Sweet Kiss

Lou

reality bites. get an axe
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26. Juni 2004
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Sweet Kiss

Es ist Sonntag Nacht. Genauer gesagt 01:04. Ich hetze von Bahnsteig 4 Richtung Bahnsteig 7. Mein Regionalexpress hat Verspätung. Man sagte mir, der andere würde warten, aber andererseits ist das der letzte Anschlusszug bis 5 Uhr morgens... ich muss gestehen, ich würde ihn ungern verpassen.

Geschafft, überraschend reibungslos sitze ich nun auf einen bequemen Platz. Es ist ein alter InterRegio-Wagen, der eine neue Heimat als RegionalExpress-Wagen gefunden hat. So einer, der halb Großraum, halb Abteil eingeteilt ist. Schon lange saß ich nicht mehr in einem Abteil und muss gestehen, die Aussicht die nächsten 2 Stunden ein Abteil ganz für mich alleine zu haben erfüllt mich mit entzücken, vor allem spät nachts, übermüdet und eine generelle Angepisstheit auskostend, deren Grundlosigkeit schon das halbe Vergnügen darstellt.

Ich mache es meinem Mantel bequem und hänge mich auf, ziehe die Armlehnen auf einer Seite aus und die klappe meine Schuhe hoch - oder war es anders? - egal, mir ist das völlig egal, Hauptsache ich kann mich hinfletzen und bin bald zu Hause und nicht mehr der hohnvollen Gnade und Willkür der DB ausgeliefert.
Langsam setzt sich der Zug in Bewegung, da schiebt sich plötzlich eine Reisetasche durch die Tür, dicht gefolgt von einem Lächeln und der Frau, der beides gehört.
'Guten Tag, ist hier noch frei?'
'Ähh, ja', erwidere ich galant.

Sie ist schon ewig unterwegs, kommt heute von einer Hochzeit in München, muss noch bis nach Aachen, hat eine Verwandte in Köln, bei der sie heute Nacht Zwischenhalt machen wird, da es heute nicht mehr machbar ist, mit ihrem Studium so gut wie fertig. bietet mir etwas von ihrer Cola Light an, ich lehne ab. Wie liegen gegenüber, ich auf drei Sitzen, sie auf Zweien.
Wir teilen ein Abteil und eine nette Unterhaltung. Nun biete ich ihr etwas von meiner Notverpflegung an: Kekse, das Gegenstück für lange Zugfahrten, zu Malariatabletten bei Tropenreisen.
Sie lehnt ab.

Wir schlafen - Schrägstrich - dösen, befürchten beide zu verschlafen, ich stelle mir einen Notwecker, sie muss vor mir raus, soll ich meinen Wecker für sie stellen, das ist nicht nötig, sie hat einen eigenen.
Mit einem Gähnen, Scherz und einem Lächeln legen wir uns wieder hin.

Ich wache auf. Bin alleine. Ein Blick aus dem Fenster: Wir stehen am Kölner Hbf. am Fenster ziehen die eben ausgestiegenden Menschen vorbei. Ich sehe sie, klopfe an die Scheibe, winke. Sie dreht sich um, winkt, legt dabei leicht ihren kopf schief, wie sie es bei jeden Lächeln tat, wird von anderen Leuten verdeckt, taucht noch mal kurz auf, schaut nicht mehr in meine Richtung und ist dann ganz verschwunden.

Die Cola hat sie vergessen, nein eher nicht mitnehmen wollen. Ein kleiner Rest ist noch drin. Meine Hände umschließen sie, langsam drehe ich den Deckel ab, lege ihn mit einem leisen Klacken mit den Rücken nach unten auf den ausgeklappten Beistelltisch, behalte das Stück ausgefranste Plastik von der Versiegelung zwischen Daumen und Zeigefinger, fahre langsam mit den Fingern über das Plastik, setze die Flasche an meine Lippen, umschließe den unteren Teil der Öffnung mit meinem Lippen, kippe leicht die Flasche, die Flüssigkeit rinnt zu meinen Lippen, benetzt sie, passiert sie und weiter meine Kehle hinunter. Der Geschmack ist süß, die Flüssigkeit klebrig und im Grunde schmeckt es furchtbar künstlich.

Ich setze die Flache ab, höre wie sie sich noch zehn Sekunden um ich selber drehend, wippend bewegt. Dann steht sie still. Für den Rest der Reise schlafe ich nicht mehr, schaue die Flasche aber auch nicht mehr an.




© 2004 H e n d r i k F r e s e
 
Tja wir haben uns ja schon auf Icq drüber unterhalten, aber das bedeutet ja nicht dass ichs hier nicht nochmal schreiben könnte.

Also wenn ich die Aussage in zwei Worte fassen müsse, würde ich "Süße Erinnerung" nehmen.
Es ließt sich wie eine Abfolge von Momenten die sich nur durch die Tatsache dass sie schweben, von allen anderen abheben..Und das obwohl sie eigentlich unwichtig und unwiederbringlich sind..
Oder so interpretiere ich es.

Ausserdem gefallen mir zwei Sätze sehr gut:

Mit einem Gähnen, Scherz und einem Lächeln legen wir uns wieder hin.

dicht gefolgt von einem Lächeln und der Frau, der beides gehört.


Was bleibt, ist ein Lächeln

Marina
 
*wow*

ich fühle mich so klein hier im Forum, wenn ich solche Texte lese... verdammt gut... so schmerzhaft schön und lieblich plastisch... ich fühle mit dem Erzähler....
 
erstmal etwas allgemeineres:
es gefällt mir, wie es dir gelingt, dadurch den satzbau oder bilder zu verändern bzw zu durchbrechen, mit wenigen worten sowohl viel an intensität als auch an inhalt zu vermitteln. das ist mir schon an mehreren deiner texte positiv aufgefallen;)

der vorletzte absatz macht auf mich den intesivsten eindruck, alles davor scheint mehr nur einleitung dazu zu sein. die simple handlung, den rest cola auszutrinken, wird bedeutungsvoll, voller sehnsucht, ohne bedauern und zugleich der kuss den du ihr nicht gegeben hast.
... und im Grunde schmeckt es furchtbar künstlich.
weil eben "nur" von der vorstellung gezeichnet, von der erinnerung an etwas nicht geschehenes (was wunderbar dazu passt wie cola schmeckt..... nur so nebenbei...).

ein sehr lebendiges bild, das als wertvolle erinnerung bleibt, obwohl das erlebte abgschlossen ist.

schön.
 
wow... also dieser text...

sicherlich, er ist schön geschrieben, aber ich find ihn ein wenig unheimlich... sagen wirs mal so, mir ist sowas in der art auch schonmal passiert und deswegen macht der text grade nen ziemlichen eindruck auf mich.

auf jeden fall sein karma wert... vor allem das austrinken des cola- rests 'schauder'
 
Vielen Dank für euren Zuspruch, sowas motiviert ungemein. Was mich aber noch interessiert, was ihr daran auszusetzen habt.
Wie ist es zum Beispiel mit dem Satzbau? Verständlich genug?
Mich persönlich stört der letzte Satz. Er kommt mir nicht ganz richtig vor, als würde er irgendwie nicht passen (Nicht von der Aussage her, sondern von der Umsetzung). Euer Eindruck?

Ach ja: Die Zugfahrt und die Cola-Flasche sind reale Ereignisse, die Gefühle dabei fügte ich aus anderen Erfahrungen hinzu.
 
was mir aufgefallen ist ist dass du so nen markanten satzteil wie 'ich muss gestehen' in zwei recht nah beieinanderliegenden sätzen verwendet hast... ich weiß aber nicht ob das beabsichtigt war ^^
 
Würde ich den Text benennen müssen würde ich ihn glaub ich "süss" nennen. Mir gefällt die Stimmung und stimmt einen nachdenklich.

Schöner Text
 
@lou:
Also wenn das schlechter Stil war, dann aber auch nur minimal... mir gefällt der Text nach wie vor unheimlich gut! :)
 
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