AW: Realismus contra Glaubwürdigkeit
Wenn dann (echte oder eingebildete) Logikfehler auftauchen dann zerstört das die Illusion ... weil man ... eher das Gefühl hat mit einer fehlerhaften Kulissenstadt zu arbeiten.
Das ist im Rollenspiel so ähnlich wie mit den lästigen Continuity-Errors in Film und Fernsehen. Wenn der Typ im Film ein volles Glas in der Hand hatte und es in der anderen Kameraeinstellung fast leer ist, dann nervt das. Manchmal nur ein wenig - wie eben auch die typischen "geringnervigen" Rollenspielstimmigkeitsschnitzer.
Natürlich ist das ein sehr subjektives Thema. Jemand, der sich mit Klettern auskennt (wir hatten in unserer Uni-Runde eine zeitlang einen Freikletterer), der WEISS aus seiner persönlichen Erfahrung, wie schwierig oder wie leicht eine bestimmte Kletteraktion ist. Der findet so manche Modifikation auf die üblichen Kletterwürfe in Rollenspielen grundsätzlich unglaubwürdig. Ich habe keine Ahnung vom Klettern und der Rest der Mitspieler auch nicht, und daher sehen wir manch eine Erschwernis eher als dramaturgisches Mittel eine Kletterszene "interessant" zu gestalten.
Die dramaturgische Freiheit an realen Sachverhalten Eigenschaften zu überzeichnen, zu verzerren ist in Film und Rollenspiel gleichermaßen vertreten.
Bei Unknown Armies sind z.B. Messer lächerlich ungefährlich verglichen mit Pistolen. Als alter Messerkampf-Übender kann ich das überhaupt nicht nachvollziehen, wobei ich bei UA als einem sehr US-amerikanischen Spiel schon verstehen kann, warum da der "Machtfokus" auf der Schußwaffe liegt. Es ist trotzdem, und wohl nur für mich, immer wieder ein Moment, wo ich mit Kopfschütteln reagiere, wenn man sich bei UA um eine Alltagsdarstellung einer (fast) realen USA bemüht, und dann Messer nur Kratzen nicht Killen. Als nächstes explodieren Autos, die eine Böschung herunterrollen immer so, als hätte der Kofferraum als Zwischenlager für Al Qaida gedient.
Über manches sieht man weg.
Manches ist aber so stark störend, daß nicht etwa das "Abtauchen" erschwert wird. Dieses von so manchen vermutete Abtauchenwollen kenne ich bei keinem Spieler. Das ist eine ideologisch geprägte, nicht mit der Wirklichkeit in Verbindung zu bringende Voreingenommenheit meist der Theoriefraktion. - Was harte "Continuity-Error"-Probleme bewirken, ist, daß sich der Spieler in all seinen persönlichen Vorkenntnissen verarscht vorkommt. Das greift das sichere Wissen des Spielers an, nicht etwa des Charakters. Dadurch wird auch der Spieler direkt geärgert, wenn etwas nicht stimmt.
Wenn etwas stimmt, dann nenne ich das "Stimmigkeit".
Wenn etwas beim Spielen in einem Setting nicht stimmt, dann ist die Stimmigkeit nicht gegeben.
Dazu gehört neben offensichtlichen Punkten wie z.B. den in jeder Autoillustrierten nachlesbaren Höchstgeschwindigkeiten und Einsatzradien pro Tankfüllung, die in so manch einem Rollenspiel vorkommen, als würden dort nur Ford Model T Daten zugrundegelegt, auch nicht so offensichtliche Punkte wie die Genrekonventionen.
Genrekonventionen sind genau das: Konventionen. Es gibt auch jede Menge Rollenspiele, die bewußt gegen diese Konventionen ausgelegt sind. Aber wenn/falls man ein Spiel spielt, welches innerhalb gängiger Konventionsgrenzen angesiedelt ist, dann ist es sehr störend, wenn diese unerwartet gebrochen werden. War der Bruch zu erwarten, dann wird er ja auch nicht als störend empfunden, da er zu der neuen(!) Konvention gehört.
Man will im Rollenspiel nicht ständig eine Holperfahrt unternehmen, auf der man von einem ärgerlichen "Produktionsfehler" zum nächsten gereicht wird.
Daher der Ruf nach Realismus als dem falschen Etikett für die eigentlich richtige Sache.