Menschlichkeit und Entartung:
Diese zwei Begriffe sind für mich untrennbar verbunden.
Die Menschlichkeit, so wie ich sie verwende, ist ein oberflächlicher kurzfristiger Begriff.
Ein guter Mensch, der als Soldat in den Krieg muss, sinkt möglicherweise dort in seiner Menschlichkeit - wenn er aktiv an tödlichen Kampfhandlungen beteiligt ist möglicherweise bis hinab zu einem Wert von 3, wenn er gezielt absichtlich ohne konkrete Bedrohung des eigenen Überlebens feindliche Soldaten tötet (wo ich es dann als Totschlag werten würde) - ich würde normale tödliche Kampfhandlungen als Stufe-5-Sünde einstufen, also geben wir ihm einmal MK 4.
(Darüber hinaus gehende Kriegsverbrechen schließe ich in dem Beispiel des "guten Soldaten" einmal aus.)
Kehrt er zurück ist er entsprechend der Beschreibungen aus "Chaining the Beast" stark entfremdet, zurückgezogen, möglicherweise depressiv oder aggressiv... und wird eine Weile brauchen, bis er sich wieder an die normale Gesellschaft gewöhnt.
Aber so muss es nicht sein.
Er könnte die Taten auch sofort bereuen - und hierbei meine ich Reue im selben Sinne wie bei dem christlichen "wenn du es bereust, wird Gott dir verzeihen", nicht wie bei dem pseudo-christliche Gewitzel "Na, dann bereu ich halt noch schnell auf dem Totenbett.":
Reue, direkt aus dem Herzen.
Oder er könnte - und über diesen Part im GRW lässt sich wohl klasse streiten - den Übertritt "anderweitig rechtfertigen".
Was heißt das?
Für mich als Spieler des Soldaten hieße das in diesem Fall zum Beispiel:
"Das ist Krieg. Ich tue das um meine Heimat zu schützen. Heimat schützen ist ein gutes Motiv. Die, die ich getötet habe, sind ebenfalls Soldaten - ich töte Soldaten, die meine Heimat bedrohen. Sonst niemanden."
Kurz:
Ich verstehe darunter eine solche Erklärung, dass man eindeutig sagen kann:
"Diese Tat, war eine Notwendigkeit angesichts der konkreten Ausnahmesituation. Die begangene Sünde im allgemeinen Fall - bewusste Inkaufnahme einer Tötung - halte ich immer noch ohne den geringsten Zweifel für verwerflich."
Kommt es zu der Entartung, bedeutet dies nämlich, die Tat wird akzeptiert.
Nicht unbedingt in der Bedeutung "macht ja nix" oder "ist in Ordnung" - sondern meist eher "die Welt ist ein brutaler Ort - ich muss mich anpassen, sonst gehe ich unter" oder "passiert ist passiert - und ich war im Recht". Gerade letzteres liegt bewusst nahe bei der Rechtfertigung.
Dies ist in Ordnung.
All das, was ich bisher geschrieben habe und hier noch schreiben werde, istdanach ausgerichtet, dass die Problematiken von Entartung, Raserei und dem Tier möglichst nachvollziehbar , immersiv und intuitiv im Spiel umgesetzt werden können - in Wechselwirkung.
Wenn dann die Toreador versehentlich ihren Ghul erschießt - im Moment auf MK 8 ist, gerade erst vor ne Jahr den Kuss empfing und zu dem Ghul ein sehr menschlich-freundschaftliches Verhältnis hatte und die Spielerin mit feuchten Augen vor mir sitzt, voll in ihrer Rolle versunken - dann schrei ich nicht "Haha, Entartungswurf versemmelt - es ist dir scheißegal, dass der tot ist.
Ich würde vermutlich würfeln - vielleicht auch nicht - aber in Anlehnung an Chaining the Beast die Entartung nicht als "pfff... scheißegal" auslegen, sondern möglicherweise als einen Schritt in Richtung Entfremdung.
("Was mach ich mir denn vor. Ich bin ein Monster. Ein Mörder. Vielleicht sollte ich aufhören so zu tun, als sei ich ein Mensch.")
Langfristig bewegt sich der MK-Wert etwa auf dem Level der grundsätzlichen Moralvorstellungen.
Kurzfristig zeigt er den derzeitigen psychisch-moralischen Zustand an.
Und GANZ WICHTIG:
MK zeigt bei mir nicht direkt an, ob jemand Held oder Schurke ist, ob seine Taten dem Guten oder dem Bösen dienen.
Mord ist Mord.
Spiel Punisher und ermorde den Mafia-Boss aus Rachsucht und du sinkst genauso ab, wie der Mafiosi, der den Polizisten ermordet, der seinen Sohn verhaftet hat.
Die Frage ist nicht "was ist das Ergebnis", sondern "was ist deine Absicht, dein Ziel."
Mord aus Rache ist psychisch-moralisch Mord aus Rache.
Einen Freibrief zum "böse NSC töten" gibt es bei mir nicht.
Wer sich einer Blutjagd gegen den Tzimi-Koldunen anschließt, wird seinen MK 10 nur schwer halten können - scheißegal, wie viele Unschuldige man damit rettet... fast.
Denn wenn wir beim Thema "wir suchen gute Rechtfertigungen" sind, dann wird das wieder relevant.
Weitergedacht heißt das auch, dass eine versehentliche Tötung, die der Täter garnicht bemerkt hinscihtlich des Menschlichekeitswert behandelt wird, als wäre er nie geschehen. Umgekehrt wird das Überfahren eines Fußgängers mit Fahrerflucht wie eine fahrlässige Tötung behandelt, dann und zwar auch nur dann, wenn der Täter denkt, das Opfer sei gestorben.
Also ja:
Du kannst (z.B. durch Geistesstörungen) ein reines Gewissen und MK 10 haben und gleichzeitig ein Serienmörder sein - oder MK1, weil du dich selbst begeistert für den krassesten Ritualmörder aller Zeiten hältst, obwohl die Morde nur in deinen Halluzinationen stattfanden.
Was zählt ist das Innere, das Gewissen, die Moral.
Verändert sich bei dir nichts, dann bleibt auch die Menschlichkeit gleich.
Das Tier:
Wie gesagt lautet das Motto meines Konzeptes "nachvollziehbar, intuitiv, immersiv".
Ich will die Spieler in Situationen bringen, wo sie selbst nicht nur sagen "So, mein Vampir dreht jetzt also mal wieder durch - ich zerfleisch also meine Tante Helga... hey, gib mir mal die Cola rüber... soll ich nen Angriffswurf machen oder stirbt die einfach?", sondern wo sie ein Stück weit verstehen, was in dem Kainiten dabei vorgeht.
Mein Tier ist kein Dämon, der im Kopf sitzt, keine düstere Stimme in der Dunkelheit, keine psychische Störung, die eine zweite Persönlcihkeit hervorbringt, die nach Blut schreit.
Mein Tier ist "das Tier im Mensch" - nein, noch schlimmer "das Tier im Vampir."
Terry Pratchett beschreibt das recht gut in "Der Winterschmied" (bin mir nicht ganz sicher - eines der Bücher über Tiffany Weh):
Das Tier ist der eigene uralte instinktive Drang nach Bedürfnisbefriedigung.
Ich will essen.
Ich will mich fortpflanzen.
Ich will leben.
Ich will alles um mich herum kontrollieren, damit ich essen, leben und mich fortpflanzen kann, wann immer ich will.
Ich will mir laut auf die Brust trommeln, damit jeder sieht, wie stark ich bin, damit niemand sich traut etwas gegen mich zu unternehmen, was mich daran hindert zu essen, zu leben und mich fortzupflanzen.
Ich will jede Bedrohung dieser Punkte vernichten.
...
Bis zu nem gewissen Maße ganz normales animalisches Verhalten - allerdings durchbrochen von Sozialverhalten, auch im Tierreich. Affen haben "begriffen" (vielmehr hat sich das halt evolutionär durchgesetzt), dass sich gegenseitig verhauen, bis man dem anderen gezeigt hat, dass man stärker ist, auf lange Sicht besser ist, als immer auf Leben und Tod zu kämpfen. Und schließlich haben sie sogar "begriffen", dass man sich als kleiner Affe besser in der Sicherheit des Rudels einordnet, statt sich mit dem großen Affen anzulegen.
Menschen gehen da noch viel weiter, aber bestimmte Urinstinkte bleiben erhalten:
Wenn wir hungrig sind, werden wir schlecht gelaunt und wollen unbedingt essen.
Wenn dich jemand schwer beleidigt, wirst du aggressiv und der Körper schüttet nen Cocktail aus, der Reserven aktiviert und dich schmerzunempfindlicher macht.
...
Beim Vampir kombinieren sich ein paar recht unangenehme Eigenschaften:
Vampire sind Raubtiere - sie jagen keine Äpfel, wenn sie hungrig sind.
Vampire sind Kannibalen - sowohl Menschen als auch andere Vampire sind Opfer.
Vampire jagen alleine, kämpfen demnach auch alleine und haben keinen Bedarf an instinktivem Sozialgefüge.
Vampire sind saustark - wenn sie loslegen, dann richtig.
Vampire haben sehr starke Instinkte.
Wenn ich hier von "animalisch" und "Raubtier" rede und Affenvergleiche bringe, soll das nicht heißen, das Vampire Tiere sind oder "das Tier" ein "animal" wäre - es ist ein "beast".
Ein Mensch mit raubtierehaften Zügen.
Sowas wie der Wolf zum Hund oder der Tiger zur Hauskatze - nur mit noch stärker abweichendem Ernährungs- und Sozialverhalten.
Vampire sind untote Menschen, die raubtierhaftes Verhalten an den Tag legen, dass für sie als (Un-)Lebensgrundlage notwendig ist.
Die primären Triebe sind
- Überleben = u.a. Rötschreck
- Nahrung = Blut
- Leben/Sicherheit= aggressive "Verteidigung" gegen Provokation, wenn Erfolgsaussichten bestehen
- Zerstörung/Macht/Kontrolle = darüber hinausgehende aktive Aggression
- Machtdemonstration = aktive Aggression bis hin zum Sadismus bis zu absoluter Perversion
- Fortpflanzung= Kuss
(da Fortpflanzung dem Überleben der Art dienen soll, Kainiten aber bereits als Individuum theoretisch unsterblich sind - und man sich so sogar Konkurrenten schafft - ist dieser Trieb mMn unbedeutend)
Als grobe "Pi mal Daumen"-Richtlinie würde ich sagen, dass von oben nach unten, die Triebe von "absolut notwendig, stark und unmöglich zu beseitigen" bis "wenig präsent, weil eher unwichtiger - und erst bei niedrigerer MK wirklich relevant".
Raserei:
Und was heißt das jetzt?
Interessant und relevant wird das Tier, wenn es zur Raserei kommt.
Und wann würfle ich auf Raserei?
Wenn das Tier einen Grund dazu hat.
Obige Liste bietet da schonmal eine erste Orientierung.
Ein MK-8-Vampir hört ein nerviges Kind, dass ganz viel Unsinn erzählt.
Warum sollte hier irgendwas passieren? Natürlich nicht.
Ein MK-1-Vampir, ein egositisches Subjekt, dass gedankenlos tötet, wenn ihm gerade danach ist hingegen, dürfte aus Gewohnheit heraus, den Drang verspüren seinen "Ich bin das fieseste Tier im Dschungel"-Trieb auszuleben => Raserei-Probe.
Also grob:
Je weiter unten man in der Hierarchie der Sünden steht, desto stärker das Tier, desto nerviger und kleinlicher der SL
.
Ganz wichtig:
Das Tier ist nicht BÖSE. Dieses ganze "Das Tier ist hinterlistig und findet eine Weg"-Zeug von WW verstehe ich nicht wortwörtlich. Ich verstehe das in etwa so, wie ich auch das christliche Gerede vom Teufel verstehe:
Als Metapher.
Wenn da steht "das Tier will dich in Versuchung führen", dann versteh ich darunter "du suchst unterbewusst grenzsituationen, in denen du Triebe ohne Rücksicht auf Verluste auslebst und dir und anderen dann dann sagst, du hättest ja versucht, dich unter Kontrolle zu halten, aber es war einfach zu stark."
Also: "Du führst dich selbst in Versuchung."
"Das Tier ist hinterlistig":
"Du belügst dich selbst .
usw.
Also - das Tier ist nicht BÖSE. Das Tier hat nicht grundsätzlich das Bedürfnis alles und jeden zu zerfetzen. Na gut, das reine 100%ige pure "Tier" vielleicht - aber diesen Grenzfall können wir betrachten, wenn wir bei MK 0 angekommen sind.
Das Tier ist vor allem eines:
Extrem egoistisch.
Und so lässt sich auch recht gut beschreiben, wann ich auf Raserei würfeln lasse:
Wenn die Umstände unangenehm sind.
Und was passiert in Raserei?
Das unangenehme wird beendet.
Die Formulierung ist wichtig:
Das Tier ist primitiv, instinktiv und dumm. Es erzeugt nicht etwas angenehmes. Es beendet das unangenehme.
Bsp.:
Dein Kumpel zieht dich damit auf, dass dir etwas peinliches passiert ist.
Das Tier sucht jetzt nicht nach ner Lösung, wie man freundlich ohne Gesichtsverlust das Gespräch auf ein anderes Thema lenkt, weil es dir eben WIRKLICH unangenehm ist.
Nein, das Tier merkt "Der redet. Das mag ich nicht. Der soll aufhören."
Und dann wird das Gespräch beendet - gewaltsam natürlich.
Möglichst einfach und effektiv.
...und wenn man Glück hat, liegt der nach dem Schlag weinend am Boden und ist ruhig. Wenn man Pech hat, schreit der rum und das Tier macht weiter - bis diese verdammte Nervensäge ruhig ist.
Schlimmstenfalls ist dies gleichbedeutend mit seinem Tod.
Aber - zumindest, wenn niemand so doof war dazwischen zu gehen - das wars dann auch.
Kein Berserker-Blutrausch.
Kein Pepetuum Mobile der unbegrenzten Aggression.
Meine Brujah sind nicht Brujah, weil sie alle Selbstbeherrschung 5 haben um überhaupt spielbar zu sein, sondern, weil sie durchaus recht regelmäßig mal ne Raserei erleben - ohne das jedesmal sofort das gesamte Viertel zerlegt wird.
Ich neige dazu gerade bei instabileren, extrovertierten und zu aggressivem Vorgehen neigenden SCs lieber einmal zu viel würfeln zu lassen, als einmal zu wenig (meist wird aber ein Selbstbeherrschungswurf vorgeschaltet um zu klären, ob der SC die Situation überhaupt als unangenehm empfindet).
Das Tier, Raserei und das Absacken der Menschlichkeit soll ein nachvollziehbarer psychisch-moralischer Abgrund sein. Der Spieler soll miterleben und teilweise sogar mitfühlen können, wie sich sein SC verändert.
Die Raserei richtet sich meist und vor allem gegen die Leute, die man nicht mag - und es ist verlockend zu sagen "der Kerl hatte es verdient" (und ein weiterer Schritt der Entartung...).
Und nach der Spielsitzung kommt in einer ruhigen Minute die Erkenntnis:
Moment mal... verdient?
Vor nem Jahr hab ich nen SC gestartet, der ein nettes 15-jähriges Mädchen war, das mit jedem befreundet sein wollte. Und wenn ich mich jetzt in das Mädchen hineinversetze sage ich "der hat es verdient", bloß weil dieser schmierig-unsympathische NSC den Schnitt meines Kleides kritisiert hatte? Deshalb soll er es verdient haben, dass mein SC den jetzt gerade in Starre geprügelt hat?
Scheiße,... ich spiel ein Monster.
(low-horror level)
(oder richtig grotesk horrormäßig:
Mein James-Bond-artiger Camarilla-Held hat heute 12 Menschen getötet, die unter Sabbat-Einfluss standen, das übrige Klüngel weitere 30.
Und den fiesen Dr. Evil haben wir am Ende gehäutet.
Was für einen Wahnsinnigen spiel ich da eigentlich?
Aber mir erscheint das im Spiel immer recht nachvollziehbar...)
Und nicht zu vergessen - der Chaosfaktor. Meist trifft es den richtigen.
...aber eben manchmal auch den Kumpel, der gerade nur ein bisschen nervig ist.
FAZIT:
Das "Tier" mit eigenständiger Persönlichkeit, das in den Abgründen der eigenen Seele lauert gibt es bei mir zwar auch, aber nur als pseudo-religiösen Mythos - und als Ausrede.
Eben so wie auch der Teufel und Dämonen früher gerne benutzt wurden.
"Die anständigen Bürger wurden vom Teufel veführt." statt "Die anständigen Bürger zeigten, dass sie eigentlich unanständige Dreckschweine sind."
Das eigenständige Tier als Feind - das ist mir moralisch und psychsich zu einfach.
Das Tier - das bist DU.
Dein SC.
So wie DU ihn spielst.
Und es tut das was DU willst.
Tief in dir.
Ganz tief in dir.
Hör mal in dich hinein.
*knurrrrrr....*