Rezension Struwwelpeter - Die Rückkehr [B!-Rezi]

Little Indian #5

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Struwwelpeter - Die Rückkehr (I)


[B!-Rezi]


Selten hat mich ein Warn- oder Werbehinweis so angesprochen wie der auf dem Cover von Struwwelpeter – Die Rückkehr:
"Warnung! 100% Schmutz und Schund!"
Das klingt schon einmal viel versprechend.
Leider (oder zum Glück?) kann das Buch diese Zusage dann doch nicht ganz einhalten.

Aber zunächst einmal zur Geschichte:

Vor einigen Jahren veröffentlichte ein Mann namens Nikolaus ein Buch, in dem er die Taten der schlimmsten – allesamt jugendlichen – Störenfriede anprangerte. Das Buch zeigte insbesondere, dass diejenigen, die sich durch ihr Verhalten gegen die Weisungen ihrer Eltern oder anderer Autoritäten auflehnen, hierfür stets zur Rechenschaft gezogen und hart bestraft werden. Interessanterweise enthielt "Das große Buch der Störenfriede" keine fiktiven Geschichten, sondern basierte auf echten Personen. Bekannt wurde es allerdings unter dem Namen des schlimmsten Störenfriedes, der Nummer Eins der Unruhestifter, dem die erste Geschichte des Buches gewidmet war: Struwwelpeter.
Nikolaus führte öffentlich drastische Sanktionen gegen die im Buch genannten Störenfriede durch. Es gelang ihm, die Macht im Staate zu erringen und ein totalitäres Regime zu errichten, in dem die Pflicht zu tugendhaftem Handeln oberstes Gebot ist. Dass die Menschen nunmehr gezwungen sind, ihre Emotionen zu unterdrücken, führt mittlerweile dazu, dass viele von ihnen einfach in ein Koma fallen, aus dem sie nicht mehr erwachen.

Als Struwwelpeter, der mehrere Jahre im Ausland verbracht hat, in seine Heimat zurückkehrt, wird er mit den veränderten Verhältnissen konfrontiert: Die Kinder sind mittlerweile so eingeschüchtert, dass sie sich nicht einmal mehr trauen, die Spielgeräte auf den Spielplätzen zu benutzen. Das kann ein durch und durch auf Spaß und humorvolle Anarchie bedachter Freigeist wie Struwwelpeter natürlich nicht durchgehen lassen und sofort fängt er an, das zu tun, was er am Besten kann: Streiche zu spielen und Unruhe zu stiften.

Dies ruft natürlich die Obrigkeit auf den Plan. Staatschef Nikolaus hatte schon lange darauf gewartet, Struwwelpeter, den Staatsfeind Nummer Eines, dingfest zu machen. Und so findet sich dieser kurzerhand in einem Hochsicherheitsgefängnis wieder. Glücklicherweise werden er und das pyromanisch veranlagte Paulinchen kurz darauf von Hans-Guck-In-Die-Luft, einem anderen Störenfried aus dem Buch, der mittlerweile Anführer einer Rebellen-Untergrundbewegung ist, befreit. Zusammen versuchen sie, die anderen Störenfriede zusammenzubringen, um in einer gemeinsamen Aktion Nikolaus zu stürzen. Als dieser sämtlichen Bürgern einen Kontrollchip einpflanzen will, der Störenfried-Impulse in Übelkeit umwandelt, wird die Zeit für die bunte Schar der Rebellen jedoch knapp…

David Füleki greift in seinem Manga die klassischen Figuren aus dem Buch "Struwwelpeter" von Heinrich Hoffmann auf, versetzt sie in eine moderne Manga-Welt und schlägt so eine Brücke zwischen den "Kinderbüchern" des neunzehnten und einundzwanzigsten Jahrhunderts.

In seinen ursprünglichen Geschichten schildert Hoffman wie Kindern, die unartig sind, ein grausames Schicksal widerfährt. Das war zwar damals vom Verfasser nicht ganz ernst gemeint und sollte seinem Sohn, für den er dieses Buch schrieb, eher zur Unterhaltung dienen denn als Leitfaden für korrektes Benehmen. Füleki jedoch versucht die Frage zu beantworten, was passiert wäre, wenn die Geschichten wirklich ernst gemeint gewesen wären und tatsächlich als Warnung für Kinder dienen sollten. Dazu greift er die Figur des Nikolaus auf, der auch im Originaltext auftaucht und in der Geschichte von den schwarzen Buben die rassistischen Spötter in schwarze Tinte taucht. Aus dem Buch selbst wird ein allgemeingültiger Moralkodex, der letztlich zu einer Gesellschaft führt, in der ausschließlich Anpassung und Gehorsam zählen und deren emotionale Kälte letztlich zum Tode (bzw. Koma) der Menschen führt.

Die einzelnen Figuren adaptiert Füleki dabei in witziger Weise, bringt sie mit den Eigenheiten der heutigen Zeit in Einklang, ohne ihrem ursprünglichen Inhalt untreu zu werden: Paulinchen, das Mädchen, das so gerne mit dem Feuer spielt, wird zu einer waschechten Pyromanin und die stets "Miau Mio" rufenden Katzen dieser Geschichte zu ihren Wahnvorstellungen. Der fliegende Robert ist mittlerweile vom Schirm auf ein Flugzeug umgestiegen und der Zappelphilipp hat das Koffein für sich entdeckt, was ihn nicht gerade beruhigt hat. Am interessantesten ist aber die Wandlung des Suppenkaspars, der festgestellt hat, dass es neben Suppe (die er bekanntlich nicht mag) auch noch andere Dinge gibt, die man essen kann und dementsprechend so fett geworden ist, dass er wie eine Mischung aus einem Sumo-Ringer und dem Marshmallow-Mann aus "Ghostbusters" wirkt.

Auch die Idee, dass es sich bei dem "Struwwelpeter"-Buch letztlich um eine "Most Wanted"-Liste handelt und die Störenfriede je gefährlicher und gesuchter sind je weiter vorne ihre Geschichte in diesem Buch steht, ist sehr clever (und führt zu einigen Eifersüchteleien).

Der Versuch, stilistisch an das Original-Werk anzuknüpfen, indem die Off-Texte des Mangas in Reimform wiedergegeben werden, ist jedoch nur bedingt geglückt. Sind die Reime teilweise noch ganz witzig ("Von Lübeck weiter bis nach Laos / säte er das größte Chaos"), wirken sie manchmal doch etwas erzwungen ("Vor des Nikolaus Prachtgebäude / sammelt sich die Lausbub-Meute").

Grafisch muss sich Füleki hinter professionellen japanischen Mangas nicht verstecken. Zwar beschränkt er sich auf reine Schwarz-weiß-Zeichnungen ohne nennenswerte Schattierungen. Dafür sind diese aber detailreich und vor allem die Original-Figuren meist sehr gut eingefangen. Auch gibt es viele witzige Details zu entdecken wie das Logo auf Zappelphilipps Jogginganzug, Suppenkaspars mit Hühnerbeinen gefüllten Munitionsgürtel oder die Speisekarte des Coffee-Shops auf S. 94.

Leider ist die Geschichte um die mit besonderen Fähigkeiten ausgestatteten Rebellen, die sich gegen einen Unterdrückungsstaat auflehnen nicht besonders originell und sie endet mit einer in Mangas so beliebten riesigen Prügelei, in der auch reichlich "special moves" zum Einsatz kommen. Hier werden sich auch Videospieler gleich zuhause fühlen. Andererseits kann es natürlich auch sein, dass Füleki hier seine Hommage nicht mehr auf das "Struwwelpeter"-Buch beschränken, sondern auf die japanophile Manga-Kultur der Gegenwart ausweiten will. Mein Gott, ein Manga, der tatsächlich Raum für Interpretation lässt – wer hätte das gedacht?

David Füleki beweist, dass hierzulande nicht nur ganz exzellente Mangas produziert werden können, die die Nachteile vieler japanischer Produktionen (künstliche Dehnung, stereotype Charaktere) vermeiden. Und er zeigt ganz deutlich, dass deutsche Autoren sehr gut damit beraten sind, nicht einfach nur japanische Verhältnisse und Eigenheiten in ihren Geschichten zu kopieren, sondern sich hier auf ihre eigenen Lebensumstände und ihr kulturelles Erbe zu besinnen. So schafft er eine Story, die trotz aller fernöstlichen Einflüsse fest in der hiesigen Geschichte und Mentalität verwurzelt ist. Und weil das Ganze dabei auch noch rasant erzählt, witzig und drollig gezeichnet ist, kommen Leser aller Altersklassen hier voll auf Ihre Kosten.
Bleibt zu hoffen, dass Füleki bald auch weitere deutsche Kinderbuch-Klassiker als Manga umsetzt. Ich jedenfalls warte schon auf "Max und Moritz Reloaded" und "Die Häschenschule – Die Klasse von 2010".

Nutzen für Rollenspieler: Gering
Der Kampf einiger Auserwählter gegen eine übermächtige Staatsgewalt ist zwar nicht erst seit "Star Wars" zentrales Element vieler Rollenspiel-Settings. Dennoch sind die Verhältnisse von Struwwelpeter – Die Rückkehr so speziell, dass es sehr schwer sein dürfte, diese als Rollenspiel umzusetzen. Insbesondere sind die zentralen Figuren und Rollen bereits sehr konkret vorgegeben, sodass für die Einbeziehung weiterer zentraler Charaktere kaum Raum bleibt. Das heißt, Spieler wären entweder auf die im Manga vorgestellten Charaktere beschränkt oder müssten einfache Angehörige der Störenfried-Untergrundbewegung darstellen.
Die manga-typisch dezent übertriebenen Kampfaktionen könnten in einem entsprechend angelegten Spiel allerdings durchaus spaßig sein und lassen sich sicher mit einem passenden System (mir fallen da spontan Feng Shui, Savage Worlds oder das Cinematic Unisystem ein) gut umsetzen.Den Artikel im Blog lesen
 
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