Vorsichtsmaßnahmen, die für diese Fälle getroffen wurden, scheinbar niemanden hier. Also mokiert euch nicht wie kleine Kinder, denen ihr Spielzeug in den Dreck gefallen ist, wenn die Kandidaten nicht in euer bisheriges Schema passen...
Soll das hier eine tragfähige politische Organisation werden oder ein Super-Beste-Freunde Club ? Ich verrate euch was: Eins von beidem hat eine Zukunft. Das hier ist Politik, und da kann man sich nicht aussuchen, zu wem man ins Bett steigt, es geht eben darum, daß man überhaupt wen hat."
Die Tatsache, daß er die Masse der anderen nicht mehr siezte, machte wohl auch dem letzten klar, daß das bisher Geschehene dem Doktor sauer aufstieß.
"Was nun sie angeht, Fräulein Färber..." Daß er Jenny mit Nachnamen anredete und siezte, war wohl ein noch deutlicherer Indikator dafür.
"Anscheinend verwechselt hier jemand 'vor Ahnen den Duckmäuser machen' mit 'einem zuhören, ohne ihn zu unterbrechen'. Nichts spricht gegen Kritik, aber das kann man machen, wenn derjenige seine Nachricht übermittelt hat, und nicht mittendrin. Und das grade war kein kritischer Dialog, sondern eine recht deutliche Vorführung von dir und Herrn Sola, die Frau Dragomir nicht wirklich durch die Blume suggeriert hat, daß sie hier bestenfalls geduldet wird. Wenn ihr mit den anderen Bewerbern aufgrund ihres geringeren Alters anders umspringt, sei es, weil ihre Visagen euch besser gefallen, weil sie eurer Art zu denken näher kommen, oder einfach aus eurer Zeit sind, dann verstoßt ihr gegen die Prinzipien auf diesem Blatt Papier hier. 'Gleichheit' heißt Gleichheit der Clans, Gleichheit des Alters, Gleichheit des Geschlechts, Gleichheit der Rasse und Gleichheit der Herkunft. Nicht mehr, aber auch nicht ein Iota weniger ! Bei den Menschen funktioniert es, ich habe es gesehen und erfahren, also warum geht das hier nicht ? Ich verlange nicht, daß ihr jedem Ahn ein Blumensträußchen in die Hand drückt, und ihm erzählt, wie schön es ist, daß er da ist, aber ihr sollt einfach mal euren gottgegebenen Verstand benutzen. Dazu gehört auch faires Betragen gegenüber Mandanten. Das beinhaltet auch, daß sie, Herr Sola von mir aus vor Langeweile die Punkte der Tapeten zählen, aber so, daß der Mandant denkt, sie interessiert, was er sagt. Das beinhaltet auch, daß sie, Fräulein Färber, den Mandanten von mir aus die Pest an den Hals wünschen, und die Erregerbrühe auch unterm Tisch anrühren können, aber eben so, daß der Mandant denkt, sie lächeln, weil seine Argumentationsweise ihnen gefällt und nicht, weil sie sich lebhaft ausmalen, wie er im Rinnstein elendig krepiert. Und sie, Herr Stein... Kommen auch noch dran. Von mir aus könnt ihr abschalten und den alten Knacker schwafeln lassen, aber wenn das so weitergeht, wird diese Bewegung nicht größer, als sie jetzt schon ist.
Meine Meinung, macht damit, was ihr wollt !"
Er beugte sich über seine Notizen.
"Es wäre klarer, wenn Frau Dragomir es selber fertiggestellt hätte, aber ich reihe mal die Versatzstücke aneinander. Das Ergebnis sieht ungefähr so aus: Vor der Gründung der großen Sekten soll die Wahrheit über den Ursprung unserer Art unverfälscht weitergegeben worden sein. Diese besagt, daß unser Fluch auf dem Fluch basiert, den der Allmächtige Kain für den Mord an seinem Bruder Abel auferlegte. Verflucht, einsam in der Dunkelheit zu leben, sich von Asche und Blut zu ernähren, unfähig, zu altern oder zu sterben, seine Seele... verdammt bis in alle Ewigkeit... ohne Hoffnung auf Erlösung."
Thürmer stockte. Passagenweise hatte sich das alles nett angehört, aber auf einem Haufen und auf einem Blatt Papier fixiert, legte es Zeugnis für etwas ab, das ihn nicht nur beunruhigte, sondern sein Weltbild auf den Kopf zu stellen drohte: Wenn das was dort stand, wahr war, dann waren seine Bemühungen der letzten 40 Jahre umsonst gewesen... Hatte sie es nicht selbst gesagt ? Gehenna, die Hölle des neuen Testaments, war ihnen angeblich allen vorherbestimmt ! Seine Randnotiz faßte es zusammen: 'Rettungslos verdammt bis in alle Ewigkeit ?' stand dort. Rettungslos verdammt... Rettungslos. Aber es war eine Geschichte, mehr nicht !
Er wischte die aufkeimende Panik beiseite und fuhr fort. Seine Stimme durchbrach die unangenehme Stille, die entstanden war.
"Wie gesagt zog Kain einsam durch das Land. Schließlich ignorierte er das Verbot Gottes, und erschuf 3 Kinder, um seine Einsamkeit zu mildern. Er ließ sie in einer Stadt unter den Menschen leben, verbot ihnen, den Fluch weiterzugeben und zog fort. Als er zurückkehrte, hatten seine 3 Kinder ihrerseits 13 Kinder gezeugt, waren aber von diesen erschlagen worden. Kain verfluchte diese 13 Kinder, auf daß stets Zwist und Hader zwischen ihnen herrsche, gab ihnen einige Gebote mit, damit sie wenn schon nicht mit- dann doch wenigstens nebeneinander leben könnten. Dann kamen Noah, die Arche und die Sintflut. Jedenfalls war Kain die erste Generation,
seine 3 Nachkommen die zweite Generation und die 13 Enkel Kains dementsprechend die 3. Generation, die letzte vor der Flut, weshalb man sie auch Vorsintflutliche nennt.
Dieses Wissen war also Standard für jeden von uns, bis dann vor 600 Jahren die großen Gruppierungen gegründet wurden: Anarchen, Camarilla und Sabbat. Diese sind sich in Strukturen und Prinzipien angeblich nicht unähnlich. Jedenfalls stellen diese Sekten Hilfskonstrukte dar, die ordnung unter uns aufrecht zu erhalten. Das ist ihnen gelungen und da sie schließlich mehr oder weniger 600 Jahre in ihrer heutigen Form überstanden haben. Allerdings wie Frau Dragomir meinte, auf tönernen Füßen, also können sie zu Fall gebracht werden, wenn man weiß, wie man das anstellen soll. Für sowas hat die heutige Jugend allerdings zu wenig Wissen um die Vorgeschichte. Auch braucht es umfassendere Aktionen als ein paar versprenkelte Anarchen hier und da. Jedenfalls sieht sie Gottes Fluch auch als Ursache der Raserei, allerdings gibt es Mittel, sie in den Griff zu
bekommen, sie nannte hier nur den Begriff Golconda... Die Gruppierungen verdrehen und verschweigen die alten Überlieferungen und informieren die jungen falsch oder unzureichend mit Lügen und Halbwahrheiten. Laut diesem Halbwissen werden Clanlose daher geächtet, weil sie mit Dünnblütigen gleichgesetzt werden, nicht immer zurecht. Diese Dünnblütigen, so heißt es weiter, sind Vorboten des Tages, an dem sich die Vorsintflutlichen, ihr erinnert euch, erheben, und jeden Vampir diablerieren, den sie in ihre Finger bekommen. Diese 3. Generation hat Frau Dragomir mit dem Hexer verglichen, nur daß die 13 im Vergleich ein vielfaches an Macht besitzen sollen."
Die Blasphemie der Ravnos, diese Verdammten in die Nähe der göttlichen Allmacht zu rücken, unterschlug er.
"Dann soll Kain sich erheben und über alle seine Nachkommen richten, jeden einzelnen von uns. Dieses bezeichnen die Überlieferungen als Gehenna. Die biblische Hölle...auf Erden. Ihr Vortrag war eine Art Crashkurs in dem, was sie für die unsere Vorgeschichte hält. Laut den Quellen bist du demnach eine Ausgestoßene, weil du ein Herold der Apokalypse bist, die von der Camarilla verleugnet wird. Weiterhin wollte sie uns denke ich sagen, daß es ihrer Ansicht nach noch größere Bedrohungen als den Hexer gibt, und größere und umfassendere Anstrengungen nötig sind, wenn die Anarchen die Oberhand bekommen sollen. Hier und überall sonst. Aber ihr Punkt war: Es ist möglich. Diese Bewegung kann erfolgreich sein. Meinst du, sie hätte uns das erzählt, wenn sie nicht zumindest etwas auf unserer Seite wäre ?"
Er legte die Notizen ab, fast sah es so aus, als wollte er, daß sie aus seinem Blickfeld, seiner Erinnerung, seiner Welt verschwänden. Achtlos wischte er den Block vom Tisch.
"Wie sieht es aus Fräulein ? Meinen sie, die 'alte Schachtel' bekommt demnächst einen Entschuldigungsbesuch ?"