Interessante Frage. Ich kann mich erinnern, genau über diese Thematik - "Märchenhaftes Fantasy-Rollenspiel" - einmal einen Artikel von Alexander Huiskes (u.a. Perry Rhodan) in der Juni/August-Ausgabe 2004 der "Nautilus" gelesen zu haben. Keine Ahnugn, wem hier dieses Magazin noch etwas sagt.
Es behandelte die Möglichkeiten von Märchen für Rollenspielsettings.
Märchen enden oft im Sinne einer sehr einfachen (kindlichen) Weltordnung. Das Gute im Menschen, die Schwachen und Ehrlichen obsiegen am Ende, während das Böse bestraft wird. Dann ist ein Hauptbestandteil eines Märchen auch, dass Tiere sprechen können. Das sind zwei Punkte, die auf einen Erwachsenen Spieler erst einmal abschrecken können. Man ist über die Schwarzweißmalerei im Rollenspiel hinaus, möchte es gerne komplexer, da brauch selbst die böse Hexe im Fantasysetting eine Motivation, wieso sie Kinderlein frisst und die nahe Dorfgemeinschaft einen Grund, wieso sie nicht mit Mistgabeln und Fackeln bewaffnen und die alte Schrulle einfach niedermetzeln. Dann mag das auch zu kindlich wirken. Sprechende Tiere gibt es zwar auch in bestimmten Fantasysettings, trotzdem würde ich da noch eine gewisse Scheu diagnostizieren, da das dann auch irgendwie lächerlich wirkt...
Wenn ich es recht im Kopf habe, dann sprach der oben genannte Artikel bestimmte Formen des märchenhaften Rollenspiels an:
"1. Umsetzung von Märchen,
2. Einbau von Märchenmotiven
3. Verfremdung von Märchen".
Diese Formen des märchenhaften Rollenspiels möchte ich im Folgenden gerne einmal erläutern.
1. Umsetzung von Märchen
Punkt 1. dürfte klar sein. Es bedarf einer Märchenwelt, in der Tiere sprechen, redliches Handeln belohnt wird und Böses gestraft. Die einfachen "Helden" - ob Müllerssohn, Däumling, Prinz, Kinder - könnten zum Beispiel, dafür, dass sie ihren letzten Proviant mit einer armen Bauernfamilie geteilt haben, von einem kleinen Zwerg eine Wünschelrute geschenkt bekommen.
Ein solches Setting zeichnet sich dann aber auch eher durch mehr Schattenriss artige Charaktere aus. Die böse Hexe ist nun einmal Böse, es bedarf dazu keiner größeren Erklärung, wie zum Beispiel psychischer Schäden durch ein Kindheitstrauma, der Wolf ist einfach ein verschlagenes Tier, dass kleine Kinder frisst und kleine Mäuse sind szwar scheu, aber sehr hilfsbereit.
Andererseits kann man Märchen auch in schon bestehenden Settings umsetzen, oft bedarf es dazu aber Hilfskonstruktionen: Z.B. Zauberwald in Aventurien, in dem eine Böse Hexe haust und alle Tier sprechen können, ein böser großer Wolf sein Unwesen treibt etc. Dieser Wald zeichnet sich durch seine ganz eigene Magie und Naturgesetze aus. Zeigen sich die Helden hilfsbereit, so kommen sie an die Ziele ihrer Wünsche, geben sie sich jedoch egoistisch und jagen z.B. das Arme nach seiner Mutter rufende Rehkitz, so wird ihnen auch nicht unbedingt Gutes wiederfahren.
Probleme sind dadurch natürlich vorprogrammiert. Ich kenne viele Spieler, die sich einfach dagegen sträuben würden mit ihren Charakteren moralisch zu handeln.
2. Einbau von Märchenmotiven
Hier gibt es verschiedene Möglichkeiten:
-
Handlungsstränge: Die im Turm eingeschlossene Königstochter und den Prinzen, der sie dort herausholen will und daher die Helden um Hilfe bittet, die verschwundenen Prinzen und die Suche nach ihnen
-
Orte: das Mordschloss, das Hexenhaus
-
Figuren: Dornröschen, die seit Jahrhunderten in einem Dornen überrankten Schloss schläft, Hänsel und Gretel die Hexenjäger
-
Artefakte: Die Wünschelrute, der Knüppel aus dem Sack, der Goldesel
Zu den Artefakten wäre zu erwähnen, dass 1:1-Umsetzungen in normalen Fantasysettings viel zu mächtig wären und daher auch mit Nachtteilen versehen werden sollten. Die Helden kommen zwar an einen Esel, der Dukaten ausscheidet, doch sind dies Münzen nur in einer bestimmten Währung und vielleicht muss der Esel auch nicht so oft am Tag, sodass die Menge der erlangten Dukaten für den SL kontrollierbar bleibt.
Außerdem sind diese Märchenartefakte einzigartig, oft nur zu einem Zweck geschaffen worden. Manchmal kann man sie erst benutzen, wenn bestimtme Taten geleistet wurden und nach dem Gebrauch werden sie wieder zu den Alltagsgegenständen, die sie eigentlich darstellen oder verschwinden.
Wichtig ist, dass sie mit einer eigenen Geschichte verknüpft sind. Den Goldesel findet man nicht einfach so. Oft ist es ein ganzes Abenteuer, an dessen Ende man dann das märchenhafte Artefakt erlangt. Ein Gegenstand geringerer Macht könnte auch eine Belohnung für eine geleistete gute Tat sein. Einer der Helden half zwei Rekitzen im Wald gegen einen Bären. Dafür schenken sie ihm ein Stück ihrer Haut. Legt er sie an, so verwandelt er sich einmalig in ein Reh.
Alle diese Möglichkeiten Märchenmotive zu verwenden, birgt aber die Gefahr, dass Spieler das betreffende Märchen erkennen könnten und daher das ganze dahinterstehende Abenteuer erkennen. Deshalb der 3. Punkt:
3. Verfremdung von Märchen
Die Crew des Raumschiffs Stardust stößt bei einem obligatorischen Jungfernflug auf den fremden Minenplaneten Coronia. Dort treffen sie auf 7 hunzelige kleine Wesen, die ihnen erzählen, dass ihr einst blühender Planet von einem heimtückischen Fieber, dem sogannten Witchfever befallen ist. Seine Schönheit verging und die meisten der Bewohner verstarben, nur sie blieben übrig. Da die Wesen ihren Planeten nicht verlassen wollen, beschließt die Crew der Stardust nach einer Möglichkeit zu suchen, den Planeten wieder zu heilen. Zumal der Schiffsarzt glaubt von dieser Krankheit schon einmal etwas gehört zu haben. Ihre Reise führt sie auf einen benachbarten Planeten. Nach einigem Suchen, geraten die Helden an den Söldner John Man, der ihnen berichten kann, dass seine Heimatwelt (namendlich sein Arbeitgeber der Queen Corp.) inzwischen alleiniger Exporteur des begehrten Coronium-Eisens in dieser Galaxie ist, seitdem der Planet Coronia kein Eisen mehr liefern kann. Nach viel hin- und her, findet die Crew heraus, dass der Queen Corp. für den Ausbruch des Witchfevers in Coronia verantwortlich war. Die Inhaberin Arlea Queen war aber nicht nur an einer Monopolstellung interessiert, sondern es ging ihr auch darum, ihrem Exmann Peter Snowhite, der immer von der einzigartigen Schönheit Coronias geschwärmt hatte, eines auszuwischen. Am Ende übernimmt Snowhite Queen Corp, der Planet Coronia wird geheilt und Peter Sbnowhite setzt sich dafür ein, dass die Schönheit des Planeten und der Erzabbau wieder gefördert wird. Die wirtschaftlichen Konkurrenten schließen Frieden und wenn sie nicht gestorben sind, dann handeln sie noch heute...
So oder so, könnte es aussehen, wenn man ein verfremdetes Märchen für seine Abenteuer verwendet. Die Möglichkeiten sind vielfältig: Transport in ein anderes Setting, so wie es hier geschah (Sci-Fi), man zäunt das Märchen von hinten auf oder beginnt an anderer Stelle. Man spielt damit, dass den Spielern das Abenteuer bekannt vor kommt, sie glauben zu wissen: Okay, das ist "Schnewittchen!" ganz klar... und dann schockiert man sie durch überraschende Wendungen. Der Namenlose Kinderdieb, den man Jagd, will das Königreich eigentlich nur retten, da es sich bei der Königstochter eigentlich um eine böse Hexe handelt, die ihr Wechselbalg auf den Thron setzen möchte, was die Stabilität des Magiegefüges der Welt maßgeblich stören würde... Man kann das Märchen auch gänzlich unkenntlich machen oder verschiedene Märchen miteinander vermischen, die Rollen der Figuren tauschen... etc.
Bei allem bleibt aber auch hier der Reiz an der Sache, dass die Spieler Teile des Märchens erkennen könnten und deshalb voreilige Rückschlüsse ziehen, wodurch der SL sie besser täuschen und an der Nase herumführen kann.
PS: Zur Qualität des obigen Abenteuerbeispiels müsst ihr keine Worte verlieren. Das diente nur der Veranschaulichung und entspringt keiner ausgereiften Idee.
@Zornhau
"Scairy Tales" würde mich jetzt interessieren, findet man das noch irgendwo?