Entfesselte Freitage #14: Der Blick der Wildnis auf "Gut" und "Böse"

Iron Kingdoms: Entfesselt ist ein Spiel, in dem Charaktere regelmäßig Verhaltensweisen an den Tag legen, die moralisch fragwürdig sind, betrachtet man sie aus einer „zivilisierten“ Perspektive. Für die Bewohner der Wildnis sind diese Handlungen allerdings oftmals nicht das Resultat von Bösartigkeit, sondern einfach nur Dinge, die getan werden müssen, um zu überleben. Die Kulturen der Alligatormenschen, Farrow, Tharn und des Moorvolks sehen Taten wie Mord und Diebstahl nicht so streng wie es die Nationen der Eisernen Königreiche tun.

Und wenn einem vom wilden Volk West-Immorens Unrecht getan wird (und er überlebt), wer kann es ihm verübeln, ein ganz klein wenig Rache zu üben? Knor, der Farrow-Knochenmahler aus dem Entfesselt-Abenteuerset, ist definitiv der Meinung, dass er Lurk für vergangene Verfehlungen eine Heimzahlung schuldet.

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Mit einem blubbernden Krächzen schoss der Moorling aus dem Dickicht, wobei Blätter und Sumpfbrocken in alle Richtungen flogen. Der Fischmensch packte seine Stange mit dem Metallhaken in einer defensiven Haltung, doch seine Augen waren unverwandt auf das trübe Wasser vor ihm gerichtet: wenn er es bis dorthin schaffte, könnte er noch entkommen. Er hatte keine Chance.

Zwei Farrow kamen angeschossen, Bardo von hinten und Reek von der Seite. Gerade, als ersterer mit seinem Stangenspalter zum Schlag ausholte, erschütterte ein Knall die Luft und der Moorling stürzte mit dem Gesicht voran auf den schlammigen Erdboden und eine rote Blüte öffnete sich dort an seinem Hals, wo der Schuss ihn getroffen hatte.

Es war zu spät, um sich noch zurückzuhalten, und Bardo fiel vorwärts, gezogen vom Schwung seiner Waffe. Er quiekte entrüstet, als seine Füße unter ihm wegrutschten und er auf den geschuppten Leichnam fiel. Rasch rappelte er sich auf, nicht jedoch bevor er ein lautes Schnauben der Belustigung von Reek vernahm. Bardo wandte sich um und funkelte ihn an.

„Idiot! Knor sagte, wir sollten den Körper nicht beschädigen“, sagte Bardo.

Reek reckte seine Schnauze zweimal in die Luft, eine Geste großspuriger Überlegenheit, und ging zur Leiche des Moorling hinüber. „Sieht mir nicht besonders beschädigt aus. War ein perfekter Schuss.“

Ein dritter Farrow kam aus dem Busch. „Ist auch gut so, sonst hätte ich mir eure Leichen auch noch geholt“, knurrte er. Er war größer und breiter als die anderen, ausgestattet mit einer Muskulatur, die seinen dicken Wanst Lügen strafte, und trug einen Gürtel voller Beutel, Messer und Sägen. „Haltet nach Eindringlingen Ausschau“, sagte er und winkte sie fort.

***

Während er den Moorling herumrollte, war der Farrow-Knochenmahler bereits voller Vorfreude auf seine Ernte. Dieses Exemplar besaß nicht die innere Energie eines Warlocks oder Nebelrufers, doch war es trotz allem ein Moorling, was ihn aus einem ganz bestimmten Grund zu sehr reizvoller Beute machte. Jedes Mal, wenn er einen Moorling ausweidete, dachte Knor an Lurk, diesen verräterischen Dieb. Eines Tages würde der Knochenmahler seine Rache bekommen: Lurks Blut würde auf seine Hände spritzen, Lurks Lebenssäfte würden seine Phiolen füllen, das Grinsen von Lurks hässlicher Fischfratze würde für immer einfrieren.

Knor breitete seine Werkzeugtasche neben dem Körper aus und holte sein Ausweidemesser hervor. Er senkte die Klinge in den Bauchansatz des Moorlings und führte das Messer aufwärts auf das Kinn zu – oder was auch immer man dafür halten mochte. Dünnes Blut ergoss sich aus dem Einschnitt und er schnupperte leicht nach dem Geruch.

Der Knochenmahler schob seine Hände in den Bauchraum und zog mehrere Handvoll kalter Eingeweide heraus, die er neben dem Leichnam zu einer schlüpfrigen rosa Masse aufhäufte.

„Hast wohl Würmer gegessen, was?“ sagte er und kicherte über seinen alten Witz. „Sehen wir mal, was du so hast …“

Er beugte sich vor, um einen genaueren Blick auf die Organe der Kreatur zu werden, dann schnitt er die Leber heraus und nahm sie mit geübtem Blick in Augenschein, bevor er ein Stück abschnitt und abschätzend darauf herumkaute. Er grunzte zufrieden, schnitt einen größeren Happen heraus und verstaute den Rest in einer der Taschen an seinem Gürtel.

***

Knor beendete seine Arbeit, dann richtete er sich auf und betrachtete sein Werk, während er auf einem Stück Herz herumkaute. Er hatte die besten Stücke der anderen Organe verstaut, sich allerdings das Meiste vom Herz abgeschnitten, um während der Arbeit daran zu nagen – das half ihm beim Denken. Die Paste, die er aus Lymphe und Teilen der Nieren, Lungen und der Milz hergestellt hatte, füllte zwei seiner Ölledertaschen. Die Mixtur schmeckte dünner, als ihm lieb war, aber sie würde intensiver werden, wenn er sie erhitzte. Das Skelett ließ er liegen, denn er zog die dichteren Knochen anderer Kreaturen für seine Totems vor, auch wenn er einige der längeren scharfen Zähne entnommen hatte.

Die beiden Farrow, die in einiger Entfernung Wache schoben, sahen herüber. Ihre Nasen zuckten und ihre Züge verrieten vorsichtige Erwartung. Der Knochenmahler missachtete sie. Sie wussten es besser, als sich zu nähern, bevor er das Zeichen gab.

Knor lehnte sich wieder vor und drehte die Leiche herum. Wie zuvor schnitt er zuerst die Kleidung auf, aber dieses Mal nahm er den Ansatz der Hauptflosse genauer unter die Lupe, befühlte sie alle paar Zentimeter und schnupperte nahe an der Haut. Wenn er nur genau genug hinsah, sollte er eine Reihe kleiner, fester Blasen unter der Haut finden, die leicht mit Knochen oder Knorpel verwechselt wurden. Er hatte ihr Vorhandensein erst vor kurzem und nur durch sorgfältige Untersuchung seiner Exemplare und seinen guten Geruchssinn entdeckt. Etwas an dem Geruch der Flüssigkeit sagte ihm, dass sie den Schlüssel zu etwas Größerem bargen.

Wo waren sie? Diese Kreaturen waren selbst noch im Tod gewieft und verbargen ihre Geheimnisse gut.

Plötzlich stieß der Farrow ein zufriedenes Grunzen aus und holte eine kleine Phiole aus seinen Taschen hervor. Mit seinem Messer vollführte er einen winzigen Einschnitt entlang der Wirbelsäule, aus dem sofort eine zähe schwarze Flüssigkeit hervorquoll. Er zog einen Finger hindurch, führte ihn an den Mund und kostete den neutralen, sumpfigen Geschmack des Moorlings und den moschusartigen Gestank der wachenden Farrow. Darüber hinaus entdeckte er die Spur eines reptilienartigen Geruchs. Als er sich umblickte, entdeckte er eine Blatteidechse, die sich auf einem Stein am Flussufer sonnte. Rasch presste er die Phiole an den Schnitt, um die Flüssigkeit aufzufangen. Dies wiederholte er ein dutzendmal auf jeder Seite der Finne und sah dabei zu, wie der Stand der wertvollen Flüssigkeit mit jedem Schnitt zunahm. Der Anblick wärmte sein gieriges Farrowherz.

Der Knochenmahler erhob sich, verkorkte die Phiole und steckte sie weg. Dann winkte er seinen Begleitern, um sich am Kadaver gütlich zu tun. Quiekend und grunzend kamen sie eifrig angetrottet.

„Ihr könnt den Rest essen“, sagte er, „ich habe alles, was ich brauche.“

Und eines Tages, Lurk, wird das dich mit einschließen, dachte er. Als er Reek und Bardo dabei zusah, wie sie die Überreste des Tagesfangs verschlangen, spielten seine Finger mit der Tasche, in der sich die geheimnisvolle Flüssigkeit befand.



Das Verhältnis zwischen Knor und Lurk zeigt ein wichtiges Element des Iron Kingdoms: Entfesselt-Rollenspiels: Keiner von beiden ist einfach „der Gute“. Jeder von wird von seinen eigenem Hunger nach Macht und dem Wunsch zu Überleben angetrieben – nur allzu üblich in vielen der Kulturen in der Wildnis West-Immorens. Das Szenerie-Kapitel des Iron Kingdoms: Entfesselt-Grundregelwerks bietet enorm viele Informationen zu den vielen spielbaren Völkern und Kulturen, die solches Verhalten zeigen.

Spielleiter und Spieler gleichermaßen werden den Buchabschnitt „Völker der Wildnis“ als eine unbezahlbare Quelle erkennen, wenn sie ihre Charaktere erstellen und in der Wildnis angesiedelte Kampagnen vorbereiten. Dieses Kapitel dringt tief in die Kulturen der ungezähmten Weiten von West-Immoren vor, darunter den Zirkel Orboros, die Trollsippenkriels, Stämme der Farrow und Alligatormenschen, verschiedene wilde Menschengemeinden, Nyss-Flüchtlinge, Tharn-Tuaths und noch viele mehr. Insgesamt sind dem detaillierten Einblick in diese Völker fast vierzig Seiten gewidmet. Erfahrt etwas über die wichtigsten Territorien, die sie kontrollieren, welche Weltanschauung sie besitzen, wie sie mit anderen Völkern interagieren und welchen Schwierigkeiten sie sich in ihrem täglichen Leben gegenüber sehen. Hast du einmal die Kultur und den Hintergrund eines Charakters verstanden, wirst du sehen können, wie kompliziert – und unvollständig – die Vorstellung der „Guten“ und der „Bösen“ eigentlich ist.

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