Wie wird man eigentlich Caitiff? (Teil I)

Morticcia

Addams
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13.06.1998

Ein ganz normaler Samstag in den späten Neunzigern.

Es war fast Sommer und auch wenn es noch immer ungewöhnlich warm war, so bildete sich doch endlich eine immer dichter werdende Wolkendecke über der schon seit Tagen hoffnungslos überhitzten Hansestadt. Jenny öffnete das Fenster ihrer kleinen Dachgeschoßwohnung und hoffte auf die Art wenigstens etwas frische Luft in die Zimmer zu bekommen. Doch draußen ging kein einziges Lüftchen und so blieb die unerträglich schwüle Luft unverändert feucht zwischen den Möbeln hängen.
Unbeeindruckt von derartigen Nebensächlichkeiten lehnte sich die junge Frau kurz aus dem schmalen Fenster und genoss die letzten warmen Sonnenstrahlen auf ihrer Nase. Langsam verschwand der rotglühende Ball hinter dem Horizont. Es würde schon bald ein heftiges Gewitter geben, sie hatten so etwas im Radio gesagt, aber noch war es nicht so weit.

Aus den Boxen hinter ihr dröhnte lautstark Metallicas neustes Werk Reloaded, sie hatte den Silberling eben erst eingelegt, und der Spieler wechselte grade von Fuel zu The Memory Remains. Der olle Hetfield röhrte also die ersten Worte ins Mikro und genau jetzt in dieser Sekunde war das Leben schön.
Immerhin war heute ihr achtundzwanzigster Geburtstag, Thomas würde gleich aus dem Studio kommen und nach einer kleinen Geburtstagsextrarunde in den Laken würden sie zusammen aufbrechen um sich mit ihrem Mann in Sankt Paulis berühmten Kiez Kneipen ganz ordentlich einen hinter die Binde zu kippen.

Fortune, fame
Mirror, vain
Gone insane
But the memory remains
Heavy rings on fingers wave
Another star denies the grave
See the nowhere crowd cry the nowhere tears of honor
Like the twisted vines that grow
That hide and swallow mansions whole
And dim the light of an already faded prima donna…


Gut gelaunt stieß sich Jenny von der Fensterbank ab und tanzte zu den Takten der Melodie in die Küche um sich eine Tasse Kaffee zu holen. Sie hatte das kleine Schwarze bereits angezogen und als sie durch den Flur zurück ins Wohnzimmer ging, fiel ihr Blick zufrieden auf den großen Spiegel neben der Garderobe.
Sie ging auf die Dreißig zu, aber noch hatte sie einen vollkommen perfekten Körper. Und das obwohl sie sich eigentlich nicht mal große Mühe mit ihm gab. Sicher sie joggte mehr oder weniger regelmäßig und bewegte sich auch sonst gerne und viel. Zu behaupten sie würde sich für ihre Figur aber abmühen, oder gar schinden war sicherlich schamlos übertrieben.
Na ja sie aß halt nicht sehr oft. Ihre Leidenschaft galt dem Rauchen verschiedenster Dinge und dem Alkohol. Das war nicht vernünftig, dass wusste sie selber, aber Scheiße sie war jung und ungehemmt. Der Ernst des Lebens würde noch früh genug über ihr zusammenbrechen, also warum sich jetzt nen Kopf darüber machen? Jetzt wo alles so perfekt zu laufen schien.

Zusammen mit Tom hatte sie Ink & Pain gegründet, ihren ersten eigenen Laden und er lief zu ihrer beider Erstaunen verdammt gut. Nie zuvor hatten beide mehr Geld besessen. Als Friseuse hatte sie achthundert Mark netto im Monat nach Hause gebracht, heute war es fast das Vierfache. Und das mit einem Job der Jenny wirkliche Freude bereitete. Nicht allein auch deshalb weil sie verdammt gut war, so gut, dass ihr Mann sich mittlerweile alleine aufs Piercen beschränkte und das Stechen alleine seiner Frau überließ. Meistens zumindest, denn es gab immer noch ein paar Machowichser die sich von einer Frau nicht in die Haut ritzen lassen wollten.
Leider waren es eben diese Typen, meistens geifernde Nazipenner, die das meiste Geld einbrachten. Ein Landser in beinahe Lebensgröße als Rückenmotiv brachte schnell mal einen Tausender extra in die dankbare Familienkasse.
Das Telefon klingelte und Jenny suchte nach dem riesigen schwarzen Ding das sich langsam unter der Bezeichnung Handy in den Köpfen der Bevölkerung festsetzte. Schrecklich wenn man immer und überall erreichbar war. Schrecklich auch der nervtötend sonore Klingelton. Mit etwas Glück würde sich der Scheiß nicht wirklich durchsetzen. Wenn die erste Begeisterung abgeklungen war würden die Menschen erkennen, das das normale Haustelefon vollkommen ausreichte! Mal abgesehen davon, dass diese riesigen Dinger kaum in die Handtasche passten.

Kaum war sie drangegangen, erklang der angenehme Tenor ihres Ehemannes.
„Hey Babe, ich bin’s Tom! Hör mal ich hab hier noch nen Kunden sitzen der sich nen Prinz Albert verpassen lassen will. Scheint ihm voll wichtig zu sein und er zahlt gut!“

Jenny nickte, also nichts Wildes. In einer Stunde würde er nachkommen, spätestens.
„Ok Honey! Ich mach mich dann jetzt auf den Weg, wir sehen uns bei Barney, ja? Steve und Kathi kommen ja auch gleich dorthin, also bis dann…. Lieb dich, verpasst nen heißen Quickie Schatz!“

Sie kicherte leise als sie sein enttäuschtes Stöhnen am anderen Ende der Leitung vernahm.
Ziel, Schuss, Treffer, Versenkt!
„Das haste davon Kapitalistenarsch! Bye!“

Lachend legte sie auf als auch er sich verabschiedet hatte und verdrehte die Augen als er ihr den gewohnten Kuss durch Telefon schmatzte. Sie hasste es wenn er das tat und sie wusste das er es genau deswegen auch nicht lassen konnte.
Schnell schaltete sie noch die Anlage aus, griff dann die schwere Lederjacke und verschwand nach draußen in die kommende Nacht. Was sollte sie noch lange zuhause rumsitzen wenn der einzige Grund dafür noch eine halbe Ewigkeit auf sich warten lassen würde?

Hallo Hamburg!
Jenny Färber kommt und läßt es heute Nacht krachen, komm doch her und mach mit!


Sie lachte vergnügt, es könnte die beste Nacht ihres ganzen Lebens werden.
 
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Und sie wurde es!

Zumindest in den ersten Stunden, denn Jenny lies mit ihren Freunden ordentlich die Sau raus.
Das 'Barneys' platzte, wie fast jeden Samstag, förmlich aus allen Nähten und zwischen Marihuanadämpfen, Zigarettenqualm und Alkoholschwaden aus Schnaps und Bier hämmerten die aktuellsten Hits der norddeutschen Metalszene.
Type ó Negatives-Oktober Rust, Body Counts-Born Dead, Marilyn Mansons nagelneues Werk Mechanical Animal, Tiamats-A Deeper Kind of Slumber und wie sie alle hießen, feuerten ihre harten Rythmen und schnellen Gitarrenschläge gnadenlos unhd scheppernd in die feiernde Menge.
Die kleine Gruppe amüsierte sich prächtig und so bemerkte Jenny erst kurz vor Mitternacht das Tom sich noch immer nicht hatte blicken lassen. Da ihr Alkoholspiegel sich jedoch bereits jenseits von Gut und Böse befand und auch ihre Laune viel zu gut war, um sich über ihren gewohnt unzuverlässigen Ehemann zu ärgern, verschob die junge Frau das Problem kurzer Hand auf irgendwann am kommenden Tag.
Mittlerweile war es allerdings derartig voll geworden, dass an wirklichen Spaß nicht mehr zu denken war. Alleine der Weg zum Klo und zurück beanspruchte die Geduld und den Zeitaufwand einer halben Weltreise. Hier hieß es also entweder ausharren oder schlicht aufgeben, zumindest wenn man weiter Gast bei Barneys bleiben wollte.
Unmut machte sich breit und die bisher so großartige Laune drohte zu kippen.
Stattdessen zog Jennifer in einem Pulk von gut zwölf weiteren gut gelaunten Leuten irgendwann einfach von Kneipe zu Kneipe, um anschließend, bewaffnet mit etlichen SixPaxs HannenAlt und diversen Dönerbrötchen auf dem Hans Albers Platz im Schatten des namengebenden Denkmals zu landen.
Hier gröhlten sie die alten Hits, rauchten Pott, tranken Schnaps und ließen die guten alten Zeiten ein weiteres Mal auferstehen. Damals als sie noch jung waren, als die Welt noch ihnen gehörte und die Probleme des Alltags allein Angelegenheit der Spießer war.

In anderen Städten hätte eine derartig wilde Party inmitten des Zentrums bereits nach wenigen Minuten die Polizei auf den Plan gerufen. Im Sankt Pauli der Neunziger lockte derartiges nicht mal einen Hund hinter ner Tonne hervor.

Die Zeit verging und es war bereits nach Drei, als Jenny sich bewußt wurde, dass aus der ehemals großen Gruppe ein kleiner elitärer Haufen geworden war. Sie waren mittlerweile nur noch zu fünft. Ein schwer miteinander beschäftigtes Pärchen, ein volltrunkener Kumpel der sich schon vor ner Ewigkeit ins Reich der Träume verabschiedet hatte und natürlich Ben, ihr bisheriger Gesangspartner. Dieser aber gab in eben dieser Sekunde ebenfalls auf und teilte seinen halbverdauten Alkoholvorrat, so grugelnd wie großzügig mit einem dankbar schweigenden Gebüsch.

Zeit zu gehen Darling!, dachte sie, kletterte stattdessen aber zum Hans auf den Sockel.
Dort angekommen kuschelte sie sich eng an seinen metallenen Leib, hob die letzte Dose des Abends und gröhlte den berühmtesten Hamburger Schlager aller Zeiten mit einer derartigen Inbrunst, dass selbst das wild knutschende Paar unter ihr kurz das Liebesspiel unterbrach um nachzusehen was zur Hölle die Färber jetzt wieder veranstaltete.

" ... Komm doch, liebe Kleine, sei die meine, sag' nicht nein!
Du sollst bist morgen früh um Neune meine Alllerliebste sein.
Ist dir's recht, na dann bleib' ich dir treu treu bis morgens um zehn.
Hak' mich unter, wir woll'n jetzt zusammen bummeln geh'n.
Auf der Reeperbahn nachts um halb eins, ob du'n Mädel hast oder hast oder auch kein's, amüsierst du dich,
denn das findet sich auf der Reeperbahn nachts um halb eins.
Wer noch niemals in lustiger (lauschiger) Nacht einen Reeperbahnbummel gemacht, ist ein armer Wicht,
denn er kennt dich nicht, mein St.Pauli, St.Pauli bei Nacht!"

Unberührt von solch banaler Kritik beendete jenny also die Strophe, gab ihrem bronzenen Helden den leidenschaftlichsten Kuss seines Lebens und sprang dann wieder hinunter um gut gelaunt nach Hause zu wanken.
Ein winkender Gruss musste reichen, denn wie es aussah, hörte ihr sowieso niemand mehr zu.
 
AW: Wie wird man eigentlich Caitiff? (Teil I)

On candystripe legs the spiderman comes
softly through the shadow of the evening sun
stealing past the windows of the blissfully dead
looking for a victim shivering in bed
Searching out fear in the gathering gloom
and suddenly a movement in the corner of the room
and there is nothing I can do when I realise with freight
that the spiderman is having me for dinner tonight..
.
The Cure, Lullaby


Leise vor sich hinsingend nahm Jenny die gewohnte Ankürzung über die Bahnschienen. Es war Sonntagmorgen, weit nach Mitternacht, was bedeutete dass der nächste Zug auf dieser Trasse noch etliche Stunden auf sich warten lassen würde.
Also keinerlei Grund zur Eile.
Nicht das dies in ihrem jetzigen Zustand überhaupt möglich gewesen wäre. Erstaunt sah sie plötzlich zum Boden hinunter, hob verstehend die schmalen Augenbrauen und klopfte sie sich mental auf die eigene Schulter. Sie hatte soeben eine herausragende Erkenntnis gewonnen. Bahnschienen eigneten sich hervorragend dazu, einen Betrunkenen in der Spur zu halten, stellte sie fest. Sie hatte einige Zeit versucht auf ihnen zu balancieren und war kläglich gescheitert, aber als Hilfe beim Geradeausschreiten waren diese endlosen Metallschlangen einfach unschlagbar. Jenny kicherte leise und steckte sich zur Feier dieser großartigen Erkenntniss eine Zigarette in den Mundwinkel.
Mittlerweile hatte es zu nieseln begonnen, das erwartete Sommergewitter ließ aber noch immer auf sich warten.
Die Hamburger Göre hatte den Kragen ihrer Lederjacke hochgeklappt und die Hände in die Tasche gestopft. Es war empfindlich kalt geworden, fand sie. Ohne sich in ihrer guten Laune davon beeindrucken zu lassen zog sie schlicht den Kopf etwas ein und ging stur weiter.
Still freute sie sich darauf nach Hause zu kommen und über ihren schlafenden Mann herzufallen. Der Mistkerl hatte es gewagt sie ausgerechnet an ihrem bisher wichtigsten Geburtstag zu versetzen, dafür würde er büßen. Dreimal hintereinander wenigstens, ob er das nun wollte oder nicht.
Jenny grinste verträumt und in ihrem Herzen stieg ein vetraut warmes Gefühl hoch. Sie liebte diesen Mann von ganzem Herzen, würde ihn immer lieben und niemals wieder von seiner Seite weichen. Mochte das Leben auch so beschissen sein wie es wollte, an seiner Seite würde sie lachend durch die Hölle marschieren und dem Teufel persönlich vor die ungewaschenen Füße spucken. Mit Tom an ihrer Seite war sie unbesiegbar!
Und unbeschreiblich glücklich!

"Tommiii du alter Hurensohn! Ich liiiiiiiiiebe diiiiich!", schrie sie aus Leibeskräften in den dunklen Hamburger Himmel hinein. Dieser unmißverständlichen Erklärung folgte ein schriller Schrei der seinen Weg unüberhörbar aus den tiefsten Tiefen ihres übervollen Herzens hinauf an die Oberfläche gefunden hatte. Verschmitzt lächelnd ging sie weiter, trotzdem würde sie ihn ein klein wenig leiden lassen. Wenigstens den Sonntag über, würde sie sich in seinem schlechten Gewissen aalen. Sie war neugierig was er sich als Wiedergutmachung würde einfallen lassen? Was das anging war er recht kreativ. Bei seiner Zuverlässigkeit allerdings musste er das auch wohl sein.

Wie aus dem Nichts traf sie ein schmerzhafter Hieb in den Rücken, raubte ihr den Atem und ließ sie keuchend nach vorne auf die Bahnschwellen fallen. Noch bevor ihre Knie schmerzhaft auf den harten Boden schlugen nahmen ihr hervorschießende Tränen die Sicht. Sie hatte den Angreifer in keinster Weise kommen hören, ahnte aber das ihr nun Schlimmes bevorstand. Sie kannte diese Art von Menschen, wer eine andere Person auf diese rücksichtslose Weise angriff, hatte keinerlei Bedenken zu tun wonach auch immer ihm der Sinn stand.
Oh Gott, der Scheißkerl will mich vergewaltigen!, schoß es ihr durch den Kopf.
Grenzenlose Wut stieg in ihr hoch, das war verdammt nochmal ihr dreißigster Geburtstag, dass konnte der doch nicht einfach so machen. Das war einfach nicht fair! Jennys Gedanken überschlugen sich. Sie und Tom waren eine bekannte Größe in der Straßenszene und die Wahrscheinlichkeit das sie diesen notgeilen Mistkerl persönlich kannte, daher nicht gering. Was also konnte sie ihm sagen das er von ihr abließ? Es half nichts, sie musste zuerst sehen mit wem sie es zu tun hatte.
Soweit kam es jedoch nie.
Noch bevor Jenny auch nur zu der geringsten Handlung fähig war, griff eine brutale Hand in ihr Haar und riß ihren Kopf nach hinten, gleichzeitig drückte sie ein weiterer Tritt endgültig zu Boden. Wer immer hier sein Spielchen mit ihr spielte, er verstand sein Handwerk. Panik stieg in der betrunkenen jungen Frau auf, urplötzlich erkannte sie, dass sie dem Angreifer vollkommen hilflos ausgeliefert war.

"Bitte..." stieß Jenny hervor und ihre Stimme zitterte nun vor Angst und Schmerzen. "Bitte, ich..."
Als nächstes spürte sie einen weiteren brennenden Schmerz an ihrem Hals. Hatte der Scheißkerl sie grade tatsächlich gebissen? Was war das denn für ein Typ? Ja sicher, bei ihrem Glück durfte es natürlich nicht einfach nur ein mieser Vergewaltiger sein, für sie hatte das Schicksal natürlich einen der ganz perversen ausgesucht. Wie konnte es auch anders sein?
Ein seltsames Gefühl des Wohlgefallens stieg in ihr hoch und verwirrte ihren durch Alkohol und Drogen sowieso schon vernebelten Geist nur noch weiter. Lust und Leidenschaft breiteten sich in ihrem Körper aus und verloren sich in der Mitte ihres Körpers.

Was ist hier nur los? Oh bitte, ihr Götter... Nein, nein, nein...

Verzweifelt kämpfte sie gegen jedes positive Gefühl an. Sie gehörte alleine ihrem Tom und nur er sollte ihr bis zu ihrem Tod diese Art von Gefühlen schenken.
Wieso erzeugte dieser Angriff dann diese seltsamen Empfindungen? Scheiße, der Kerl hatte ihr in den Hals gebissen, ihr mit einem brutalen Hieb fast das Rückrad gebrochen und Gott weiß was noch alles mit ihr angestellt.
Warum nur konnte sie diesen Arsch nicht einfach hassen?
Jenny spürte wie sie ihre Kräfte verließen. Irgendwann ergab sie sich ihrem Schicksal, gab jede Form der sowieso nutzlosen Gegenwehr auf und schloß die Augen.

Ich sterbe, so fühlt sich das also an! Bitte nein, ich will nicht...

Gandenvolle Schwärze legte sich über ihren Geist und sie versank im stillen Meer des endlosen Vergessens...
 
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"Njaaargh!"

Der Schrei der sich aus ihrer Kehle empor arbeitete, blieb auf halbem Wege stecken und verlor sich in einem haltlosen Hustenanfall. Unfähig sich auch nur im mindesten zu rühren versuchte sich Jennifer an die vergangenen Momente zu erinnern. Nur langsam und bruchstückhaft kehrten die Erinnerungen zurück.
Jemand hatte sie überfallen, ihr schrecklich weh getan, aber warum? Vergewaltigt hatte man sie auf jeden Fall nicht, sie spürte den Stoff ihrer Bekleidung am Körper. Alles war dort wo es hingehörte und auch ihre ureigenst weibliche Zone fühlte sich beruhigend unberührt an. Weiterhin still daliegend, horchte sie auf irgendwelche schrillen Nervensignale die eine schlimme Verletzung meldeten, aber auch hier ließ sich nichts negatives feststellen. Das einzige was ihr auffiel, war ein sehr unangenehmes Kratzen in ihrem Hals und ein überdeutliches Hungergefühl.
Stöhnend grub sie ihre Hände in den Kies und stemmte sich hoch in die Hocke. Mit fahrigen Händen fingerte sie eine Zigarette aus der Schachtel ihrer Innentasche und entzündete sie. Das heißt sie versuchte es, denn der Glimmstängel fing trotz des gut gefüllten Zippo Feuerzeugs erst nach dem vierten Versuch Feuer. Sie zitterte zwischendurch sogar so sehr, das sie aus Verzweifelung beinahe alles einfach fallen lassen hätte.
Was zur Hölle war denn dann nur passiert? Jenny kontrollierte ihr Portemonnaie und ihre anderen Wertsachen.
Aber auch dort war alles an seinem Platz.

Beinahe nebenbei stellte sie fest das die Zigarette grauenhaft schmeckte, bereits nach dem zweiten Zug feuerte sie die geschundene junge Frau in die Gleise. Dabei kam ihr ein Gedanke, wie spät war es eigentlich? Sie sah nach und bekam einen Schreck, es war bereits nach vier. Jennifer war sich nicht sicher, aber sie musste gut zwei Stunden hier gelegen haben, was hatte dieser Dreckskerl nur alles mit ihr angestellt?
Drogen? Wäre zumindest eine Erklärung und ein Umstand mit dem sie leben konnte. Vielleicht wollte der Angreifer sie mit irgendeiner chemischen Substanz auschalten und sie dann entführen. Irgendetwas musste ihn dann gestört haben, so das er fliehen musste. Ja das war eine gute Lösung...
Mühsam erhob sie sich vollends, sie wollte jetzt nur noch eines, nach Hause zu Tom ins Bett und dort dann einfach alles vergessen.

Der restliche Weg zu ihrer Wohnung verlief wie in Trance und noch Jahre später sollte sich die junge Hamburgerin nicht mehr an die verworrenen Augenblicke des Heimweges erinnern können. Irgendwann aber kam sie schließlich zu Hause an. Ohne ein Wort zu verlieren zog sie sich aus und kroch zu Tom ins Bett, glücklicherweise hatte er die Jalousien heruntergezogen, sie würde also wenigstens ausschlafen können ohne das ihr gleich schon wieder die aufgehende Sonne um die Nase tanzte.
Tom!
Jenny schmiegte sich so eng an ihren geliebten Mann wie es ihr nur möglich war, irgendwie war ihr noch immer furchtbar kalt und seine Wärme hatte etwas beruhigend vertrautes. Wie in ihren ersten verliebten Nächten grub sie ihre Nase in sein Haar damit sie seine Nähe nicht nur fühlen, sondern auch riechen konnte. Der Duft war einfach wunderbar, Tom hatte nie besser gerochen. Es war als könnte sie die Kraft und das Leben in seinem Körper allein durch ihre Nase einfangen. Es war einfach wunderbar.
Schrecklicher Hunger stieg in Jennifer auf, ein Hunger wie sie ihn nie zuvor erlebt hatte. Er war schmerzhaft und von einer derartigen Kraft besessen, dass es ihr fast den Verstand raubte. Bevor sie diesem gierigen Drang aber nachgeben konnte, schlief sie vor Erschöpfung ein.
 
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Hunger!

Es war ihr letzter Gedanke als sie einschlief und der erste mit dem sie erwachte. Alles was an Gefühlen darüber hinaus ging, verwirrte sie schrecklich. Jenny hatte nicht die leiseste Ahnung, wie spät oder wie sie nach Hause gekommen war. Träge öffnete sie die Augen und schwang ihre Beine aus dem Bett. Anstatt sich jedoch endgültig zu erheben, blieb sie auf der Kante sitzen und vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. Was war nur los? Ihr fehlten jegliche Erinnerungen an die letzten Stunden der Nacht. Sie war aus gewesen und hatte mit Freunden ihren Geburtstag gefeiert. Sie hatte Alkohol getrunken und Drogen konsumiert. Von beidem sehr viel, aber sie hatte keinen Kater. Es ging ihr nicht schlecht, ihr war auch nicht übel. Sie fühlte sich eigentlich einfach nur… leer.
Weiter Minuten verstrichen, dann endlich zwang sie sich aufzustehen. Missmutig schlurfte sie ins Bad um sich die Zähne zu putzen. Sie hatte einen schrecklichen Geschmack im Mund. Es schmeckte seltsam ekelhaft, wie als hätte sie an einem Stromkabel gelutscht.
Es war stockfinster in ihrer Wohnung. Alle Jalousien waren heruntergezogen, nirgendwo brannte Licht. Trotz der Dunkelheit gelang es Jenny irgendwie ins Bad zu gelangen ohne sich dabei die Zehen blutig zu stoßen. Genau genommen stieß sie mit rein gar nichts zusammen. Ein Wunder wenn man bedachte, dass sie wohl zu den schlechtesten Hausfrauen des ganzen Landes gehörte.
Mindestens!

Als sie dann aber das Badezimmer erreichte, schaltete sie das Licht ein und erschrak bis ins Mark. Sie konnte von der Tür aus direkt in den Spiegel des Alibert sehen. Früher hatte sie es geliebt dass er so aufgehängt war, denn so war sie gewarnt wenn sich Tom von hinten an sie heranschlich um ein wenig mit ihr herumzumachen. Nun aber zeigte das Glas ihr ein fürchterliches Bild. Ihr Gesicht glich einer entsetzlichen Fratze. Ihr Mund war bis an die Wangen hoch mit Blut verschmiert, ihr halblanges, schwarzes Haar hing in schmutzigen Strähnen herab und ihre Augen leuchteten in einem widernatürlichen Rot. Ein Schrei versuchte aus ihrem Hals zu entkommen, gelangte aber nur als verschrecktes Wimmern nach draußen.

OhmeinGott! OhmeinGott! OhmeinGott! OhmeinGott! OhmeinGott!

Jennys Beine verweigerten den Dienst und sie brach keuchend zusammen. Noch immer fehlten ihr die Erinnerungen an das, was nach ihrer Zeit auf dem Hans Albers Platz mit ihr geschehen war. Nur eines schien jetzt gewiss, es musste etwas Furchtbares gewesen sein. Verzweifelt und unter Tränen rief sie den einzigen Menschen dem sie blind vertraute. Erst beim dritten Versuch schaffte sie es das Wort zu artikulieren, die ersten beiden Male versagte ihr schlicht die Stimme.

Tom! Oh mein Gott Tom, bitte hilf mir! Tom! Bitte… bitte ich brauche dich!“

Keine Reaktion!
Wo war er nur? Sie hatte seinen Körper neben dem ihren gespürt. Er hatte neben ihr im Bett gelegen. Warum antwortete er ihr nicht? Auch wenn er böse mit ihr war musste er doch hören wie sehr sie in brauchte. Jenny versuchte sich an der Türklinke emporzuziehen, schaffte es aber nicht. So krabbelte sie in ihrer Not einfach auf allen Vieren zurück ins Schlafzimmer. Sie hörte dabei nicht auf seinen Namen zu rufen.
Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, endlich aber erreichte sie das gemeinsame Bett.

„Tom? Bitte, irgendetwas Schreckliches ist mit mir geschehen! Rede mit mir! Schatz ich brauche dich!“

Sie bekam keine Antwort. Wie eine Ertrinkende klammerte sie sich an seinen Körper und zog sich so zu ihm hinüber.

Scheiße Mann! Jetzt sag endlich was, verdammt....ich...!“

Jenny drehte Tom zur Seite um ihn dazu zu zwingen sich endlich mit ihr und ihrem Problem auseinanderzusetzen. Sie sah ihm ins Gesicht und erstarrte. Gnädiger Weise verabschiedete sich genau in dieser Sekunde ihr Verstand. Tom war tot, irgendein Tier hatte ihm den Hals zerfetzt. Seine gesamte Hälfte des Bettes war über und über mit Blut verschmiert. Sein schlaffer Kopf hing nach hinten herab und ließ die klaffende Wunde dadurch noch schrecklicher erscheinen. Sein Kehlkopf fehlte gänzlich. Luft und Speiseröhre waren damit vollkommen durchtrennt, Teile von ihnen hingen in rot getränkten Fetzen herab. Nichts von dem nahm Jenny mehr war, Sie weinte bittere Tränen, wog den einzigen Menschen den sie je geliebt hatte in ihren Armen und weigerte sich weiterhin sich einzugestehen, dass sie es war, der ihn getötet hatte.


Als sie Stunden später wieder zu Verstand kam, irrte sie durch irgendeine Straße eines Hamburger Vorortes. Anscheinend war endlich das angekündigte Sommergewitter ausgebrochen, einen Tag zu spät zwar aber nun war es da. Blitze zuckten am Himmel, grollender Donner folgte. Strömender Regen hatte sie bis auf die Haut durchnässt. Ohne es zu bemerken, hatte das schreckliche Wetter ihr bisher das Leben gerettet. Die unzähligen herabfallenden, dicken Regentropfen hatten ihr das Gesicht abgewaschen und das Blut von ihrer Haut entfernt. Außerdem vertrieb das Unwetter die Passanten von den Straßen. Nur diesem Umstand hatte sie es wohl zu verdanken, dass noch niemand ihre eindeutig verschmutzte Kleidung entdeckt und daraufhin die Polizei gerufen hatte. Jenny hatte nicht die leiseste Ahnung wo sie war und wie sie hierher gekommen war. Im Grunde war es ihr auch vollkommen egal. Alles war egal. Tom war tot und das nahm auch ihr die Kraft zum Leben. Was sollte sie hier noch? Das Beste würde sein, wenn sie ins Wasser ging. Sie musste nur irgendwie zum Hafen gelangen.

War ich das?

Habe ich Tom so zugerichtet?

Warum sollte ich so etwas tun?

Wie?

Hunger!!!
 
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Ins Wasser gehen!
Sterben!


Das war die einzige Lösung, die einzige logische Konsequenz für den Mord an ihrem Mann. Sie hatte die Liebe ihres Lebens getötet. Nicht deshalb, weil es einen triftigen Grund gab. Auch nicht weil ihr keine andere Wahl blieb. Sie hatte ihn zu Tode gebissen, sein Blut getrunken und überall in ihrem Bett verteilt einfach nur, weil sie hungrig gewesen war. Aber ging das überhaupt? Hatte je ein Mensch sich auf einen anderen gestürzt nur weil sein Magen rumorte? So etwas mag bei den Überlebenden eines Flugzeugabsturzes in den Anden der Fall gewesen sein. Aber doch nicht bei einer jungen Frau aus der Mittelschicht im Guten alten Sankt Pauli. Nein, so sehr sie auch versuchte sich die ganze Sache zu erklären, schönzureden, so sehr endete sie immer wieder an der Tatsache, dass sie ihren Mann nur deshalb getötet hatte, weil sie ein Monster war. Sie war eine Mörderin die es nichts anderes verdiente, als den Tod. Wenn sie in der Lage war Tom zu töten, dann hielt sie auch nichts und niemand vom Rest der Menschheit ab.

Mörderin!

Irgendwann würde man ihr auf die Schliche kommen und sie zur Rede stellen. Wie sollte sie dann erklären was sie getan hatte? Etwas, von dem sie selbst nicht wusste warum es geschehen war. Was aber am schlimmsten an der ganzen Sache war. Sie könnte die vorwurfsvollen Blicke nicht ertragen. Weder die der Polizei, noch die von Toms Familie.

Der Tod war die einzige Konsequenz! Vielleicht würde man sie nicht für den Tod ihres Mannes verantwortlich machen, wenn sie selbst nicht mehr am Leben war? Und selbst wenn doch. Sollten sie schlecht über sie reden, sie war ja tot. Die Hauptsache war, dass sie sich den anklagenden Blicken nicht mehr stellen musste.

Es glich einem Wunder, dass Jenny das Hafenbecken erreichte, ohne das sie unterwegs jemandem aufgefallen war. Noch immer trug sie ihre blutdurchtränkten Schlafsachen. Wahrscheinlich war es der Regen, der sie vor einer Entdeckung geschützt hatte. Ohne sich der Gefahr in der sie schwebte bewusst zu sein, wäre dem so gewesen, hätte es sie jedoch wohl kaum gekümmert, erreichte sie die Landungsbrücken. Jenny war am Ziel und ein letztes Mal brach sie in verzweifelte Tränen aus. Blutige Tropfen rannen ihre Wangen hinab, als sie den Schöpfer, alle anderen Götter und besonders die Seele ihres Mannes um Vergebung anflehte. Dann ließ sie sich nach vorne fallen ins eiskalte Wasser fallen. Langsam versank sie auf den Grund, dass Herz erfüllt vor der Angst vor einem schrecklichen Erstickungstod. Oder schlimmerem, Jenny hatte nicht soviel Erfahrung in Sachen Ertrinken.

Doch es geschah einfach nichts! Ihr Körper verlangte nicht nach Sauerstoff! Ihr Lungen schrien nicht nach Luft und der erwartete Todeskampf blieb aus. Irgendwann erreichte sie den Boden. Er fühlte sich schleimig an und ließ bei jeder noch so kleinen Bewegung unschöne Nebelschwaden aus Schlick und Schlamm aufsteigen.

Wieso sterbe ich nicht?
Was stimmt denn nicht mit mir?


Jenny entschied einfach dort liegenzubleiben wo sie sich befand. Vielleicht würde der Tod ja doch noch irgendwann auf sie aufmerksam? Irgendwann würde er vielleicht erbarmen zeigen und sie zu sich holen. Und selbst wenn nicht. Hier unten war sie geschützt vor den Blicken und den Vorwürfen der Menschen, denen sie sich nicht stellen konnte. Wie auch? Sie alle hatten ja recht, wenn sie sie voller Abscheu ein widerwärtiges Monster nannten.

Stunden vergingen. Die Nacht endete und der Tag brach an. Jenny spürte wie sie müde wurde. Ihre Gelenke wurden steif, in ihrem Inneren stieg eine Kälte empor, die man durchaus als kommenden Tod bezeichnen konnte. Starb sie nun endlich? Nach Stunden unter Wasser würde sie nun endlich vergehen. Dankbar sandte sie ihre Zustimmung an diese Entscheidung gen Himmel.

Danke! Danke! Nehmt mich auf bei euch! Verdammt mich und stoßt mich hinab zur Hölle. Mir ist alles recht, wenn ich nur von diesem Leben und dieser Schuld befreit werde…

Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten und sie war um längen unangenehmer als Jenny es sich je hätte vorstellen können. Schwache Sonnenstrahlen fanden ihren Weg durch das Wasser hinab bis zu ihrem Rücken. Das Wasser filterte den größten Teil der Sonne, aber ein wenig Tageslicht reichte bis zu ihr hinab. Genug um die Haut auf ihrem Rücken zu verbrennen. Die Haut unter ihrem Nachthemd warf Blasen und der Schmerz den Jenny verspürte war schlimmer als alles was sie je hatte durchmachen müssen. So sehr sie sich auch den eigenen Tod wünschte. Diese Pein war weit mehr als sie ertragen konnte. Wilde Panik kroch in ihr empor. Wie konnte sie verbrennen, wo sie doch unter Wasser war? War dies Gottes Strafe an ihr? Gut, sie hatte sie verdient. Sie selbst hatte darum gebeten. Aber es tat so schrecklich weh!

Mit immer müder werdenden Gliedern, mehr durch ihren Instinkt als durch ihren Verstand geleitet robbte und schwamm die gepeinigte junge Frau an den Rand der Hafenmauer und presste sich dort in eine kleine Nische, die die Tide der Gezeiten über Jahrzehnte in den Stein gewaschen hatte. Jenny verlor das Bewusstsein und fiel in einen todesgleichen Schlummer. Sie erwachte erst in der nächsten Nacht.

Ich bin nicht Tod?

Die Erkenntnis ließ sie ein weiteres Mal in bittere Tränen ausbrechen, brachte sie aber auch zu der Überzeugung, dass es wenig Sinn machte noch länger auf dem Grund des Hafenbeckens zu verweilen. Jenny schwamm nach oben und kletterte zurück auf den Kai. Hier blieb sie liegen und wollte ein wenig verschnaufen. Erst jetzt, zum ersten Mal seit dem Überfall auf den Bahnschienen wurde ihr bewusst, dass sie nicht mehr atmete. Sie war tot! Das erklärte warum sie nicht ertrunken war. Oder war sie ertrunken und hatte es nur nicht mitbekommen? Was war denn nur los? Das alles war doch überhaupt nicht möglich? Was für ein perverses Spiel trieb man hier mit ihr?

„Hallo? Geht es Ihnen gut? Soll ich einen Rettungswagen rufen?“

Die Stimme einer jungen Frau. Es war eine Punkerin, kaum älter als sie selbst und unübersehbar eines der Mädchen die sich trotz der Uhrzeit und der unsicheren Gegend wahrscheinlich sehr gut selbst zu helfen wussten. Jenny sah zu ihr hoch und wusste nicht, was sie sagen sollte. Nein es ging ihr nicht gut! Sie war tot verflucht, konnte aber nicht sterben. Wahrscheinlich war Gott persönlich von ihrer niederträchtigen Tat so angekotzt, dass er entschieden hatte sie nicht in den Himmel zu lassen. Geht in Ordnung Meister, ich hätte mich auch nicht haben wollen!

„Oh Mann, Sie sehen echt Scheiße aus! Warten Sie, ich rufe den Notarzt!“

Nein! Keinen Arzt! Keine Polizei! Man würde wissen wer sie war und man würde wissen, dass sie eine verfluchte Mörderin war. Sie würden sie verhaften und sie dann mit diesen vorwurfsvollen Blicken ansehen.

Nein!“, schrie Jenny laut auf und hieb mit der Faust in das Gesicht der Frau die eben dabei war ihr Handy aus der Innentasche ihrer Lederjacke zu fischen. Es knackte laut, als der Kiefer der Punkerin brach und sie mit einem leisen Stöhnen auf den Lippen zusammenbrach. Jenny war es egal. Heißhungrig und voller Gier stürzte sie sich auf die bewusstlose Frau und stieß ihre Zähne in ihren Hals. Seufzend und stöhnend trank sie sich satt. Wieder verlief alles wie im Nebel. Irgendwann ließ sie von ihrem Opfer ab. Ihr Hunger war nicht ganz so groß gewesen wie in ihrer ersten Nacht als Vampir, deshalb hielt sich die Sauerei die sie während des Trinkvorgangs verursacht hatte, einigermaßen in Grenzen. Zum Glück, denn Jenny brauchte unbedingt etwas Vernünftiges zum anziehen. Schnell entkleidete sie sich bis auf die Haut und zog sich dann Stück für Stück die Sachen der toten Unbekannten über. Die Sachen waren ein wenig zu groß, passten aber insoweit, dass sie in ihnen nicht weiter auffallen würde. Ihre Schlafsachen und den Körper der Punkerin warf sie abschließend ins Wasser.

War sie also ein zweites Mal zum Mörder geworden. Wieder aus Hunger! Das war doch verrückt! Was war sie? Ein Zombie der Menschen fraß? Ein Ghoul aus den Gruselgeschichten ihrer Jugend? Ein verfickter Vampir der mit wehendem Mantel über die Häuserdächer hüpfte? So etwas gab es doch alles nicht! Ammenmärchen!

Ach ja? Du kannst jetzt für fast fünfzig Stunden die Luft anhalten! Das ist entweder neuer Weltrekord oder du bist so tot wie ein Mensch nur sein kann! Außerdem frisst du Menschen, nicht unbedingt das beste Benehmen, findest du nicht auch?

Jenny hatte nicht die geringste Ahnung was sie als nächstes anstellen sollte. Sie konnte unmöglich zurück nach Hause. Der Gedanke an Toms verwesenden Körper und all das Blut um ihn herum drehte ihr den Magen um. Sterben konnte sie offensichtlich nicht. In der Welt der Lebenden hatte sie jedoch auch nichts mehr verloren. Was also sollte sie tun? Von dem Geld der ermordeten Frau, jene die nur deshalb starb, weil sie den Mut besessen hatte helfen zu wollen, kaufte sich Jenny eine Flasche Jack Daniels. Dann irrte sie weiter durch die Stadt. Ohne Sinn und ohne Ziel.

Und was am schlimmsten war, ohne jede Hoffnung.
 
AW: Wie wird man eigentlich Caitiff? (Teil I)

Stundenlang irrte Jenny so umher.
Verwirrt, verängstigt und ohne die geringste Ahnung wie es weitergehen sollte. Irgendwann setzte sie sich ans Ufer der Außenalster, dort wo ein Fußweg direkt unter der Kennedybrücke verläuft. Ihr war nach Weinen zumute, aber sie hatte einfach keine Tränen mehr übrig die sie vergießen konnte. Eine Stimme aus dem Dunkel sprach sie an.

„Du bist tot, nicht wahr?“

Jenny sah auf, konnte den Ursprung der Worte aber nicht ausmachen. „Sehr witzig!“, antwortete sie. „Und du bist offensichtlich ein Arsch!“

„Ich meine es ernst, ich habe dich beobachtet, weißt du?“

Der Schrecken fuhr ihr wie ein Blitz durch die Glieder.
Hatte der Mann dann auch beobachtet wie sie das Mädchen erschlagen hatte? War er gekommen sie zu richten?

„Mir geht’s einfach nicht gut, ok? Lass mich in Ruhe!“

Die unsichtbare Stimme schnalzte mehrmals mit der Zunge.
„Tstststs! Du solltest mir zuhören Mädchen. Du bist in großer Gefahr. Du hast aus Hunger ein Leben genommen. So etwas kann schon mal passieren. Sicher! … Sicher! Die Bosse aber werden es nicht einfach so hinnehmen. Sie können es gar nicht leiden, wenn die Welt auf sie aufmerksam wird!“

„Was redest du da für einen Blödsinn?“

Oh mein Gott, er weiß es!

Ein leises Lachen folgte.
Unheimlich, aber ohne dabei bedrohlich zu wirken.
„Hör mir einfach zu, Mädchen! Dein Leben hängt davon ab. Oder besser das was davon noch übrig ist. Ein Vampir hat dich getötet und dich zu einem von uns gemacht. Ja, richtig! Du bist gestorben und je eher du es akzeptieren kannst, desto schneller können wir zu den wirklich wichtigen Dingen übergehen.“

Jenny schüttelte den Kopf.
„Ich kann nicht tot sein, ich sitze doch hier und unterhalte mich. Außerdem gibt es keine Vampire, dass sind doch alles nur Märchen und dumme Geschichten!“

„Du hast stundenlang auf dem Grund des Hafens gelegen und bist nicht ertrunken. Du hast einen Menschen getötet und sein Blut getrunken. Klingt das für dich nach einer typisch menschlichen Freizeitbeschäftigung?“

Zwei Menschen, ich habe bereits zwei Menschen umgebracht. Oh mein Gott ich habe Tom getötet….Was soll denn jetzt nur werden?

Die junge Kainitin ließ den Kopf hängen. „Nein! … Klingt es nicht! Aber was soll ich denn jetzt machen? Ich weiß doch nichts!“
„Deshalb bin ich hier Kind.“ Aus dem Dunkel der Nacht trat eine gebückt wirkende Silhouette. „Ich werde die Aufgaben deines Erzeugers übernehmen und dich alles lehren was ich weiß! Du bist nicht so alleine wie du dachtest…“
Der Fremde kam einen weiteren Schritt näher. Noch immer waren nur die Umrisse der Person zu erkennen. Die allerdings wirkten seltsam verdreht und mit viel zu langen Armen.
„Es gibt viele Vampire? Warum weiß dann niemand etwas davon? Man muss die Menschen doch vor so etwas warnen? Warum hat mir nie jemand gesagt dass es so etwas gibt? Scheiße, ich hätte nicht sterben müssen.“

Tom würde noch leben…

„Alles zu seiner Zeit! Zu aller erst müssen wir den unangenehmen Teil hinter uns bringen. Es trifft dich nicht, denke ich. Aber nicht jeder von uns Vampiren ist nur mit dem Tode gestraft. Manch einer muss schwere Entstellungen hinnehmen. Der ein oder andere sogar…Schlimmeres!“
Mit dem letzten Wort trat die Gestalt ins Licht der Straßenbeleuchtung. Die Wirbelsäule des Mannes war verdreht wie ein Korkenzieher. Die Arme hingen ihm so weit herab, dass die knochigen Finger bei jeder Bewegung über den Boden striffen. Seine krummen Beine hingegen erschienen viel zu kurz und unterschiedlich lang. Am schrecklichsten aber, war das vollkommen verunstaltete Gesicht. Das Wesen besaß keine Nase und keinerlei Haare auf dem Kopf. Seine spitz zulaufenden Zähne waren übernatürlich lang und standen ihm in alle Richtungen aus dem Mund. Es glich einem Wunder, dass er trotz dieser Einschränkung normal sprechen konnte. Die Haut seines Köpers war mit einem grünlich feuchten Schimmelpilz überzogen. Als Jenny den Mann in seiner vollen Pracht erkannte, seufzte sie erschrocken auf und verlor das Bewusstsein.

Wenige Stunden später erwachte die junge Caitiff. Völlig verwirrt und orientierungslos versuchte sie sich in dem Raum in dem sie sich befand zu Recht zu finden. Jenny lag auf einer grünen Pritsche in einem mit roten Klinkern gesäumten Raum. Er hatte eine Schenkellänge von gut sechs mal sechs Metern und war sonst nicht weiter eingerichtet. Alles um sie herum schien sauber zu sein, trotzdem war die Luft erfüllt von einem seltsamen Geruch nach…
Ja, wonach roch es? Alten Fäkalien, gemischt mit einem bunten Potpourri aus Schimmelpilzen und abgestandenen Wasser. Jenny erhob sich von ihrer unbequemen Liege und ging auf die einzige Öffnung des fensterlosen Zimmers zu. Die metallene Tür war unverschlossen, gab aber ein protestierendes Geräusch von sich, als sie von der Kainiten geöffnet wurde.

Jenny betrat einen weiteren Raum. Er war wie eine Art Küche eingerichtet. Bunt zusammengestellt aus den verschiedensten Einrichtungsgegenständen. Teils antik, teils modern, teils improvisiert, in seiner Gesamtheit aber gekonnt eingerichtet. Nicht geschmackvoll, das wäre deutlich übertrieben aber doch ansprechend und in aller erster Linie gemütlich. Schüchtern bewegte sich die Caitiff in den Raum hinein. Ihr Blick fiel auf einen großen Tisch in der Mitte, an dem ein gut aussehender Mann Mitte Vierzig saß und sie freudig willkommen hieß.

„Jenny! Hallo! Schön, dass es dir wieder besser geht. Komm’ her und setz dich zu mir. Wir haben soviel zu besprechen.“

„Wo bin ich?“, entgegnete die junge Vampirin.

„Weit unter der Straßen der Stadt Hamburg natürlich. Dies ist ein alter Luftschutzkeller aus den Kriegsjahren. War mal für die etwas besseren Damen und Herren gedacht und liegt sehr tief. War trotzdem lange verschüttet. Hat die anderen und mich eine gehörige Stange Arbeit gekostet es aufzuspüren und freizulegen.“ Der Mann ließ seine Hand kreisen. „Aber es hat sich wirklich gelohnt wie du siehst!“

„Ja toll! Und wer sind Sie? Was wollen Sie von mir? Was mache ich hier?“

Der Mann lachte. „So viele Fragen und doch hast du die wirklich wichtigen noch gar nicht gestellt. „Aber gut, beginnen wir mit den unwichtigen Dingen. Mein Name ist Cockroach. Wir haben uns gestern Nacht an der Alster getroffen. Du erinnerst dich?“

Jenny nickte angewidert.

„Ich habe dich hierher geholt um Menschenleben zu retten und auch, um dich vor dem sicheren Tod zu bewahren. Nichts ist schlimmer, als ein verwirrter Vampir der mit ordentlichem Hunger durch die Straßen einer Millionenstadt irrt. So etwas erlauben die Bosse nicht. Und ich erlaube nicht, dass die Bosse sich in meine Angelegenheiten mischen. Die gefallenen Kinder, die Namen- und Clanlosen, die Verstoßenen. Sie alle gehören mir und meiner Bewegung.“

„Bewegung? Bist du so ein scheiß Sektenführer oder was? Und was soll das überhaupt heißen, gestern getroffen. Das… Ding das mich gestern heimgesucht hat, war scheiß hässlich. Völlig anders als du!“

„Eine Maske um deinen empfindlichen Magen zu schonen, meine Süße! Wenn es dir besser gefällt, kann ich schnell wieder zu dem Ding werden, wie du es nennst.“

Erschrocken verneinte die junge Frau. Alles, bloß das nicht!

„Gut! Dann können wir ja mit der Ausbildung beginnen…“

Cockroach berichtete Jenny alles was er über das Vampirdasein wusste. Erklärte ihr was es mit der Camarilla auf sich hatte und was er als überzeugter Anarchist davon hielt. Er machte der Caitiff bewusst, dass es niemandem zustand sich auf übertriebene Höflichkeitsformen zu berufen. Erst lange nach seiner Propagandarede (die er mit Inbrunst und tiefster Überzeugung von sich gab…) erklärte er seiner neuen Schülerin die Grundlagen des Kainiten- Daseins. Wo lagen die Gefahren, wie ernährte man sich, welche Regeln gab es zu beachten, welche Gesetze waren vernünftig, welche vollkommener Schwachsinn.
Die theoretische Ausbildung war nicht in dieser Nacht beendet. Coackroach hielt seinen Gast beinahe zwei Monate in dem Bunker gefangen. Er ernährte sie mit frischem Blut das er ihr in schmutzigen Einmachgläsern reichte und lehrte sie Stück für Stück, was es bedeutete ein Anarchistin und vor allem anderen –unbequem- zu sein.

Erst als der Nosferatu überzeugt war, dass seine Schülerin seine Aussagen und Ansichten bis ins letzte Detail verinnerlicht hatte, entließ er sie zurück an die Oberfläche und damit ins wilde Leben der untoten Hamburger Nächte.

Was er nicht bedacht hatte!
Der Camarilla war Jennys Treiben nicht verborgen geblieben. Es hatte Tote gegeben und es wurden Fragen gestellt. Die Untote Führung der Stadt musste sich darum kümmern die Menschen zu beruhigen und mögliche Verdachtsmomente zu zerstreuen. Und damit hatte die Tat der Anarche einen Punkt erreicht den die Camarilla überhaupt nicht ertragen konnte. Sie hatte hinter einer Ausgestoßenen herräumen müssen.

Die Geißel wurde entsandt ein Exempel zu statuieren….
 
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