Pünktlich um 8.30 Uhr, eine halbe Stunde später als der eigentliche Dienstbeginn, schlenderte David Carter in die Zweigstelle des NYPDs in der 55. Straße. Fröhlich pfeifend grüßte er Bob den Pförtner und wie jeden Morgen reichte David ihm den mitgebrachten, ungenießbaren Kaffee im Pappbecher. "Was denkst du, David? Die Lakers gegen die Bulls?" "13:13" ein alter und zudem flacher Witz zwischen den Arbeitkollegen der jedes Mal aufs neue Belustigung fand. Voller Elan tappte David weiterhin durch das Großraumbüro, welches 36 Cops einen Arbeitsplatz bot. Ach, was war es schön undercover zu Arbeiten und einen Partner zu haben der ein klimatisiertes Büro mit Kaffeemaschine arbeitstechnisch bewohnte. Ein Blick auf die verschlossene Tür und die herunter gelassenen, metallenen Jalousien zeugten davon, dass Davids Partner, der ehrenhafte Herr Brion –oberirischen Blutes- schon strenggeheim bei der Arbeit war. David war ein wirklich überaus begabter "Spurenleser", so dass sein Spleen von seinem eigentlichem Arbeitsgeber - das Federal Bureau of Investigation - wiederwillig über seinen Egozentrismus hinweg sah. So hatte ein jeder seine Vor- und Nachteile und bei David war es sein gesunder Wahnsinn und seine Verrücktheit die er offen zur Schau stellte.
Augelassend pfeifend trat David –natürlich ohne zu klopfen- in Brions Büro und grinste dem Bild, was sich ihm bot, entgegen. Brion saß, die Beine auf dem Schreibtisch abgelegt, auf seinem lederbezogenem Schreibtischstuhl und auf seinem Schoss saß, zu einem Ball zusammen gezogen, Alindra, seine neue Freundin. "Ihr seid ja noch angezogen." feixte David und machte sich an der Kaffeemaschine zuschaffen. Brion schreckte verschlafen auf und funkelte seinen Partner an. David musste zugeben, dass er schon so ein bisschen neidisch war. Ali war wirklich eine außergewöhnliche Schönheiten. David musste es wissen, auch wenn er nun das 10. Jahr verheiratet war, kannte er sich mit den New Yorker-Schönheiten bestens aus. Verlegen richtete sich Alindra auf und beäugte die Männer aus schweren Augen. David aber genoss es die Frau zu mustern und somit seinen noch immer verschlafenen Partner geradewegs in die Übellaunigkeit zu befördern.
"Ich gehe nach Hause. Wir sehen uns nachher?" Angesichts ihres niedlichen Tonfall blieb Brion gar nichts anderes übrig als zu lächeln und sie wieder in seinen Arm zu ziehen. "Hm" brummte er bejahend und küsste sie auf die Lippen. Sein kichernder Partner wurde einfach ausgeklinkt. "Ich wünsch dir einen schönen Tag. Ich denk an dich", murmelte sie in seinen Mund und machte sich widerstrebend von ihm los. David johlte anfeuernd auf, was Brion dazu ermutigte sie besitzergreifend zu packen und sie mindestens nicht so ganz jugendfrei zu küssen. Mit hitzigen Wangen gelang es ihr schlussendlich doch das Büro zu verlassen. "Ich glaub’ meine Chancen stehen schlecht bei ihr zu landen, oder?" Breit grinsend goss David seinem Partner frischen Kaffee ein und schlenderte zum Fenster, um dieses auch zu öffnen. Brion knurrte unterschwellig und selbst das klang irgendwie gälisch. Schon witzig, wenn man bedachte, dass er in New York geboren war, aber wer Brions Familie –die Bilderbuch Iren- kannte, verstand auch das. So gierte er den Kaffee in einem Schluck runter, nur um sich umzudrehen und den Blick auf die Pinnwand und somit auf das tägliche Arbeitspensum zuwerfen. "Fakten", grollte er Davids Stichwort, der auch gleich die Zusammenfassung des Falls herunter rasselte. Ein Grund warum David trotz seiner chaotischen Art beim FBI blieb und unverzichtbar war, war sein fotografisches Gedächnis. "Männliche Leiche, weiß, 28 Jahre alt, 1,90 groß, 110 kg schwer. Starb durch zwei gezielte Kopfschüsse. Laut Zeugenaussage vermuten wir den New Yorker-Mädchenkiller als Gerichteten. Nun mehr 6. Fall dieser in Art in 3 Wochen. Die Zeugin spricht von Gebeten, Engelserscheinungen und dem jüngstem Gericht. Weiter ist es wahrscheinlich, dass die Männer aus Irland stammen, weshalb du, mein Schnuckelmäuschen, mit diesem Fall betraut wurdest. Natürlich könnte ich noch weiter ausholen und detalierter berichten aber da du mit deinen Gedanken bei deiner süßen Schnecke bist, würden dir weitere Informationen dir deine feuchten Träume nehmen." Dreckig lachend plumpste David vor dem Schreibtisch in den Besucherstuhl und nippte von seinem Kaffee.
Brions Verstand lief auf Hochtouren, so dass er das Kommentar seines Freundes gar nicht weiter beachtete. Hier handelte es sich nicht um bloße Selbstjustiz, auf deren Konto man jährlich etwa drei Morde schreiben konnte. Brion vermutete hinter den Serientäter religiösen Wahn oder aber einen grausigen Trend. Täter aus denen die zwei Männer Opfer machten. Die Gerichteten hatten allesamt eine wirkliche beachtliche, kriminelle Karriere hinter sich. Ihm fiel es schwer mit den Männern nicht zu sympathisieren. Dennoch ein Mörder blieb ein Mörder. "Du bist so sexy wenn du nachdenkst. Komm mach mir ein Kind", schnurrte David und spielte weiter mit seinem Handy, was er zwischenzeitlich aus der Tasche gezogen hatte. Brion setzte gerade zu einer scharfen Bemerkung an, doch von jetzt auf gleich verlor sein Gesicht legliche Farbe. Mit zittriger Stimme keuchte er: "Alindra" "Ist noch sexier. Kannst du sie mir nicht vielleicht mal ausleihen? Nur einmal...ich bin auch wirklich vorsichtig", antwortete David. Die jahrelange Freundschaft und Partnerschaft zu Brion ließ ihn die Situation allerdings richtig einschätzen. Zeitgleich stürmten sie aus dem Büro, die Dienstwaffen geladen und bereit.
"Und ich gelte als verrückt, während mein Partner ohne ein Wort zu verlieren mit mir durch die Gegend fährt?" Unweit von Alindras Haus fuhr Brion, in zivil, in die nahgelegene Gasse, von der er wusste Ali nutzte den Weg als Abkürzung zu ihrem Heim. "David, halt dein Maul." Damit stieg Brion aus dem Wagen, die Waffe im Anschlag. David folgte unweigerlich, auch wenn Brion sich seiner Schimpftirade stellen musste. Als Brion voran zwischen die Häuserfronten schlüpfte, stieg ihm der Geruch der Mülltonnen - die hier an den Backsteinwänden abgestellt waren - in die Nase. Auf seinen Wink hin verstummte der knurrende David, der vor sich hin quatschte, und entsicherte seine Waffe. Die Sonne brach hinter den Wolken hervor und tauchte den Weg in goldenes Licht. Unbehagliche Stille hatte ihn eingehüllt. Er wurde das Gefühl nicht los die Maus zu sein, die unter den Blicken der Katze in die Falle tappte.
Aufmerksam und angespannt bahnte er sich den Weg und tastete, ohne den Blick hinter sich zu wenden, nach David. Doch da war kein David, eine Tatsache die Brion hinnahm und nicht weiter darüber nachdachte. Das beklemmende Gefühl ließ ihn einfach nicht los und die Sorge um Alindra erst recht nicht. Er blieb auf der Stelle stehen und sah sich aufmerksam um. Dort war nichts außer dem goldenem Sonnenlicht das sich im Glas der Fensterscheiben und im Asphalt zu seinen Füßen brach. Stattdessen wurde sein Herz schwer und als er den Waffenhahn spannte, geschah das wie in Zeitlupe. Die Zeit schloss ihn ein, machte jeden Wimpernschlag von ihm träge und langsam, fraß seine Bewegungen und umschlang ihn, wie ein Würgegriff. Aus den Augenwinkeln nahm der Ire einen Schatten wahr. Als es ihm gelang den Kopf zu drehen, löste sich ein Schuss.
Die Starre fiel von ihm ab und zerstob zu seinen Füßen, ohne fassbar zu sein. Er eilte an die Stelle, von der aus der Schuss zu hören gewesen war.
Sackgasse. Dort war nichts außer eine Wand, in die die Witterung und die Stadt breite Löcher gefressen hatte. Zu schnell um die Lage einschätzen zu können schrumpfte der Schatten, den er auf die vor ihm liegende Wand warf, zusammen und flüchtete übers Dach. Sicherlich hätte er versucht was immer es auch war zu verfolgen, wenn nicht unmittelbar vor ihm Alindra mit wirrem Haar, zerrissenen Kleidern und geschwollener Wange gesessen hätte. Wie hätte er in so einer Situation versuchen sollen die Lage zu durchleuchten und zu erkennen. All die Jahre des Schulens waren nichtig, als er seine Freundin vor sich auf den Boden kauernd, verängstigt und überfallen sah.
Ohne zu zögern beugte er sich zu ihr und wollte sie auf seinen Arm ziehen, als hinter ihm das metallene Klicken einer geladenen Waffe erklang.. Wieder entwickelte nichts geringeres als die Zeit ein Eigenleben und machte jede Bewegung zäh wie Gummi. Diesmal aber war irgendetwas auf seiner Seite, schneller als sein Angreifer drehte er sich mit seiner Waffe um und feuerte Sekundenbruchteile eher als der Mann vor ihm. Der Räuber feuerte ebenfalls und als er das tat, schrie Ali markerschütternd auf. Brions Kugel verfehlte sein Ziel nicht und trat in die Stirn des Mannes und zerfetzte sein Gehirn, als das Geschoss aus seinem Hinterkopf schlug. Der vermeintliche Angreifer war sofort tot und sank wie ein nasser Sack in sich zusammen. Der Schnelligkeit war es zu verdanken, dass die Kugel seines Gegenübers an Brion vorbei flog und in die Wand hinter ihm einschlug.
Alindra schrie noch immer mit einer Engelsstimme, laut, hoch und von Kummer gespeist. Ein wilder Glasregen ergoss sich in feinsten Splittern über sie beide und die Leiche. Einer Sirene gleich brachte Alindra mit ihrem unnatürlichem Geschrei die Fensterscheiben des gesamten Wohnblocks dazu, zu zerspringen. Brion der in der Lage nur ein Stirnrunzeln übrig hatte war mit der Situation überfordert und wusste nicht so recht, ob er träumte oder nicht. Dem Splitterregen war er sich noch nicht mal bewusst, noch nicht mal als das Glas ihm in die Haut schnitt, die nicht von Kleidung bedeckt wurde. Seine Sorge galt Alindra die noch immer schrie und schrie und schrie.
In Irland erzählt man sich die Geschichten von Banshees und Todesfeen, so hätte er sich diesen Ruf vorgestellt. War Alindra ein Bote des Todes? Seine Herkunft brachte solche Gedanken mit sich, aber dennoch zählte eigentlich nur eins: Seine Freundin zu beruhigen.
Er beugte sich zu ihr hinunter und hob sie auf den Arm, worauf sie endlich verstummte. Wie hätte er denn angesichts ihrer geschundenen Erscheinung auf die Gestalten aufmerksam werden können, die auf dem Dach des Hauses kauerten und mit Argusaugen über sie wachten? Wie hätte es ihn denn verwundern können, dass ihm ihr Schrei nicht das Trommelfell zerriss. Beruhigend hauchte er ihr einen Kuss auf die Stirn und trug sie aus der Gasse auf die offenen Straße an seinem Auto vorbei, ihr Haus anvisierend.
David hatte er erst vermisst, als dieser nun am Auto lehnte, in den Splittern stehend. Wie Staub hatte sich das Glas von sämtlichen Fenstern der Umgebung auf Davids, Alindras und Brions Erscheinung gelegt. "Geht es ihr gut?" Er erwartete gar keine Antwort, doch Brion grollte ein. "Ruf Verstärkung." Aus den Schnittwunden an seinen Armen die anfänglich nur wie harmlose Striemen aussahen quoll langsam und heiß, als Mahnmal, sein Blut. Waren es Stigmata? So kam es ihm zumindest vor. Begleitet vom Knirschen des kaputten Glases stieg er die Stufen zu Alindras Haus empor und durchquerte das Foyer in Richtung Salon und bettete sie auf dem Sofa. "Ich komm gleich wieder", murmelte er und erlaubte sich und seinem Körper noch lange keine Erholung von der seltsamen Ereignissen.
Rasch machte er kehrt, um das Haus zu verlassen und die Straße zu überqueren, wo David ihm schon von weiten anschnauzte. "Was war eigentlich los?" Er tupfte sich nachlässig das Blut mit einem Taschentuch aus dem Gesicht, wobei er es eher verschmierte anstatt es abzuwischen. "Du übernimmst hinten in der Gasse die Leiche", herrschte Brion und bevor David zu einem Kommentar hätte ansetzen können, kehrte er zu Ali zurück.
Kaum das Brion die Tür aufgestoßen hatte, meldete sich sein Instinkt.
Irgendetwas stimmte schon wieder nicht. Vorhersehbar und doch nur ein Gefühl, wenn Alindra etwas passierte würde er mehr als wütend werden und ein jähzorniger Ire...war gefährlich. Er griff nach seiner Waffe aus dem Halfter und lud sie durch. Die Sonne, die nun durch die glaslosen Fensterrahmen ins Foyer, den Flur und die Treppe schien tauchte alles in einen goldenen Nebel. Die zerbrochenen Glassplitter glänzten wie tausende von kleinen Diamanten. "Ali? " raunte er in die Stille und als keine Antwort kam, drückte er sich im Schutz der Wand entlang in Richtung des Salons.
Mit aller Kraft hieb ein Tagtraum auf ihn ein, die Szene hatte er schon unzählige Male geträumt und erst jetzt erkannte er Alindra als Alindra und das Haus als ihr Haus. Es war zu real, als das es ein einfaches Deja’vú hätte sein können.
Von draußen heulten nun die Sirenen der Streifenwagen auf und waren für ihn einzigstes Bindeglied im Hier und Jetzt. Zielsicher trat er in den Salon und mit einem Knatschen stieß er die Tür auf und erstarrte, schon das zweite Mal an diesem Tag. Seine Waffe fiel mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden.
Zusammen mit Raguel, dessen linke weiße Schwinge Alindra in sein Federkleid hüllte, wie in einem Kokon, schwebte Ali an der Zimmerdecke. Raguels rechte Schwinge ging in ihrem Schwarz vollkommen unter und vermischte sich mit den Schatten an der Wand, als wollen sie ihn fressen. Gemeinsam hatten sie Sariel im Arm, dessen Schwingen leblos an seinem bewusstlosem Körper hinabhingen. "Er ist verletzt", schluchzte die junge Frau und der Bruder gemeinsam und in verschiedenen Stimmlagen zur selben Zeit. Wie auf Kommando quoll dunkles Blut aus Sariels rechter Schulter und ätzte sich geradewegs in sämtliche Seelen wie ein heißes Eisen.
Dann wurde es schrecklich dunkel.