AW: Retro-Systemvorstellungen
Ich hänge mich mal an und stelle meine ganz persönliche Rezension der S&W White Box Edition hier rein:
Ich liebe dich (mit kleinen Einschränkungen): S&W White Box. Rettungswurf gegen Komplexität
Ich liebe dich (mit kleinen Einschränkungen): S&W White Box.
Als Retro-Klon der Little Brown Books ist Swords&Wizardry White Box nicht gerade ein Spiel, das sich durch umfangreiche Regeln auszeichnet. Was in Anbetracht des Quellenmaterials natürlich zu erwarten war, dennoch aber bei vielen Rollenspielern für Missmut sorgt.
Meine Vorlieben haben sich nach eingehender Beschäftigung mit dem Original (OD&D, Little Brown Books) mittlerweile verschoben: von SwordsWizardry Core zu S&W White Box. Ich bin selbst erstaunt über diese Veränderung, denn normalerweise begrüße ich Optionsvielfalt. Beim Retro-Spiel scheint dies anders zu sein.
Im Folgenden versuche ich, das Wildwasser meiner Gedanken in gerade Bahnen zu lenken.
Warum ausgerechnet White Box?
Die Charaktererschaffung: STR-INT-WIS-CON-DEX-CHA, ganz wie es sich gehört.
Retro-Rollenspiel bedeutet nicht nur einen ganz bestimmten, oftmals taktischen Angang an offene Problemstellungen, sondern auch eine charakteristische, altehrwürdige Ritualisierung bestimmter Entwickungsschritte. Beispielsweise die Erschaffung eines Charakters. Die White Box-Regeln behalten, und bereits das ist für die Traditionalisten ein Pluspunkt, beim Auswürfeln die alte Reihenfolge der Attribute bei: Strength, Intelligence, Wisdom, Constitution, Dexterity, Charisma.
Gewürfelt wird mit 3W6, einfach addieren und aufschreiben. Danach geht’s zur Ermittlung der Boni. Hier wartet der erste ernsthafte Schreck für mich: Nur Werte über 14 sind bonus-würdig, während Attribute unter 7 einen Abzug zur Folge haben. Der Bonus ist +1, und der Malus ist -1. Es gibt keinerlei Abstufung bei den Boni oder Mali, wie ich es etwa aus der Rules Cyclopedia oder von Lab Lord kenne. Außerdem: Diese Boni sind sehr oft optional, also Ergänzungen zum Regelkern.
Spielt man White Box ohne diese vorgeschlagenen Hausregeln, werden Boni zu Geschöpfen großer Seltenheit. Doch mein Schreck weicht allmählich der angenehmen Erkenntnis, dass in diesem Mechanismus die Urzeit unseres großartigen Hobbys vor mir liegt. Die White Box-Regeln machen wie ihr Vorbild LBB im Kampf keinen Unterschied zwischen einem Kämpfer mit beispielsweise Strength 15 und einem mit Strength 10. Aus meiner mittlerweile 25-jährigen Erfahrung in Kampfsport und Selbstverteidigung heraus kann ich, nach ersten Abwehrreaktionen, diese ungewohnte Regelung für den Waffenkampf gut verstehen.
Ein Fausthieb richtet Schaden an, wenn er trifft, egal, wer schlägt. Die Kunst liegt eher darin, zu treffen. Dennoch, mein Simulationistenherz rebelliert: Macht ein geübter Kämpfer nicht mehr Schaden als ein Laie? Eine eher philosophische Frage, deren Beantwortung so unterschiedlich ausfallen wird wie die Vorlieben des Betrachters. Meine Meinung ist, dass geübte Kämpfer öfter und gezielter Techniken einsetzen können; die Wirkung dahinter muss nicht unbedingt stärker sein als bei einem Laien.
Bei Bonus-Knappheit wird jedes +1 zum kostbaren Gut.
Doch zurück zu den Attributen und den daraus resultierenden Zuschlägen. Spielt man White Box ohne optionale Regeln, wird schnell klar, dass magische Gegenstände, die Boni verleihen, einen echten, greifbaren Machtzuwachs bedeuten. Ein Schwert +1 etwa erhöht die Trefferchancen im Kampf um fünf Prozent — und entscheidet in einem derart bonusarmen System eventuell über Leben und Tod.
Diese Regelung ist unerbittlich. Ich kann aus Sicht der “Realisten” gut verstehen, dass bereits in den Supplements (Greyhawk, Blackmoor, Eldritch Wizardry, Gods/Demigods&Heroes) mit Boni weitaus großzügiger umgegangen wurde. Dass sich diese Bonuswelle bei AD&D später dann zu einer regelrechten Flut ausweitete, ist ein anderes Thema.
“Gibt es denn gar keinen Unterschied zwischen hohen und niedrigen Attributwerten?”,
schreie ich kopfschüttelnd. Doch, gibt es. Charisma und Weisheit (und Kraft beim Kämpfer oder Intelligenz beim Zaubernden) wirken sich positiv auf die Anzahl der Erfahrungspunkte aus — wenn ihre Werte mindestens 15 oder höher sind. Im günstigsten Fall bekommt ein Spieler so 15 Prozent zusätzliche Erfahrungspunkte. Und genau hier liegt im ersten Rollenspiel der Unterschied zwischen einem Kämpfer mit Stärke 10 und einem mit Stärke 15 — der Stärkere der beiden wird schneller aufsteigen.
Wo sind die Titel geblieben?
Doch eine Beanstandung habe ich zu machen: White Box (und auch S&W Core) verwenden keine Stufentitel mehr. Ich vermisse solche Goldstücke wie den “Veteran” (Stufe 1-Kämpfer), den “Seher” (Stufe 2-Zaubernder) und den “Dorfpriester” (Stufe 3-Kleriker). Es mag urheberrechtliche Gründe gehabt haben, warum ein so wichtiges Element nicht mit aufgenommen wurde, aber es hätte dem Spiel gut getan, ähnliche Titel einzuführen.
Und wohin ging der Rettungswurf?
Und noch eine Änderung im Vergleich zum Original löst Stirnrunzeln bei mir aus: Die Saving Throws gegen “Todesstrahlen oder Gift”, “Alle Zauberstäbe — inklusive Polymorph oder Lähmung”, “Stein”, “Drachenodem” und “Stäbe und Zaubersprüche” sind einer einzigen Zahl gewichen. Dies mag eventuell, obwohl ich es bezweifle, zu einem noch schnelleren Spiel führen, aber leider auf Kosten der Stimmung. Zwar sind in den Klassen- und Rassenbeschreibungen verschiedene Boni auf den Rettungswurf aufgeführt, aber die Magie der Old School ist hier definitiv nicht eingefangen worden.
Rassen sind Klassen.
Um es vorweg zu nehmen: Es gibt keinen Dieb. Und das aus gutem Grund, denn die Fertigkeiten des Diebs, wie wir ihn etwa aus AD&D oder späteren D&D-Editionen kennen, hebeln teilweise die Kreativität der Spieler aus; wenn ein Würfelwurf genügt, um Fallen zu entdecken, ist ein für Old School wichtiges Element der Taktik und des Mitdenkens verloren gegangen — auch wenn die prozentuelle Erfolgschance für Diebe in den ersten paar Stufen minimal ist.
White Box folgt auch hier den LBB und bietet den Kleriker (eine Fantasy-Version des Monsterjägers), den Kämpfer (oder, original, “fighting-man”) und den Zaubernden an (ja, “Zaubernder”, also “magic-user”, nicht Zauberer). Jede Klasse hat unterschiedlich schnelle Entwicklungsgeschwindigkeiten, so erreicht beispielsweise der Kleriker am schnellsten die zweite Stufe, der Kämpfer ist der Zweitplatzierte, und der Zaubernde nimmt den dritten Platz ein. Alle anderen Charakterklassen können, typisch für die LBBs, entweder von den bestehenden abgeleitet oder eben selbst von der Spielergruppe entworfen werfen.
Die White Box folgt auch bei den Charakterrassen dem Vorbild und bietet Elfen, Zwerge und Hobbits (hier allerdings schon “Halblinge” genannt) zur Auswahl an — als Klassen. Elfen können zwischen der Kämpfer-Klasse und der Zaubernden-Klasse hin- und herwechseln, während Zwerge und Halblinge automatisch als “fighting-men” geführt werden. Natürlich bemängeln einige Regeldesigner (wie etwa der von mir hochgeschätzte Jon Tweet), dass die unterschiedlichen Erfahrungspunkte-Anforderungen unbalanciert seien, dass, ganz generell, OD&D oder eben White Box oder S&W Core keine Spielbalance böten. Das stimmt. Doch auch hier zählt für mich das Credo der Old School: “Arbeite mit dem, was du hast!”
Das ist beim Überwinden eines fallengespickten Korridors nicht anders als beim Spielen eines Charakters, dessen Attribute oder Klasse im Vergleich zu einem anderen Charakter benachteiligt sind. Old School ist in diesem Sinne durchaus vergleichbar mit dem wirklichen Leben: Die Würfel sind gefallen, und wir können entweder lamentieren und das ungerechte Schicksal beklagen, oder wir machen uns daran, das Beste daraus zu stricken. Ich bin mir sicher, dass spätestens hier viele potentielle Spieler und Spielleiter kopfschüttelnd die White Box wieder zuklappen. Aber Old School kann ungerecht sein, genau wie das Leben. Umso größer ist die Zufriedenheit, wenn man einen Charakter trotz widriger Umstände zu neuen Höhen geführt hat.
Der Kampf
White Box bietet zwei Rüstungsklassen-Systeme an: zum einen das traditionelle “Armor Class”-System, bei dem eine Rüstung umso effektiver ist, je kleiner ihre Zahl ist, und zum anderen das (meines Erachtens genial einfache, wenn auch definitiv nicht old schoolige) “Ascending Armor Class” (AAC)-System, bei dem gilt: je höher die Rüstungszahl, desto besser die Rüstung.
Hier bin ich, trotz meiner fundamentalistischen Rollenspielansichten, ganz bei den modernen AAC-Regeln. Einfach die Rüstungsklasse zu 10 addieren, das Ergebnis ist die Zahl, die der Gegner mindestens mit 1W20 würfeln muss. Pro Stufe gibt’s einen Bonus auf diesen Wurf, und Ungeheuer addieren einfach die Anzahl ihrer Hit Dice zum Wurf. Das alles geht sehr schnell, es gibt keinen Paradewurf wie etwa in DSA. In der Rüstungsklasse sind also die Verteidigung und der Rüstungsschutz zusammengefaßt. Für DSA-Verhältnisse revolutionär, aber so wurde es seit Erfindung des Rollenspiels gehandhabt (allerdings: Chainmal, das Miniaturen-Kampfsystem, das von vielen frühen D&D-Gruppen anstatt der oben beschriebenen “alternativen” Regeln eingesetzt wurde, kannte eine Paradeprobe).
Ein Schwert macht 1W6 Schaden. Ein Dolch auch?Doch wieviel Schaden richtet beispielsweise ein Schwert an? In den LBB war es klar: Jede Waffe machte 1W6 Schaden. Im Gegensatz zu S&W Core geht White Box auch diesen Weg, traut sich aber nicht, ganz so radikal zu sein wie der Großvater und unterscheidet geringfügig. Eine Schwert beispielsweise macht 1W6 Schaden, eine zweihändige Kriegsaxt 1W6+1, ein Dolch 1W6-1. Ich persönliche lasse für zweihändige Waffen 2W6 würfeln, und der höhere Wurf gilt für den Schaden.
Und wieder, wie schon bei den Boni, sträubt sich der Simulationist in mir. Eine Axt muss doch mehr Schaden anrichten als ein Dolch, denke ich mir. Und dann erst erinnere ich mich an mein Training und stelle fest: Eine Axt ist zwar furchteinflößender als ein Dolch. Wenn sie trifft, gibt es teilweise verheerende Folgen. Aber beim Dolch ist es genauso: Ein Treffer kann furchtbaren Schaden anrichten. Der Sturm in meinem Simulationistenglas verebbt langsam. Dennoch denke ich darüber nach, ob ich Kämpfer nicht für jede Waffe 2W6 würfeln und das höhere Ergebnis wählen lassen soll. Ihr Training würde diese Regelung rechtfertigen.
Initiative: ein wunderbares Primitivum.
Wunderbar und für mich völlig problemlos dagegen ist die Regelung der Initiative. Jede am Kampf beteiligte Seite würfelt einmal mit 1W6. Die höhere Seite führt ihre Aktionen zuerst durch, danach kommt die andere; zumindest, falls sie dann noch am Leben ist. Gleiche Würfelergebnisse bedeuten, dass die Aktionen gleichzeitig durchgeführt werden.
White Box ist bei der Initiative unklar formuliert: Wird vor jeder Kampfrunde auf Initiative gewürfelt? Oder nur einmal vor dem Kampf, und die Reihenfolge bleibt bis zum Kampfende bestehen? Ich persönlich lasse vor jeder Runde würfeln.
Das Wunderbare an den Regeln, sei es nun LBB, S&W Core oder White Box, ist die Tatsache, dass sie absolut problemfrei gehausregelt werden können — ohne Gefahr zu laufen, durch die Änderung ein komplexes Netz an Regelabhängigkeiten zu beschädigen.
S&W White Box ist gewissermaßen ein Satz an Regelungsmodulen, die bequem ausgetauscht werden können, ohne das gesamte Regelwerk zum Einsturz zu bringen. Auch das ist ein Grund, warum ich Old School liebe.
Die Zaubersprüche: weniger als in den kleinen Braunen
Nun wird’s schmerzhafter. Die originalen drei braunen Bände führten für Zaubernde sechs Stufen mit insgesamt 70 Zaubersprüchen auf. Für Kleriker gab es vier Stufen mit insgesamt 26 Sprüchen. White Box kürzt die Sprüche der Zauberndernden auf 65, und die der Kleriker auf 25. Eine geringfügige Änderung, aber eine, über deren Grund ich mir nicht im Klaren bin.
Ungeheuer: zusammenbauen und los!
Auch dieses Kapitel ist im Vergleich zu S&W Core relativ schlank. Das für mich wichtigste Element ist vorhanden: ein System zur Einschätzung der Gefährlichkeit eines Monsters. Ganz vereinfacht gesagt, bestimmen die Hit Dice eines Monsters drei Dinge: die potentiellen Hit Points, den to-hit-Bonus auf den Angriffswurf, und die Menge an Erfahrungspunkten, die ein Held bekommt, wenn er obsiegt.
Eine Tabelle, die aufführt, auf welchem Dungeonlevel mit welchem HDE (White Box: “Hit Dice Equivalent”, S&W Core: CL = “Challenge Level”) zu rechnen ist, fehlt leider. Was nicht sonderlich schlimm ist, weil ich mir diese Ideen jederzeit von S&W Core holen kann. Oder vom ebenfalls fantastischen Monster Book.
Die White Box-Monster würfeln ihre Hit Points mit W6 aus, im Gegensatz zu S&W Core, die dem höheren Machtniveau Rechnung trägt und 1W8 verlangt. Für mich ist das Monster-Kapitel durchaus ausreichend. Was bei einem Spielleiter mit weniger Erfahrung vielleicht nicht der Fall sein könnte.
Fazit: Ich liebe sie, auch wenn sie manchmal beißt.
Eine Einschätzung der S&W White Box ist nicht unproblematisch für mich. Auf der einen Seite gibt es Dinge, die mir, nach Jahren modernen Rollenspiels, immer noch suspekt vorkommen, etwa: gleicher Schaden bei allen Waffen oder extrem wenige Boni.
Auf der anderen Seite bietet das System, so wie es sich präsentiert, eine korruptionsfeste Regelbasis, mit der man nach Lust und Laune experimentieren kann. Diese Offenheit ist es, die mich am Rollenspiel im Allgemeinen und an Old School im Speziellen interessiert. Ich schließe durchaus nicht aus, dass ich zu einem späteren Zeitpunkt zu differenziertem Waffenschaden wechseln könnte (oder dem Akrasia-Modell, das Waffen zwischen klein, mittel und groß unterscheidet und jeder der drei Klassen einen bestimmten Würfel Schaden zuordnet), und ich will mich ebenfalls nicht definitiv festlegen, was den Umfang der zur Verfügung stehenden Zaubersprüche angeht.
Das Schöne an White Box ist, dass sie so eng mit den anderen verwandt ist. Sie ist eine Einladung an jede Spielgruppe, sich ihr ganz persönliches System zu basteln.
Das ist Old School. Ich liebe sie.