AW: Wie viel gefühltes Mittelalter steckt in (Eurem) Fantasy Rollenspiel?
Ich kann mit "Mittelalter-Feeling", "Echtem Mittelalter (tm)" oder "gefühltem Mittelalter" überhaupt NICHTS anfangen.
Was sollen denn solche Begriffe bezeichnen? Was MEINT IHR damit KONKRET?
Wenn ich schon von "gothischen", somit zwangsläufig ausgesprochen verqueren und verklärten Eigenschaften lese, dann will das ja nun sowas von überhaupt NICHT passen auf das, was ich mit Mittelalter verbinde.
Historisches Mittelalter ist eine so dermaßen BREITE Epoche, die in sich enorme Entwicklungen, soziale, technische, religiöse, und natürlich auch militärische Umwälzungen enthielt, daß mir eine Frage nach "Mittelalter" einfach ZU BREIT angelegt ist.
Wenn ich hier von HarnMaster lese, das "mittelalterliches" Spielgefühl aufkommen lassen soll, dann frage ich mich schon sogleich: Ja WANN, WO, und WODURCH denn? - Mittelalterlich wie in den christlich missionierten irischen Regionen? Mittelalterlich wie im urbanen Italien des späten Mittelalters? Mittelalterlich wie im China der Tang-Dynastie? - Ja, WAS DENN nun?
Ohne sich auf KONKRETERE ABGRENZUNGEN einzulassen MUSS die Fragestellung ähnlich schwammig beantwortet werden, wie die Frage "Wie 'zukünftig' ist denn Euer Science-Fiction-Rollenspiel?" oder "Wie 'gruselig' ist denn Euer Horror-Rollenspiel?". - Das sind alles Fragen, die schon aufgrund ihrer nahezu BELIEBIGEN SCHWAMMIGKEIT einfach für'n Arsch sind.
Zur Fantasy.
WAS FÜR EINE Fantasy denn?
Fantasy - oder sogar noch breiter: Phantastik - ist ja nun auch ein SEHR BREITES Feld.
Ob Endes Unendliche Geschichte, Lovecrafts Traumlande, Howards Hyperborea, Hartman von Aues Erec, Malorys arthurische England, Holbeins Enwor oder Pratchetts Scheibenwelt - ALLES Fantasy mit "Mittelalter-Feeling".
Genauer: HAT eine phantastische Welt technologische, gesellschaftliche, religiöse ÄHNLICHKEITEN zu irgendeinem Bereich des historischen Mittelalters, dann handelt es sich um ein "mittelalterliche Fantasywelt".
Dies zur Abgrenzung von z.B. antik-römischen Fantasy-Welten wie Alera in Jim Butchers Codex-Alera-Romanen, oder zu renaissance-zeitlichen Fantasy-Welten wie in Ash - A Secret History, oder zu viktorianischen Fantasy-Welten wie Castle Falkensteins "Neuropa".
Fantasy ist SEHR breit.
Mittelalter ist auch SEHR breit.
Beides spannt schon einmal eine RIESIGE "Fläche" auf, in welcher man Rollenspiel-Settings finden kann.
Das dann noch mit einer dritten Dimension, der INTENSITÄT der Ausprägung bestimmter Mittelalter-Versatzstücke (z.B. Feudalsystem, Drei-Felder-Wirtschaft, Ablaßhandel, fränkisches Erbrecht, Christianisierung, ...) und der Ausprägung bestimmter Fantasy-Versatzstücke (Magie, Monster, nachweisliche Existenz von Göttern, Fremdrassen aus (nicht-christlicher) Mythologie oder gar jenseits jeglichen mythologischen Bezugs, ...) versehen, ergibt sich hier ein AUSGEDEHNTER RAUM, in welchem man für extrem magiehaltige Spielwelten mit auf Erden wandelnden Göttern, aber eben gleichzeitig mit Bischöfen in an europäisch-christlich-mittelalterlichen Kirchen orientierten Religionsgemeinschaften wie z.B. Glorantha einen Punkt im Raum findet, wie auch für einen romantisch verklärten Sherwood Forest mit Robin Hood und seinen fröhlichen Gesellen.
Glorantha ist (unter anderem auch) mittelalterliche Fantasy (insbesondere im Westen, bei den Malkioni-Kirchen). Sherwood ist natürlich ganz klar mittelalterliche Fantasy - mit dem GUTEN König Richard und dem BÖSEN Prinzen John und dem TREUEN und GERECHTEN Robin.
Aber hat eine der beiden Spielwelten, Glorantha oder Sherwood, WIRKLICH irgendwas mit HISTORISCHEM Mittelalter am Hut?
NEIN!
Und zwar BEIDE nicht!
Robin Hood ist eine dermaßen übersteigerte, verklärte Legende, die sich in unterschiedlicher Intensität mancher historischer Fakten - ganz nach Belieben dessen, der diese Legende gerade erzählt! - bedient, aber keinerlei Interesse an einer irgendwie gearteten "Genauigkeit" der Wiedergabe der Historie hat, sondern nur eine spannende Geschichte durch das Historische darin mit mehr Glaubwürdigkeit und "Name Dropping" bekannter historischer Persönlichkeiten anreichern möchte.
Ob ein NO-Magic, un-cinematischer, ernster Robin Hood, oder ein technicolor-bunter Kinofilm-Robin oder ein heidnisch-mystisch-magisch angereicherter Robin of Sherwood (aus der TV-Serie) ist hierbei egal: Es ist ALLES eine Robin-Hood-Adaption. Und ALLES mittelalterlich. Und ALLES Fantasy/Phantastik.
Der für die meisten Fantasy-Rollenspiele treffendste Begriff ist der des "Fäntelalters".
Rollenspiel-Entwickler werden mit ihrem Rollenspiel KEINE Dissertation zu einem intensivst recherchierten, engen Gebiet der Mediävistik erstellen. - Sie KLAUBEN ZUSAMMEN, was sie auch immer an Mittelalter-KULISSEN brauchen, um die von ihnen gewollte Art von Abenteuern, Geschichten, Gefühlswelten passend in Szene zu setzen.
Und hier kommen dann die außerordentlich uninformierten und naiven Ansichten her, daß Mittelalter "schmutzig" ist, daß "die Leute ja nur 40 Jahre alt wurden", daß es eine "graue, dunkele, freudlose Zeit" war, usw. - Das ist so BESCHEUERT, daß mich beim Lesen solchen Unfugs schon der Ärger überkommt.
Unsere nicht einmal so arg weit in der Geschichte zurückliegenden Ahnen waren GENAUSO SCHLAU wie Ihr hier und heute! - Nur die Kenntnisbereiche waren andere, aber die Findigkeit, wie mit dem Bekannten umgegangen wurde, war genauso GENIAL wie heute!
Man schaue sich mal Baumethodiken über verschiedene Regionen und über die gesamte Breite des Mittelalters an. Wie ausgesprochen INTELLIGENT mit den Materialien und dem Wissen der Beteiligten verfahren wurde, ist auch heute noch beeindruckend.
Metallurgie. Es ist für einen Fechter einfach ATEMBERAUBEND, wenn man sich mal Originale mittelalterlicher Metallbearbeitung anschaut. Was damals OHNE HOCHÖFEN und OHNE moderne Walzstraßen usw. produziert wurde, ist qualitativ so verdammt gut, daß sich diejenigen, die hier ein verdrecktes, karikiertes Jabberwocky-Mittelalter als "typisch mittelalterlich" postulieren eigentlich SCHÄMEN SOLLTEN!
Nahrungsmittelerzeugung, -verarbeitung, -haltbarmachung. In Zeiten vor Kühlschränken und Gefriertruhen. - Auf was unsere Vorfahren da gekommen sind, ist einfach HIGH-TECH-Food-Processing.
Die Frage ist natürlich immer: Ist so etwas für die zu spielenden Geschichen WICHTIG?
In Glorantha ist es z.B. SEHR wichtig, wie dort die Felderbewirtschaftung erfolgt, da man "zivilisierte" Kriege, d.h. Kriege innerhalb des eigenen Kulturkreises nur so führt, daß man nicht die Nahrungsproduktion stört und dann eine Hungersnot einfährt, die mehr zerstört als die Kriegshandlungen selbst. - Und nur aufgrund dieser kulturellen, an mittelalterlichen Wirtschaftsarten orientierten Setting-Elementen ist es so klar nachzuvollziehen, warum Reiternomaden ohne Felderbewirtschaftung auch zu Aussaat- und Ernte-Zeiten ihre Kriegszüge veranstalten können, und wieso das dann für die seßhaften Völker so existenzbedrohend ist, wenn sie mit zerstörter Ernte vor einem Hungerwinter sitzen gelassen werden. - Bei Glorantha ist all dies aber NICHT als "historisch recherchierte Fakten-Zelebration", sondern als SAFTIGE ABENTEUER-Grundlage umgesetzt.
Denn letztlich geht es beim Rollenspielen NICHT um eine historisch akkurate Simulation, die ja unverhältnismäßig intensive Recherche und wissenschaftliche Begleitung erforderte, sondern es geht um UNTERHALTUNG durch SPIELEN. - Historisch akkurate experimentelle Archäologie betreibt man NICHT mittels Pen&Paper-Rollenspiel.
Wenn man mal sieht, wie schnell jemand das Adjektiv "mittelalterlich" an irgendwas Rollenspieliges dranpappt, dann ist das genauso "viel" wert wie "darque" oder "dyster" oder "Horror-" oder "realistisch" irgendwo dranzupappen, wo ROLLENSPIEL drin steckt.
In diesem Sinne ist die Frage nach "Wieviel 'gefühltes' Mittelalter steckt in Eurem Fantasy-Rollenspiel" ganz eindeutig zu beantworten:
HELD + Schwert = Mittelalter.
Das ist genauso korrekt wie:
Alle siechen dahin + Leute sterben mit Anfang 40 + Dreck überall = Mittelalter.
Und das stimmt genauso wie:
Kirche ist Böse, Adelige sind Böse, Waffenführende sind sadistische Schlächter, normale Bevölkerung sind ungebildete, ungewaschene Nichtskönner = Mittelalter.
Und das ist so korrekt wie die nachfolgende mittelalterliche Darstellung:
Nû riten si vil drâte,
wan er gelobet hâte
ze komenne an dem selben tage.
nâch der küneginne sage
westen die guoten knehte
alle vil rehte
die zît wenne er solde komen:
ouch hâten siz vernomen
von dem ritter der dâ kam,
an dem er den sige nam.
diu ros wâren in bereit.
dô genôz er sîner vrümekeit.
mit dem künege Artûse
riten von dem hûse
Gâwein und Persevâus
und ein herre genant alsus,
der künec Iels von Gâlôes,
und Estorz fil roi Ares,
Lucâns der schenke schein in der schar,
dar zuo diu massenîe gar,
daz sin emphiengen alle
mit ritterlîchem schalle,
geselleclîchen unde wol,
als man lieben vriunt sol
der verlorner vunden ist.
gegen im was zer selben vrist
über den hof gegangen,
daz er würde emphangen,
mîn vrouwe diu künegîn.
si hiez in willekomen sîn:
sîner âventiure was si vrô.
vrouwen Ênîten nam si dô,
si sprach: «vrou maget wol getân,
dirre kleider sult ir wandel hân.»
nû vuorte si diu rîche
in ir heimlîche.
dâ was ir ein bat bereit,
und wart nâch ir arbeit
gebadet vaste schône.
diu vrouwe mit der krône,
ir lieben gast si kleite:
wan dâ was bereite
vil rîchez gewant.
si nâte selbe mit ir hant
in ein hemde daz magedîn:
daz was wîz sîdîn.
daz hemde si bedahte,
daz manz loben mahte,
mit einem rocke wol gesniten
nâch kerlingischen siten,
weder zenge noch ze wît:
der was ein grüener samît
mit spannebreiter lîste,
dâ si si in brîste,
mit gespunnem golde
beidenthalp sô man solde,
von ietweder hende
an der sîten ende.
ouch wart vrouwen Ênîten
gegurt umbe ir sîten
ein rieme von Îberne:
den tragent die vrouwen gerne.
vür ir brust wart geleit
ein haftel wol hande breit,
daz was ein gelpher rubîn:
doch überwant im sînen schîn
diu maget vil begarwe
mit ir liehten varwe.
der roc was bevangen,
mit einem mantel behangen
der im ze mâze mohte sîn,
daz geville hermîn,
daz dach ein rîcher sigelât.
disiu küneclîche wât
was gezobelt ûf die hant.
ein borte ir hâr zesamene bant:
der was ze mâze breit,
kriuzwîs überz houbet geleit.
sô guot was des schapels schîn,
ez enmohte borte bezzer sîn.
ir kleit was rîch, si selbe guot.
Das ist "mittelalterliche Opulenz" aus einer tatsächlichen historischen Dichtung (Erec). Und worum geht es in dieser Dichtung?
HELDEN + Schwerter = Mittelalter.
Und das galt schon im Mittelalter. - Dann soll es für mich auch heute noch genügen.