Caligula galt lange Zeit als einfach nur wahnsinnig, das ist allerdings nicht wirklich korrekt - zumindest nicht so unreflektiert. Die Sache mit Incitatus ist keines Falls verbürgt, stützt lediglich auf ein paar eher unzuverlässige und teilweise nicht mal zeitgenössische Quellen - Sueton und Cassius Dio, wie bei Wikipedia richtig steht. Beide lebten nach Caligula (Dio sogar ein Jahrhundert danach) und haben größtenteils Mundpropaganda aufgenommen, die durch zeitgenössische Schmähschriften angefacht worden waren. Die Quellen auf die diese Autoren sich bezogen, waren, wenn überhaupt etwas anderes als diese Mundpropaganda, Schriftstücke von Senatoren, die unter Caligula zu leiden hatten - indem er sie zum Beispiel verbannte. Aus der Verbannung heraus geschriebene Zeugnisse über die geistige Gesundheit des Kaisers sind wohl kaum verlässlich.
Es gibt da diese Theorie über einen Knickpunkt in seiner "geistigen Gesundheit" als seine Mutter starb und zahllose "Beweise" seines Wahnsinns, die Erhebung des Pferds zum Konsul gehört dazu. Unter anderem auch das Sammeln von Muscheln an der nordgallischen Küste.
Um aber diesen "Wahnsinn" zu verstehen, muss man den Hintergrund von Caligula begreifen. Der Junge wuchs auf Capri auf, unter der "Obhut" vielmehr Aufsicht von Kaiser Tiberius - der aller Wahrscheinlichkeit nach der Mörder von Caligulas Familie, zumindest von seinem Vater und einigen anderen Verwandten war. Caligula dürfte das gewusst oder zumindest geahnt haben (einige seiner späteren Taten lassen darauf schließen) - und Tiberius hätte in ihm sicher auch eine Gefahr gesehen und ihn beseitigt, wenn er geahnt hätte, dass Caligula etwas davon weiß. Er musste also gute Mine zum bösen Spiel machen, um zu überleben. Geile Kindheit.
Zum Kaiser erhoben wusste er längst um die Mittäterschaft dutzender Senatoren an dem Mord an seiner Familie. Diese waren noch immer im Amt. Er verbrannte die Liste dieser Namen vor den Augen des Senats um vorgeblich die Vergangenheit zu vergessen, behielt allerdings eine Kopie und ließ diejenigen, die er als Mitschuldige am Massacker seiner Familie und der Tragödie seines Lebens begriff, systematisch ausmerzen und teilweise unter falschen Vorwürfen (die ihm wieder rechtliche Privilegien gestatteten) bestialisch töten. Wenn er wirklich wahnsinnig war, dann höchstens soziopathisch aber bestimmt nicht so behämmert, wie es ihm unterstellt wurde.
Wahrscheinlich war Caligula ein zynischer und sarkastischer Fuchs - und seine Zeitgenossen haben diese Doppeldeutigkeit seiner Entscheidungen und Worte entweder aus Dummheit nicht verstanden oder bewusst fehlinterpretiert, um ihm einen Strick daraus zu drehen.
Die Sache mit den Muscheln ist auch eine nette Anekdote: es wird Caligula nachgesagt, er habe seinen Legionen bei der geplanten Übersetzung nach Britannien befohlen, Muscheln zu sammeln um sie als "brittanisches Gold" nach Rom zu bringen und im Triumphzug zu präsentieren. Natürlich soll er das gemacht haben, weil er völlig GAGA war. Andere Theorie: Unter Claudius (nach Caligula) hatten sich die römischen Legionäre wochenlang geweigert, auf diese wilde und gefährliche Insel überzusetzen, weil sie nicht einsahen, was Rom dort zu suchen hatte. Erst zahlreiche Beschenkungen durch Claudius brachten sie damals dazu. Als Caligula vorhatte, nach Britannien überzusetzen, geschah vermutlich das Gleiche - sie weigerten sich. Also ließ er sie Muscheln sammeln und diese im Triumphzug als Mahnmal ihrer grenzenlosen Feigheit präsentieren.
Ähnliches bei Incitatus und bei Wikipedia stehts ja schon: indem er sein Pferd zum Konsul vorschlägt oder ernennt (gesichert ist das ja nicht) führt er den Senatoren nicht nur ihre Unfähigkeit vor Augen, er stellt auch die durch Augustus eingeführten Privilegien bloß, die den Senat im Grunde seiner Existenzberechtigung enthoben hatten. Vermutlich hasste Caligula den gesamten Senat und die Senatoren als Stand aufgrund ihrer Doppelzüngigkeit, ihrer Schmeichelei und Kriecherei, die sie durch seine Vorgänger gelernt hatten - noch dazu natürlich die Sache mit seiner Familie. Und er ließ es sie immer wieder durch sarkastische und zynische Befehle, Weisungen und Gesetzesvorgaben spüren, die er teilweise so schnell wieder zurückzog, dass es ihm nur um ihre dummen Gesichter gegangen sein konnte. Er stellte die Senatoren in ihrer vor Angst vor dem Kaiser zitternden Hörigkeit bloß und zeigte Rom, was aus dieser Insitution geworden war. Im Grunde führte er einen langen und auszehrenden Krieg gegen den ganzen, verkommenen und korrupten Verein - und wir wissen ja, wie der Kriegsverlauf von den Siegern im Nachhinein dargestellt wurde. Die, die das von Augustus gegründete System zu verteidigen suchten, weil sie davon profitierten und die bloßgestellten Senatoren, hassten ihn dafür umso mehr - zumal Caligula durch die Bank weg einer der beliebtesten Kaiser im gemeinen Volk gewesen sein dürfte (unter anderem auch
weil er es sich nicht nehmen ließ, Wagenrennen zu fahren und seine Liebe zu Pferden und einem Besonderen in der Öffentlichkeit zu präsentieren und natürlich weil ein nicht geringer Teil der Plebs seine Ansichten im Bezug auf den Senat teilten).
Vermutlich war auch sein extrem ausgereizter Kaiserkult eine Verhöhnung des Senats. "Wenn ihr einen Gott haben wollt, sollt ihr ihn bekommen." - und es ist gut möglich, dass seine soziopathischen Veranlagungen da tatsächlich mit ihm durchgegangen sind. Er hat das verlogene System von Augustus, das auf Scheinrechten und unglaublich vielen Lippenbekenntnissen, Lobreden und triefender Heuchelei basierte ganz offensichtlich verachtet. Und er hat es übertrieben, er hat es ausgereizt und einfach umgedreht. Er hat die Lobgesänge der kriecherischen Senatoren nicht einfach nur als Schmeichelei hingenommen und selbstzufrieden geschmunzelt, ich stell mir das so vor:
Senator: "Oh göttlicher Kaiser, Erster unter den Ersten, großer Erbe des Tiberius, des großen Augustus und des göttlichen Iulius Caesar - die Republik liegt dir zu Füßen. Dir steht alles zu, denn du bist zweifellos ein Gott unter den Menschen. Was, oh großer Kaiser, kann dieser bescheidene Senat für dich tun?
*schleim, schleim - hoffentlich belohnt er mich für diese schöne Lobrede mit Gold. Hat ja auch Tiberius immer gemacht, wenn man ihm wohlgefällig war...*"
Caligula: "
achja? Ich bin also der Erbe des göttlichen Iulius Caesar? Mit göttlichen Gaben ausgestattet? Größer als alle vor mir? Na dann wird es ja kein Problem sein, mir und meiner nicht minder göttlichen Schwester Statuen und Monumente zu errichten."
-> und alle Senatoren so "hä?!
" und dann "shit, der meint das Ernst! Der bringt uns um, wenn wir das nicht machen! Der muss verrückt sein!
Augustus hat doch auch immer nur so getan als ob!
"
Natürlich sind das auch nur Theorien - aber sie klingen für mich plausibler als das Gerede von einem völlig abgedrehten, Frauenkleider tragenden (ja, wurde ihm auch vorgeworfen.. natürlich) und weltfremd-sabbernden Irren. Ich empfehle dazu Aloys Winterling, der wird auch in den Wikipedia-Artikeln mitsamt seiner Gegentheorie erwähnt. Und er ist mittlerweile nicht mehr der Einzige, der das auf wissenschaftlichem Niveau so sieht und erforscht hat.